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01. Nov. 2009

Briefeschreiber, Raketenzähler

Internationale Presse

Reden mit Russland, Ärgern über Amerika: Polen und die Supermächte

Das Jahr 2010 könnte einen symbolischen Durchbruch in den historisch schwer belasteten polnisch-russischen Beziehungen bringen. Nach Informationen der renommierten polnischen Wochenzeitung Polityka (26.9.) planen Warschau und Moskau zum 70. Jahrestag der Ermordung polnischer Offiziere durch den NKWD im April 2010 einen gemeinsamen Auftritt der Regierungschefs Putin und Tusk in Katyn. Das wäre eine politische Sensation, denn noch nie hat ein hoher russischer Politiker die Gräber der ermordeten polnischen Soldaten besucht.

Ganz utopisch ist diese Perspektive angesichts der jüngsten Entwicklungen im polnisch-russischen Verhältnis nicht. Zu Beginn dieses Jahres glaubte kaum jemand in Warschau, dass Wladimir Putin zu den Gedenkfeiern an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September nach Danzig kommen würde. Doch der russische Regierungschef kam nicht nur nach Polen, er überraschte auch die polnische Öffentlichkeit mit einem Brief zum polnisch-russischen Verhältnis, den er am Vorabend seines Besuchs in der Gazeta Wyborcza (31.8.) veröffentlichte. In seinem Brief an die polnischen Nachbarn übte Putin zum ersten Mal öffentlich Kritik am Molotow-Ribbentrop-Pakt und zeigte Mitgefühl mit den Opfern sowjetischer Massenmorde in Katyn. Doch gleichzeitig relativierte er seine Kritik an Stalins Verbrechen, indem er den Hitler-Stalin-Pakt mit der Appeasement-Politik der Westeuropäer gegenüber Hitler verglich. Ein neues Signal war das Angebot Putins an Polen, partnerschaftliche Beziehungen zwischen beiden Ländern aufzubauen – nach dem Vorbild der deutsch-russischen.

Putins Brief wurde in Polen zwar ohne große Begeisterung aufgenommen, jedoch überwiegend als bedeutendes historisches Ereignis und als Ausdruck eines Willens zum Dialog mit dem Nachbarland. Der Historiker Paweł Machcewicz bewertete den Artikel Putins als ein Angebot zu einem ernsthaften Gespräch über die belastenden historischen Themen (Gazeta Wyborcza, 31.8.). Für den britischen Historiker Norman Davies stellte der Brief eine ungewöhnliche Korrektur des russischen Geschichtsbilds dar (Gazeta Wyborcza, 2.9). Mit 1939 akzeptiere Putin ein ganz anderes Datum für den Kriegsbeginn als den bislang stets von Russland genannten Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941. Putin habe eine Waschmaschine in Gang gesetzt, die noch viele Geräusche hervorbringen und langfristig einigen Dreck wegwaschen werde.

Ähnlich sah es Adam Michnik, der Chefredakteur der Gazeta Wyborcza. Putins Text habe in ihm die Hoffnung auf eine bessere Entwicklung der russisch-polnischen Beziehungen geweckt (Gazeta Wyborcza, 31.8.). Anders als es in den Vorwürfen großrussischer Nationalisten anklinge, wonach Warschau der erste Verbündete Hitlers gewesen sei, schreibe Putin deutlich, dass sich die Polen als Erste der NS-Aggression entgegengestellt hätten. Doch neben lobenden Worten übte Michnik auch Kritik an den historischen Interpretationen Putins. Den Hitler-Stalin-Pakt durch das Münchener Abkommen zu relativieren sei unsinnig. So feige und unmoralisch die Zustimmung zu Hitlers Expansionspolitik gewesen sei, man könne sie nicht mit Hitlers und Stalins Überfall auf Polen 1939 vergleichen.

Weniger optimistisch als Michnik bewertete der Publizist Andrzej Łukowski die Folgen von Putins Polen-Besuch am 1. September in der angesehenen katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny (13.9.). Moskaus Strategie sei kühl kalkuliert. Putin biete Tusk an, schwierige Kapitel der Beziehungen zu schließen, um im Gegenzug ganz handfeste Interessen durchzusetzen. An eine grundlegende Revision des historischen Denkens sei unter Putin nicht zu denken. Russland werde weiter Stalins Kriegspolitik verteidigen, Moskaus Haltung bleibe: Russland dürfe der Sieg über Hitler nicht genommen werden. Russische Machthaber bäten niemanden um Vergebung. An eine echte Aussöhnungspolitik sei nicht zu denken.

Ideale und Arsenale

Auch wenn also die Zeit für historische Versöhnungsgesten noch nicht reif zu sein scheint, so ist doch eine positive Dynamik in den polnisch-russischen Beziehungen deutlich erkennbar. Und auch in den polnisch-amerikanischen Beziehungen ist in den vergangenen Wochen ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. Am 17. September – dem 70. Jahrestag des Überfalls der Sowjetunion auf Polen – kündigte US-Präsident Barack Obama eine Revision der amerikanischen Raketenprogramme für Mitteleuropa an. Glaubt man einer Umfrage der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita vom 18. September, so reagierte die Mehrheit der Polen auf diese Nachricht gelassen. 48 Prozent der Befragten zeigten sich angesichts der Entscheidung Obamas zufrieden, und 58 Prozent meinten, sie beeinflusse in keiner Weise die Sicherheit Polens.

Interessanterweise interpretierten viele Polen Obamas Schritt vor allem als Geste gegenüber Russland. Der konservative Publizist Marek Magierowski (Rzeczpospolita, 17.9.) meinte, der Raketenschutzschild sei auf dem Altar der guten Beziehungen zu Russland geopfert worden. Das Fatale an dieser Entscheidung sei, dass der Sanftmut Obamas gegenüber Russland Moskau motivieren werde, die eigenen Interessen gegenüber den Nachbarn stärker als bisher durchzudrücken. So werde Russland möglicherweise für die Reduktion der Atomwaffenarsenale von Washington als Gegenleistung den Verzicht auf die Unterstützung der Westambitionen der Ukraine und Georgiens fordern.

Auch der nationalkonservative Publizist Rafał Ziemkiewicz zeigte sich tief enttäuscht über die neue US-Sicherheitspolitik und hatte nur Spott für den „naiven weltpolitischen Idealismus der Amerikaner“ übrig (Rzeczpospolita, 26.9.). Russische Führungseliten, so Ziemkiewicz, würden Obamas Haltung nur als Zeichen der Schwäche verstehen.

Russlands Rückkehr zu einer Politik der Einflusssphären sei eine Gefahr für die Mitteleuropäer, die die Obama-Regierung unterschätze. Für seine neoimperiale Politik habe Moskau sich die Unterstützung Deutschlands und Frankreichs gesichert. Die strategische Interessengemeinschaft mit Russland diene Deutschland dazu, eine gut durchdachte kulturelle und zivilisatorische Expansion Richtung Osten zu verfolgen. Polen sei zu schwach, um sich diesen Tendenzen zu widersetzen. Auch sei die EU hierbei wirkungslos, die neue Ostpartnerschaft nur Rhetorik.

Eine ganz andere Einschätzung der Handlungsspielräume Polens nimmt der bulgarische Politologe Iwan Krastew vor. In seinem in der Gazeta Wyborcza veröffentlichten Essay über das „postamerikanische Europa“ (3./4.10.) versuchte er, den Gegensatz zwischen den USA und Europa auf den Punkt zu bringen: Obama glaube, dass Russlands globale Bedeutung schwinde, wohingegen die meisten Staaten Mitteleuropas der Ansicht seien, Russland werde stärker und wolle eine revisionistische Politik gegenüber den Nachbarn durchsetzen. Die Europäer dächten regional, die Amerikaner global. Die unterschiedliche Einschätzung des russischen Potenzials werde dazu führen, dass es unter Obama keine transatlantische Politik gegenüber Russland gibt. In dieser Situation sei die EU gefordert. Sie müsse eine neue Russland-Politik entwickeln. Polen und Deutschland sieht Krastew hierbei, im Gegensatz zu Ziemkiewicz, nicht als Konkurrenten, sondern als Partner, die eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der EU-Russland-Politik spielen.

Auch der Auslandschef der Polityka, Marek Ostrowski, sah die sicherheitspolitische Lage Polens in weniger düsteren Farben, als dies einige nationalkonservative Publizisten tun (Polityka, 5.9). Anstatt über Russland und Amerika zu jammern, sollte sich Polen freuen, Mitglied der EU zu sein – und somit die größte politische Errungenschaft unserer Zeit mitgestalten zu können. Die USA unter Obama verhielten sich wie ein Konzernchef, der sich nur auf die aktuell brennenden Probleme stürze. Ein solches brennendes Problem sei Polen derzeit nicht.

Der Washington-Korrespondent  der Rzeczpospolita Jacek Przybylski versuchte die Vorstellung seiner Leser zu korrigieren, die USA würden ganz auf einen Raketenschutzschild in Europa verzichten (2.10.). Die USA wollten ihre Stationierungspläne in Polen und Mitteleuropa nicht streichen, sondern ein flexibleres und größeres Abwehrsystem in ganz Europa und im Nahen Osten aufbauen. Przybylski zitierte die Aussagen hoher Pentagon-Beamter, die eine Deutung der neuen Sicherheitsstrategie als Geste gegen-über Russland zurückwiesen.

Viele polnische Sicherheitsexperten sahen das ähnlich. In der konservativen Tageszeitung Dziennik (30.9) erklärte Exgeneral Stanisław Koziej, Obamas neues Konzept sei globaler und flexibler, was die Sicherheit der Allianz erhöhe. Russlands positive Einschätzung von Obamas Entscheidung werde sich ändern, da das Konzept eine weitaus größere Herausforderung für die russische Militärinfrastruktur darstelle als die alten Raketenpläne. Obamas Pläne würden, so Koziej, das Entstehen eines integrierten Systems der Raketenverteidigung innerhalb der NATO befördern. Auch der Sicherheitsexperte Olaf Osica sah in der neuen US-Strategie große Chancen für Polen (Tygodnik Powszechny, 27.9.). Polen stehe nicht so schlecht da, wie einige meinten, aber auch nicht so gut, wie andere glaubten. Washington habe Polen einen Platz auf den hinteren Rängen zugewiesen; das biete dem Land die Chance zu einem genaueren Überdenken der eigenen Position.

Raus aus Afghanistan?

Ein neues Nachdenken ist in Polen vor allem in Bezug auf die Auslands-einsätze zu erkennen. Mehrere Sicherheitsexperten haben in den vergangenen Wochen für den Rückzug polnischer Truppen aus Afghanistan plädiert. So forderte Grzegorz Kostrzewa-Zorbas in der Wochenzeitung Newsweek das schnelle Ende des Afghanistan-Engagements (20.9.). Polen solle raus aus Asien, um sich der Stärkung der europäischen Sicherheitsstrukturen zu widmen. Die USA hätten die falschen Ziele für den Afghanistan-Einsatz gesetzt. Die zivilisatorische Transformation einer Nation, die dazu nicht bereit sei, sei eine Illusion.

General Waldemar Skrzypcza wiederum hielt einen Abzug der NATO aus Afghanistan für eine Katastrophe. Eine solche Entscheidung würde die Autorität der Allianz schwächen und die Stärkung des weltweiten Terrorismus zur Folge haben. Die Allianz stehe vor der Aufgabe, andere Schwerpunkte der Intervention zu definieren, weg von der militärischen Per-spektive hin zu einer verstärkten ökonomischen und sozialen Unterstützung der afghanischen Bevölkerung. Der Charakter des Krieges müsse ein grundsätzlich anderer werden als bislang. Vor allem eins müsse die Allianz weitaus deutlicher vermitteln als bisher: dass der Einsatz in Afghanistan kein Kreuzzug gegen den Islam sei (Dziennik, 29.9).

BASIL KERSKI ist Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins DIALOG.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 124 - 127.

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