Land der Tragödien und Überraschungen
Internationale Presse
2010 wird in die Geschichte Polens als ein bedeutendes Jahr eingehen. Zunächst sorgte das Land für positive Schlagzeilen. Mit einem leichten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts im Vorjahr konnte sich Polen als einziges EU-Land präsentieren, das von der weltweiten Rezession nicht erfasst wurde. Damit gelang Polen innerhalb von zwei Jahrzehnten ein sensationeller Aufstieg aus der Position des wirtschaftlichen und sozialen Sorgenkinds Europas zu einem Land des Wirtschaftswunders.
Am 7. April staunten die Europäer wieder über Polen: Sie sahen Russlands Ministerpräsidenten Wladimir Putin an der Seite von Polens Regierungschef Donald Tusk an den Gräbern von Katyn. Eine neue, auf Dialog mit Moskau setzende polnische Außenpolitik brachte Putin zur ungewohnt selbstkritischen Reflexion über die Verbrechen der Sowjetunion. Drei Tage später ereignete sich im russischen Smolensk eine der größten zivilen Flugkatastrophen in der Geschichte Europas. Auf dem Weg zu einer zweiten Gedenkfeier in Katyn stürzte das Flugzeug des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski ab. Eine Bruchlandung ohne Überlebende, unter den Opfern neben dem Präsidenten und seiner Frau viele prominente Vertreter des politischen Lebens. Das Land fiel in einen Schockzustand.
Noch in der Trauerzeit mussten gemäß der Verfassung Präsidentschaftswahlen ausgeschrieben werden. Im Wahlkampf wuchs von Tag zu Tag die Überzeugung, dass der Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten, Jaroslaw Kaczynski, auf einer Welle des Mitgefühls die Wahlen für sich würde entscheiden können. Der Öffentlichkeit zeigte er sich nicht nur als stiller, trauernder Mensch, sondern auch als Staatsmann, der auf eine Sprache der Polarisierung verzichtete und für die Versöhnung zwischen den politischen Lagern und eine sachliche Außenpolitik eintrat. Doch die Präsidentschaftswahlen konnte Kaczynski nicht für sich entscheiden. Nach den Parlamentswahlen 2007 und den Europawahlen 2009 war dies bereits die dritte Niederlage für die national-konservative Kaczynski-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Folge.
Der Krakauer Publizist Janusz Majcherek deutet den Wahlsieg des Liberalkonservativen Bronislaw Komorowski weniger als Triumph der Bürgerplattform denn als Zeichen für den Niedergang national-konservativer Identitätsmodelle. In einem Essay in der Donald Tusk nahe stehenden Danziger Zeitschrift Przeglad Polityczny (September/Oktober) verkündet Majcherek nicht nur das Ende der postkommunistischen Teilung der politischen Landschaft in ehemalige Solidarnosc-Anhänger und Ex-Kommunisten, sondern auch eine Liberalisierung der bislang mehrheitlich konservativen Gesellschaft.
Der polnische Durchschnittsbürger, so Majcherek, sei heute antinationalistisch eingestellt und trete für eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche ein. Der wirtschaftliche Aufstieg Polens habe eine neue, breite Bürgerschicht hervorgebracht, die mit radikalen Parolen nicht viel anfangen könne. Kaczynskis Modell des Aufbaus einer neuen Vierten Republik – also einer moralischen und sozialen Korrektur der Revolution von 1989 – sei passé. Das neue Bürgertum wolle Stabilität und Berechenbarkeit, aber, das betont Majcherek, keine Stagnation. Dieser neuen Mittelschicht verdankten Tusk und Komorowski ihre Macht. Die konservative Mehrheit der politischen Eliten müsse sich diesem kulturellen Wandel öffnen.
Wie um zu demonstrieren, dass er jenem Wunsch nach Berechenbarkeit gerecht werden möchte, skizziert Donald Tusk in einem Interview mit der Wochenzeitschrift Wprost (26. September) seine Philosophie einer Politik der ruhigen Hand. Das große Ziel der Demokratie müsse es sein, die Stabilität zu sichern. Die von ihm geführte Bürgerplattform sei keine Partei der Visionäre, keine Kraft der radikalen Wechsel oder romantischen Revolutionen. Er wolle Polen Schritt für Schritt modernisieren. Deutsche Beobachter mag die Tusksche politische Philosophie an den Pragmatismus Helmut Schmidts oder das paternalistische Berechenbarkeitsversprechen Konrad Adenauers erinnern.
Tusks Lage versucht Janina Paradowska, die große alte Dame des polnischen Journalismus, in der Wochenzeitung Polityka zu beschreiben (9. Oktober). Die Liste der Reformen sei lang: Die Privilegien für Bauern müssten abgebaut, die Staatsschulden weiter zurückgefahren, mehr Geld in Bildung und Kultur investiert werden, so laute die landläufige Meinung.
Doch große Reformen erwartet Paradowska von Tusk nicht. Der sei zwar tief im Innern seines Herzens ein Liberaler, doch glaube er als politischer Stratege, dass der Schlüssel zur Seele des polnischen Wählers der Konservatismus sei – kein ideologischer, nationaler, sondern ein Konservatismus des Alltags. Tusk wolle, so Paradowska, diese Mitte vertreten. Doch die liberalen, fortschrittlichen Intellektuellen erwarteten von ihm mehr, sie wollten den polnischen Traditionalismus bekämpfen und Tusk an der Spitze einer gesellschaftlichen Modernisierung sehen. Doch Tusk verweigere sich dieser Rollenzuweisung, er wolle nicht Gefangener der Deutungselite sein, und so werde es dem Regierungschef schwerer fallen, deren Zustimmung und Loyalität auf Dauer zu sichern. Ein Geruch von Verrat liege in der Luft, so Paradowska, von beiderseitigem Verrat.
Neue Russland-Politik
Misstrauisch ist die polnische Öffentlichkeit auch traditionell, wenn es um Russland geht. Vor dem Hintergrund dieser Distanz versuchen polnische Außenpolitiker, die Politik des Dialogs mit Russland der Öffentlichkeit neu zu erklären und den Wechsel der polnischen Russland-Politik zu legitimieren.
In diesem Sinn zeichnet Ex-Außenminister Adam Daniel Rotfeld in der Gazeta Wyborcza ein realistisches Bild von Russlands Politik (2. Juli). Moskau bleibe Konkurrent Polens und gleichzeitig potenzieller Partner. Gemeinsam mit Deutschland und Frankreich müsse Polen Russland aus der selbst gewählten Isolation herausführen und den russischen Eliten helfen, die Sprache des Kalten Krieges zu vergessen. Zwar sei Polen ein kleines Land und werde von Moskau nicht als entscheidender Partner wahrgenommen, doch in mancherlei Hinsicht sei Polen für viele Russen trotz tief sitzender antipolnischer Stereotypen ein Vorbild in Sachen Demokratie und Marktwirtschaft.
Scharfe Kritik an der neuen Ostpolitik der Tusk-Regierung übt der Publizist Mirosław Czech in der Gazeta Wyborcza (4./5. September). Er zeichnet die Gefahr einer zu starken Fixierung auf die Interessen Russlands, die Polens Eintreten für andere postsowjetische Staaten im Wege stehe. Tusks Regierung handele nach dem Vorbild Deutschlands. Man sehe in Russland den einzigen strategischen Partner für die EU im Osten und trage so dazu bei, dass Russlands Rolle als Ordnungsmacht im postsowjetischen Raum zementiert werde. Das komme Moskaus Ambitionen entgegen, Polen aus dem postsowjetischen Raum zurückzudrängen, wo sich Warschau für Demokratie und Organisationen der Zivilgesellschaft engagiert habe. Die Zurückhaltung Warschaus vor allem gegenüber Kiew sei gefährlich, denn in der Ukraine liege der Schlüssel zur politischen Ordnung im Osten Europas.
Interessanterweise nimmt die konservative, Tusk-kritische Tageszeitung Rzeczpospolita die Regierung zumindest in diesem Punkt in Schutz. Jerzy Haszczynski (Rzeczpospolita, 18./19. September) kann keine Vernachlässigung der Ukraine durch die polnische Außenpolitik erkennen. Doch ganz allgemein treibt auch ihm das Schwinden von Idealismus und Geduld in der Politik gegenüber den kleineren sowjetischen Nachfolgestaaten die Sorgenfalten auf die Stirn. Warschaus politische Eliten setzten zunehmend auf kurzfristige wirtschaftliche Interessen, vor allem im Verhältnis zu Russland. Die traditionelle, seinerzeit von dem Exil-Publizisten Jerzy Giedroyc konzipierte doppelgleisige Politik des Dialogs mit Moskau bei gleichzeitigem Eintreten für die Unabhängigkeit der nichtrussischen Nationen im Osten habe nichts an Bedeutung eingebüßt und müsse fortgeführt werden.
Keine furchteinflößende Großmacht, sondern nicht viel mehr als ein Ex-Imperium sieht dagegen die Breslauer Osteuropa-Zeitschrift Nowa Europa Wschodnia (September/Oktober) in Russland. Ein Ex-Imperium, in dem die Macht Putins und Medwedews bröckele und in dem die Gesellschaft mehr und mehr eine politische Öffnung einfordere. Diese tektonischen Verschiebungen sollte Europa klug nutzen und Russland stärker an sich binden. Der Politikexperte Sławomir Debski sieht in Russland eine Weltmacht in der Sackgasse. Die hegemonialen Ambitionen täuschten Stärke lediglich vor; ökonomisch, technologisch und sozial sei Russland schwach, es brauche die Annäherung an den Westen. Polen sollte sich dafür einsetzen, Russland an Europa zu binden, eventuell durch ein Assoziierungsabkommen zwischen Russland und der EU.
Auch eher mit der PiS sympathisierende Publizisten wie Marek Magierowski (Rzeczpospolita, 13. September) plädieren für eine differenzierte Sicht auf die Außenpolitik der Tusk-Regierung. Man solle Tusk kritisieren, aber dies sachlich tun und nicht in jeder Situation gleich Gefahren für die Unabhängigkeit des Landes heraufbeschwören. Magierowski polemisiert damit gegen die Behauptung Jarosław KaczyÄskis, Polen verkomme unter Tusk zu einem Kondominium Deutschlands und Russlands.
Kaczynski solle sich, so Magierowski, von der archaischen Vorstellung befreien, die Grenzen Polens müssten heroisch vor der Expansion Moskaus und Berlins geschützt werden. Ziel einer modernen polnischen Außenpolitik müsse es sein, demokratische Werte hochzuhalten, für freien Handel einzutreten und die Nachbarn dazu zu bewegen, eine freundschaftliche Politik gegenüber Polen zu betreiben.
Tief beeindruckt von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Polens in den vergangenen Jahren zeigt sich die italienische Tageszeitung La Stampa (4. Oktober). Polen habe sich in einen „intelligenten“ Staat verwandelt, so Enzo Bettiza, seine Regierung habe das Land für Europa geöffnet. Polen sei mit Deutschland eng verbunden, befinde sich im Zustand der Entspannung mit Russland und beende das Jahr 2010 in hervorragender Verfassung: Die Finanzen seien gesund, die Industrie in Bewegung, und es sei eines der wenigen Länder, die der Rezessionswelle ausweichen konnten. Das Polen-Porträt in der Stampa endet etwas pathetisch: „Vergessen wir nicht, Polen ist seit jeher ein Land der Tragödien und Überraschungen, des Aufstiegs und des Falls und der unerwarteten Herausforderungen. Und, besonders überraschend: Polen hat sich zu einem führenden Land im erweiterten, veränderten Europa gewandelt.“
BASIL KERSKI ist Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins DIALOG.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 128-131