Kompromiss schlägt Krawall
Internationale Presse
Polens Medien erklären den neokonservativen Kulturkampf für beendet
Wem vertrauen die Polen, wen betrachten sie als Autorität, und was sagt das über die polnische Gesellschaft aus? Diese Fragen beantwortet eine repräsentative Meinungsumfrage der Wochenzeitung Polityka (29.11.). Platz eins der Rangliste belegt der Musikjournalist Jerzy Owsiak, seit zwei Jahrzehnten Initiator von karitativen Hilfsaktionen. Der unkonventionelle, anarchistische Ex-Hippie ist seit Jahren Idol junger Polen. In dem Autoritäten-Ranking der Polityka folgen ihm der Filmregisseur und Oscar-Preisträger Andrzej Wajda sowie der Krakauer Kardinal Stanisław Dziwisz, ein treuer Begleiter des polnischen Papstes Johannes Paul II.
Überraschenderweise finden sich auch Politiker unter den zehn größten lebenden Autoritäten Polens: auf Platz vier Władysław Bartoszewski, auf Platz fünf Lech Wałesa. Ihnen folgen Tadeusz Mazowiecki, 1989 zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten gewählt, Exstaatspräsident Aleksander Kwasniewski, Regierungschef Donald Tusk und der Vater der polnischen Wirtschaftsreformen Leszek Balcerowicz; allesamt quasi Antihelden der Kaczyński-Partei und ihrer intellektuellen Weggefährten.
Eindeutige Verlierer der Umfrage sind Lech und Jarosław Kaczyński. Die Zwillingsbrüder, noch 2005 als Gewinner der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bewundert, gelten für die große Mehrheit der Bürger als genaues Gegenteil von dem, was sie als Autoritäten bezeichnen würden. Auch Pater Tadeusz Rydzyk, Chef des katholisch-fundamentalistischen Senders Radio Maryja, und Zbigniew Ziobro, ehemaliger Justizminister und quasi moralischer Chefinquisitor unter Ministerpräsident Jarosław Kaczyński, sind bei den meisten Polen nicht unbedingt beliebt. In seinem Kommentar zur Polityka-Umfrage äußert sich der Publizist Jacek Zakowski überrascht von der Eindeutigkeit des Ergebnisses. Stünden doch das polnische Staatsfernsehen und der Rundfunk seit drei Jahren unter der Kontrolle der Kaczyńskis. Die Polen seien täglich der massiven Propaganda der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) ausgesetzt, die nicht nur patriotische Gefühle unter den Bürgern stärken, sondern darüber hinaus die jüngste Zeitgeschichte umdeuten wolle.
Diesen Versuch einer Neuinterpretation der politischen Wende von 1989 hat in den vergangenen Monaten vor allem Lech Wałesa schmerzhaft zu spüren bekommen. Das von der PiS kontrollierte Institut für Nationales Gedenken (IPN) veröffentlichte Mitte 2008 eine Studie über das Verhältnis der Staatssicherheit zum Arbeiterführer Wałesa. Ohne neue und eindeutige Beweise vorzulegen, werfen die Autoren, Sławomir Cenckiewicz und Piotr Gontarczyk, dem Friedensnobelpreisträger eine allzu große Nähe zur Staatssicherheit vor, die von einigen Wałesa-Gegnern als Beweis für dessen IM-Tätigkeit gedeutet wird („SB a Lech Wałesa. Przyczynek do Biografii“; Danzig/Warschau/Krakau 2008).
Der in Warschau lebende deutsche Journalist Reinhold Vetter hält das Buch für keine seriöse wissenschaftliche Monografie, wie er in einem Beitrag für das deutsch-polnische Magazin DIALOG erläutert (Oktober 2008). Wałesas Unabhängigkeit von den Machthabern bleibe unter seriösen Historikern unbestritten. Den Grund für die Attacken aus dem Kaczyński-Lager sieht Vetter nicht nur in Wałesas herausragender Rolle in den achtziger Jahren und seiner Befürwortung eines Systemwechsels auf der Grundlage von Kompromissen, sondern auch in dessen politischem Wirken der letzten Jahre, etwa seiner schonungslosen Kritik an der dilettantischen Außenpolitik der Kaczyńskis.
Anlässlich des Erscheinens des Wałesa-Buches setzt sich der Historiker Marcin Kula in der Zeitschrift Przeglad Polityczny kritisch mit dem Geschichtsbild der polnischen Konservativen auseinander (September 2008). Es seien vornehmlich die militärisch erfolglosen Aufstandserfahrungen der Nation, die viele polnische Konservative in den Vordergrund der Erinnerungskultur stellten. So bewerteten sie den Warschauer Aufstand von 1944 positiv, obwohl die Hauptstadt in der Folge des Aufstands in ein Trümmerfeld verwandelt worden sei. Dagegen stünden immer noch viele Polen dem langen, unblutigen Weg der Nation aus dem Kommunismus kritisch gegenüber, obwohl er das erfolgreichste Kapitel polnischer Geschichte darstelle.
Traum von der geeinten Nation
Ein bissiges Porträt der polnischen Neokonservativen aus der Feder von Adam Krzeminski veröffentlichte kurz vor dem 90. Jahrstag der Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit die Wochenzeitung Polityka (4.10.). Neokonservative wie der Philosoph Ryszard Legutko oder der Schriftsteller Jarosław Marek Rymkiewicz träumten, so Krzeminski, von einer moralisch reinen, geeinten Nation, die für ihre Visionen zu Opfern bereit sei. Dass das politische Leben aus Kompromissen und der realen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten bestehe, begriffen sie nicht.
Doch Propaganda und Geschichtsphilosophie à la PiS verfingen bei der überwältigenden Mehrheit der Polen nicht, stellt Jacek Zakowski in seinem erwähnten Kommentar zur Polityka-Umfrage fest. Ähnlich wie in den USA sei auch in Polen die neokonservative Kulturrevolution gescheitert. Die meisten Polen wendeten sich von einer Polarisierung des öffentlichen Lebens ab, hielten den 1989 eingeschlagenen Weg des Runden Tisches für richtig, misstrauten radikalen politischen Entwürfen und vertrauten bei allem Konservatismus weltoffenen, liberalen Persönlichkeiten.
Selbst der PiS-nahen Tageszeitung Rzeczpospolita scheint der neokonservative Eifer der Kaczyńskis zu weit zu gehen (15./16.11.). Chefredakteur Paweł Lisicki zeigt sich irritiert, dass Präsident Lech Kaczyński den Friedensnobelpreisträger Wałesa nicht zu den Feiern des 90. Jahrestags der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit eingeladen hatte. Einen Mann, den man, so Lisicki, durchaus als den bedeutendsten polnischen Staatsmann des 20. Jahrhunderts bezeichnen könne.
Die Niederlage des neokonservativen Kulturkampfs der PiS dokumentieren zahlreiche Meinungsumfragen der vergangenen Monate. Mehr als ein Jahr nach den letzten Parlamentswahlen führt Tusks Bürgerplattform (PO) deutlich in allen Umfragen und erreicht Zustimmungswerte von bis zu 52 Prozent. Die Antworten zeigen, dass Donald Tusk von der Mehrheit der Wähler als Ministerpräsident akzeptiert wird. Das ist insofern beachtlich, weil Tusk bei seinem Amtsantritt Ende 2007 keinerlei Regierungserfahrung vorweisen konnte. Die meisten Kommentatoren sahen in ihm vornehmlich einen talentierten Redner, der mit guter PR-Arbeit die Anti-Kaczyński-Stimmung im Lande ausgenutzt habe. Heute zeigen sich selbst Kommentatoren, die Tusk grundsätzlich kritisch sehen, wie sein ehemaliger liberaler Weggefährte Witold Gadomski von der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, überrascht, wie wenig sich Tusk in den vergangenen Monaten um die Meinungsumfragen geschert und stattdessen unpopuläre Reformen in Angriff genommen hat: die Abschaffung von Frühverrentungen, die schnelle Euro-Einführung (10.11.). Tusk selbst sieht die Gründe für die hohe Zustimmung in dem Profil der von ihm gegründeten Partei. Die PO sei, so Tusk, eine moderne europäische Volkspartei, die liberales, konservatives und soziales Gedankengut zusammenführe, ohne dass eine dieser Traditionen dominiere (Polityka, 4.10.).
Zweifelsohne hat Tusk in den vergangenen Monaten auch von der mangelnden Popularität des Staatspräsidenten profitiert. Dessen Politik sei eher geeignet, das Land zu spalten als zu einen, meint etwa die linke Wochenzeitung Przeglad (7.12.): ein Politikstil, den eine Mehrheit der Polen nicht akzeptieren wolle.
BASIL KERSKI ist Chefredakteur des zweisprachigen deutsch-polnischen Magazins DIALOG.
Internationale Politik 1, Januar 2009, S. 116 - 119.