IP

25. Juni 2021

Der vergessene Osten

Seit in Polen und Ungarn Populisten regieren, beschränkt sich Berlin auf unkritische Ad-hoc-Politik. Dabei gäbe es viel zu tun. Vor allem wäre den Nachbarn bei der Klimawende zu helfen.

Bild
Bild: Demo polnischer Nationalisten in Warschau
Vor 2015 erlebten die deutsch-polnischen Beziehungen eine kurze Blüte: Warschau und Berlin ergänzten sich gut. Mit dem Sieg der populistischen PiS rückte das Modell wieder in weite Ferne. Aufmarsch rechter Nationalisten am polnischen Nationalfeiertag 2017.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Angela Merkels Außenpolitik gegenüber Polen und den anderen östlichen Nachbarn Deutschlands basierte stets auf historischen und wirtschaftlichen Überlegungen. Zusammengenommen führten diese Faktoren meist zu einem ausgesprochen vorsichtigen Politikstil: Weil man sich bewusst war, dass deutsche Kritik an Polen in Warschau womöglich schlecht ankäme, übte man sich oft in Zurückhaltung – und das nicht nur bei Themen mit Geschichtsbezug. Wenn es notwendig wurde, Kritik an Polen zu üben, delegierte Berlin diese Aufgabe gern an die Institutionen der Europäischen Union. Eine explizite Führungsrolle in Brüssel lehnte Berlin auch deshalb ab, weil man die labilen Beziehungen zur östlichen Nachbarschaft nicht aufs Spiel setzen wollte.



Wirtschaftliches Kalkül ist es derweil, aus dem Deutschland in seinen Außenbeziehungen einen weitreichenden Pragmatismus pflegt. Kaum jemandem ist bewusst, dass die vier Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei) zusammengenommen ein größerer Handelspartner Deutschlands sind als China (ein Volumen von 287 gegenüber 213 Milliarden Euro im Jahr 2020). Dabei steht schon Polen allein an fünfter Stelle der größten deutschen Handelspartner (123 Milliarden) – weit vor Russland (44,5 Milliarden). Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass sich der Handel mit den Visegrád-Ländern auf Tausende von kleinen und mittelständischen Unternehmen verteilt, während die deutschen Importe aus Russland hauptsächlich aus Rohstoffen bestehen.



Für die deutsche Wirtschaft wäre es mehr als ungünstig, wenn Polen in Bezug auf die europäischen Integrationsbemühungen ins Abseits geraten würde, denn: Aus Unternehmenssicht hat eine enge Anbindung an die Länder Mitteleuropas zahlreiche Vorzüge: Die Staaten im Osten bieten billige und gut ausgebildete Arbeits- und Führungskräfte, Steuervorteile, geografische und kulturelle Nähe sowie Berechenbarkeit. Wie ein deutscher Unternehmer einem polnischen Journalisten einmal erklärte: „Wir haben endlich unser Korea.“ Gemeint war das wohl einerseits als Vergleich zu der wirtschaftlichen Symbiose Japans und Koreas nach dem Zweiten Weltkrieg, von der beide Länder profitierten, und andererseits als Anspielung auf die wirtschaftliche Rivalität zwischen Deutschland und Japan; also als eine Metapher für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit trotz historischer belasteter Beziehungen. Dies erklärt womöglich auch, warum sich die Bundeskanzlerin weiterhin gegen die Idee einer vertieften europäischen Integration sträubt (etwa auch gegen die Schaffung eines eigenen Budgets für die Eurozone), die auf Kosten der europäischen Einheit gehen würde. Die deutsche Wirtschaft ist ein natürlicher Nutznießer von Geldern, die Visegrád-Staaten aus dem EU-Haushalt beziehen.



Erfolge und Misserfolge

Wirtschaft und Geschichte sind also die beiden strukturellen Faktoren, die die nächste deutsche Regierung erben wird – nicht zuletzt, weil die Kanzlerin sich auf eine Kompromissvereinbarung über den neuen EU-Haushalt für 2021–2027 einließ und den Pandemie-Wiederaufbaufonds durchsetzte, deren Hauptnutznießer Polen ist. Insgesamt erhält Warschau 139 Milliarden Euro an Subventionen aus dem Haushalt und 34 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbau-Fonds. Die Durchsetzung des Konditionalitätsprinzips, also die Verknüpfung der Auszahlung von Finanzmitteln mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, gegen das die polnische und ungarische Regierung ständig verstoßen, wurde so um zwei Jahre aufgeschoben.  



Die Bilanz der Merkelschen Politik gegenüber den Ländern der Region ist dementsprechend ambivalent: Während man die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen mit der östlichen Nachbarschaft durchaus als Erfolg bezeichnen kann, ist die hohe Toleranz der Kanzlerin gegenüber dem erstarkten Populismus in Mittel- und Osteuropa als Misserfolg zu werten. Wegen ihrer Duldung der fast vollständigen Zerstörung unabhängiger Medien in Ungarn, der faktischen Liquidierung der Central European University in Budapest und der Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz in Polen wirft man der deutschen Regierung in Brüssel vor, Appeasement-Politik zu betreiben und den Autoritarismus somit zu unterstützen.



Ein weiterer Grund für Kritik ist das hartnäckige Festhalten an der Fertigstellung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Auch Armin Laschet, Merkels wahrscheinlicher Nachfolger, unterstützt das Projekt seit vielen Jahren und befürwortet die Fertigstellung. Die Grünen, zweitstärkste Partei in Deutschland, lehnen das Projekt dagegen aus ethischen, geopolitischen und ökologischen Gründen ab.



Wenn Nord Stream 2 in Betrieb genommen wird, muss die deutsche Regierung zwangsläufig ihr Versprechen erfüllen, ukrainische Interessen zu wahren. Eine mögliche, wenn auch nur vorübergehende Lösung wäre es, die Menge des durch Nord Stream 2 transportierten Gases an das Gasvolumen zu koppeln, das durch die Ukraine geleitet wird. Eine zweite wichtige Maßnahme wäre es, die Ukraine beim Ausbau ihrer Infrastruktur zu unterstützen, um die energetische Unabhängigkeit des Landes zu gewährleisten. Studien haben gezeigt, dass die Ukraine bereits heute in der Lage wäre, sich weitestgehend selbst zu versorgen, sollte Moskau den Gashahn zudrehen.



Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Ukraine sind von grundlegender Bedeutung für die Sicherheit und Unabhängigkeit Polens. Deutlich wird dies in der vom polnischen Autor und Aktivisten Jerzy Giedroyc (1906–2000) formulierten obersten Maxime der polnischen Außenpolitik: „Es kann kein unabhängiges Polen ohne eine unabhängige Ukraine, ein unabhängiges Weißrussland und ein unabhängiges Litauen geben.“ Denkt man dieses Prinzip weiter, dann bedeutet das auch: Die bestmöglichen Beziehungen zu Deutschland und die Mitgliedschaft in der NATO und der EU sind die besten Garanten für Polens Unabhängigkeit und Wohlstand. Die zuletzt rasante wirtschaftliche Entwicklung Polens könnte das Land über kurz oder lang sogar für eine Führungsposition innerhalb der EU qualifizieren.



Und für eine kurze Zeit schien es, durch die deutsch-polnische Annäherung nach der Finanzkrise, tatsächlich dazu zu kommen. Denn Berlin ließ sich vor 2015 gegenüber Warschau anscheinend von mehr als nur wirtschaftlichen und historischen Erwägungen leiten. Damals war Polen ein potenzielles Gegengewicht zu Frankreich einerseits und zu den Ländern des europäischen Südens andererseits; während der Eurokrise zeichnete sich Polen als treuer Verbündeter aus. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Warschau, mit seinen guten Verbindungen in den Osten, und Berlin, mit seinem Wissen über den Westen, schien für kurze Zeit eine perfekte Symbiose.



Herber Rückschlag

Mit dem Sieg der populistischen PiS bei den Parlamentswahlen 2015 rückte dieses Modell jedoch in weite Ferne, die deutsch-polnischen Beziehungen erlitten einen herben Rückschlag. Seitdem beschränkt sich die Zusammenarbeit auf reaktive Ad-hoc-Politik. Wie es nun weitergeht, hängt auch maßgeblich davon ab, wie sich die deutsche Wirtschaft entwickeln wird. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre es schwierig, die Rolle Mittel- und Osteuropas durch andere Partner zu ersetzen. Doch sollte Deutschland einen weiteren technologischen Entwicklungssprung machen und sich beispielsweise von Autos mit Verbrennungsmotoren verabschieden, dann könnte die Bedeutung der Region auf lange Sicht abnehmen.



Das derzeitige deutsche Wirtschaftsmodell basiert zum Großteil auf Technologie aus dem 20. Jahrhundert, niedrigen Löhnen, schwachem Binnenkonsum und boomenden Exporten. Um dieses Modell aufrechtzuerhalten, braucht es neue Märkte, bei deren Erschließung mitunter ohne Rücksicht auf Regierungsformen, Rechtsstaatlichkeitsprinzipien oder Menschenrechtsverletzungen gehandelt wird (wie bereits heute im Fall von China). Gleichzeitig wurde das Modell durch die Corona-Pandemie arg strapaziert. Die Bemühungen um mehr Investitionen, mehr Digitalisierung (Deutschland gehört zu den Schlusslichtern in der EU, was Internetzugang und mobiles 4G-Netz angeht) und mehr Binnenkonsum sowie kürzere Lieferketten (deren Notwendigkeit kürzlich durch den Mangel an Mikrochips für Autocomputer deutlich wurde) und eine Umstellung auf saubere Technologien (zu denen Erdgas nicht zählt) dürften weiter verstärkt werden.



Schon jetzt ist klar, dass die Themen, die einst den Kern der deutsch-polnischen Beziehungen ausmachten, für Deutschland an Bedeutung verlieren. Der Horizont weitet sich – und die Welt erwartet von Berlin ein immer größeres Engagement. Insbesondere dort, wo die EU nicht eingreift. Gerade die neue amerikanische Regierung rechnet damit.



Für Deutschland wird die unmittelbare Nachbarschaft der EU angesichts des drohenden Rückzugs der Amerikaner immer wichtiger. Nicht umsonst fanden die Verhandlungen über Libyen in Berlin statt. Die Bedeutung der Beziehungen zu China, in denen Deutschland einen Ausgleich zwischen Risiken und Nutzen anstrebt, wird wachsen. Polen spielt hier keine große Rolle, obwohl seine Ausgangsposition durch seine Lage als Transitland des deutsch-chinesischen Handels nicht schlecht ist. Doch Polen ist weder politisch noch wirtschaftlich mit China verbunden und ist kaum mehr als ein Zulieferer für deutsche Exporte nach China.



Während Deutschland sich ernsthaft mit der immer wichtigeren Frage der Migration nach Europa beschäftigt, macht Polen auf diesem Gebiet keine Anstalten, eine europäische Lösung anzustreben. Und obwohl die Bedeutung des Euro als internationale Währung wachsen wird, plant Polen nicht, der Eurozone beizutreten. Ähnlich zögerlich geht Warschau mit dem Thema erneuerbare Energien um. Kaum ein Land steht der Energiewende skeptischer gegenüber als Polen. Wenigstens sind sich die PiS-Regierung und Berlin aber darin einig, dass der Klimawandel ein ernstzunehmendes Problem ist und nur durch die Dekarbonisierung der Wirtschaft aufgehalten werden kann.



Sogar in der Ukraine-Frage hat Polens Bedeutung abgenommen. Das Weimarer Dreieck aus Polen, Frankreich und Deutschland hat seine besten Tage hinter sich – und auch die Visegrád-Staaten sind international nicht mehr spürbar aktiv. Stattdessen spinnt man in Warschau imperiale Wahnvorstellungen um die sogenannte Drei-Meere-Initiative.



Die nächsten Parlamentswahlen könnten eine kooperativere Regierung in Polen bringen, doch sie finden erst 2023 statt. Es ist kaum zu erwarten, dass die neue deutsche Regierung nach den Wahlen im September so lange warten wird, um sich auf einen neuen Kurs in den bilateralen Beziehungen festzulegen – zumal ein Wechsel auf polnischer Seite kaum garantiert ist. Bislang deutet tatsächlich wenig darauf hin, dass die Opposition in Polen oder in Ungarn an die Macht kommen wird.



Wenn der damalige polnische Außenminister Radosław Sikorski noch vor einem Jahrzehnt ein zu passives Deutschland beklagte, so würde sich Deutschland heute angesichts all der zurückliegenden und gegenwärtigen Krisen schlechthin der geopolitischen Unreife schuldig machen, vermiede es die Führungsrolle weiterhin. Denn: Die Außenpolitik einer Mittelmacht kann nicht allein aus der Sicherung von Wirtschaftsinteressen bestehen – und Deutschland wird es sich langfristig nicht leisten können, die eigenen Werte für den Profit und die langfristigen Pläne für das schnelle Geld zu opfern.



Eine Koalition aus Christdemokraten und Grünen ist eine Chance für Deutschland, in den Green New Deal des 21. Jahrhunderts einzusteigen und vielleicht sogar dessen europäischer Vorreiter und Förderer zu werden – insbesondere östlich von Berlin. Denn ohne ein grünes Polen oder ein grünes Rumänien wird Europa sicherlich nicht CO2-neutral werden. Genau das muss für Deutschland jedoch das politische und wirtschaftliche Ziel sein.



Damit es zu einer erneuten Annäherung zwischen Deutschland und seinem größten Nachbarn im Osten kommt, braucht es vielleicht eine vorübergehende Krise. Während der Ruf von CDU und CSU durch ihre Duldung von Populismus und antidemokratischen Bewegungen in der östlichen Nachbarschaft befleckt ist, genießen die Grünen großes öffentliches Vertrauen und gelten als eine Partei, die Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verteidigt. Ihre in der Vergangenheit entschiedene Haltung gegenüber Wladimir Putins Russland könnte ihnen auch im Hinblick auf den Populismus in Polen die nötige Autorität und Glaubwürdigkeit verleihen.



 Damit die Dinge in Zukunft besser werden, müssen sie sich vielleicht erst einmal verschlechtern. Auf längere Sicht wird sich die Luft reinigen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

 

Sławomir Sierakowski ist Senior Fellow am Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der DGAP.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 30-34

Teilen

Mehr von den Autoren