Weltspiegel

29. Aug. 2022

Gestärkt gegen Russland

Der Beitritt Finnlands und Schwedens steigert das Abschreckungspotenzial der NATO. Die Neuen sind natürliche Partner für Polen und die baltischen Staaten.

Wie sagte ein finnischer General  als Reaktion auf Drohungen des russischen Präsidenten Wla­dimir Putin für den Fall, dass Finnland der NATO beitreten sollte? „Sie können sich sehr gern zu den rund 200 000 Russen gesellen, die sich schon in Finnland befinden – begraben wenige Meter unter der Erde nach ihrem letzten Versuch im Jahr 1939.“



Der Winterkrieg 1939 hat das stalinistische Imperium gedemütigt, auch wenn er Finnland zu einigen Gebietsabtretungen zwang. Das obige Zitat, das US-Admiral James Stavridis, der frühere NATO-Oberkommandierende (2009–2013), im Frühjahr anführte, beschreibt treffend die finnische Einstellung.



Die schwedische Erfahrung mit Russland reicht noch weit länger zurück, und dennoch wird auch Schweden noch heute daran erinnert. Russlands Weg zum Weltreich begann mit dem Sieg Zar Peter I. über die Schweden bei Poltawa im Jahr 1709. Militärisch und moralisch könnten die Schweden den Russen ähnlich viele Probleme bereiten wie die Finnen.



Es ist lange her, dass die NATO das letzte Mal eine Transformation von solcher Tragweite durchlaufen hat wie jetzt, dank des nahen Beitritts Schwedens und Finnlands. Beide werden der Allianz mindestens genauso sehr helfen wie die Allianz ihnen. Der Beitritt ist insbesondere für Osteuropa von großer Bedeutung, das bisher mit seiner Einschätzung der russischen Bedrohung allein dastand, wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine gezeigt hat. Die nordischen Staaten und Osteuropa sind natürliche Verbündete, teilen sie doch eine lange Grenze mit Russland (und seinem Verbündeten Belarus, das de facto unter russischer Besatzung steht und dessen Bevölkerung den eigenen Diktator Alexander Lukaschenko verabscheut).



Wer die Bedeutung dieses Beitritts zur NATO einschätzen will, muss zwei Dinge beachten. Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei der ­NATO-Mitgliedschaft um einen stufenweisen Prozess. Denn es gibt verschiedene Arten und Weisen, auf denen Staaten der NATO angehören können. In der ersten Variante ist ein Staat im Sinne des Schutzversprechens gemäß Artikel 5 Mitglied der NATO, hat aber keinerlei NATO-Basen auf seinem Territorium. Das ist beispielsweise in Polen und anderen postkommunistischen Staaten der Fall. Dieser Zustand geht auf eine Vereinbarung zwischen der NATO und Russland von 1997 zurück, die diese Länder de facto zu Mitgliedern zweiter Klasse macht. Daraus resultiert auch der bizarr anmutende Rotationsmechanismus für die militärische Präsenz (enhanced Forward Presence) von NATO-Verbänden, den die Allianz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und der Annexion der Krim 2014 einführte. Die Ausrüstung ist vor Ort, die Militärbasis, die Familien der Soldatinnen und Soldaten – die zivile Infrastruktur (wie beispielsweise auf dem US-Stützpunkt in Rammstein) aber nicht.



Eine Vollmitgliedschaft würde permanente NATO-Militärbasen auf dem eigenen Territorium bedeuten. Polen und die baltischen Staaten hoffen darauf. Beim NATO-Gipfel in Madrid im Juni dieses Jahres wurde eine Entscheidung in diese Richtung allerdings nicht getroffen, was mit einiger Enttäuschung aufgenommen wurde. Die andere Variante könnte auch als „Premium-Mitgliedschaft“ bezeichnet werden. Sie beinhaltet die Möglichkeit der Stationierung von NATO-Nuklearwaffen auf dem eigenen Territorium. Polen würde diese Option sicher in Erwägung ziehen. Die Schweden haben bereits klargemacht, dass sie keine permanenten NATO-Streitkräfte auf ihrem Staatsgebiet wünschen. Finnland hat formal keinerlei Restriktionen formuliert. In den innenpolitischen Diskussionen des Landes hat aber keine der zwei weitgehenderen Optionen eine Rolle gespielt.



Wenn also Finnland und Schweden schon jetzt perfekt gerüstet, eng verbunden und mit NATO-Truppen voll kompatibel sind, warum diese Entscheidung? Der entscheidende Faktor hier ist Artikel 5 des NATO-Vertrags. Aber auch dieser ist in Wahrheit eher inkrementell gestaltet und bleibt vage: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“



Diese Bandwurmsatz-Formulierung verfolgte ursprünglich den Zweck, den Vertrag an diesem entscheidenden Punkt so präzise wie möglich zu formulieren. Und doch erreicht sie genau das Gegenteil. Artikel 5 verlangt also von den anderen NATO-Staaten, Schweden und Finnland „Beistand zu leisten“, sollten sie von Russland angegriffen werden. Von einer Kriegserklärung, einem Angriff auf den Aggressor oder der Entsendung von Truppen in das angegriffene Land ist nicht die Rede, es könnte sich also genauso gut um bloße Waffenlieferungen handeln. Theoretisch könnte ein Land auch bloß eine Art Sonderkommission schicken, die dann zwei Wochen lang die Situation vor Ort unter die Lupe nimmt. Dass wir in der Ära hybrider Kriegsführung leben, zu der Cyberattacken, die Zerstörung ziviler In­frastruktur, „grüne Männchen“ ohne Militärabzeichen (wie bei der Krim-Annexion) und alle möglichen Akte der Sabotage gehören – und was den Russen in Zukunft sonst noch einfallen mag –, verwässert Artikel 5 noch weiter. Die klassische Definition eines bewaffneten Angriffs ist nicht immer ohne Weiteres anwendbar.



Formale Kriegserklärungen sind selten

Artikel 5 enthält außerdem auch keinerlei Vorgaben, wie schnell eine solche Reak­tion stattfinden müsste. In den Vereinigten Staaten, dem wichtigsten NATO-Mitgliedsland, obliegt die Kriegserklärung nach Artikel 1, Absatz 8 der Verfassung nicht dem Präsidenten, sondern dem Kongress, was Zeit beansprucht. Im Kongress könnte eine andere Partei die Mehrheit haben. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum die USA die Kriege, die sie führen, nur sehr selten formal erklären. Bisher ist das erst zwölf Mal vorgekommen – das letzte Mal 1942 gegen Hitlers Verbündete in Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Seitdem haben die USA militärische Gewalt stets ohne formale Kriegserklärung eingesetzt.



Dennoch scheint der symbolische Wert des Artikels 5 für Schweden und Finnland alles andere als unklar zu sein. Im Angesicht der russischen Bedrohung stimmten im finnischen Parlament 188 von 200 Abgeordneten für den Beitritt, in der Annahme, nur Artikel 5 des Nordatlantikvertrags könne Finnlands Sicherheit und territoriale Integrität wahren. Fast 80 Prozent der finnischen Bevölkerung sehen das auch so.



Diese massive öffentliche Zustimmung hat auch im benachbarten Schweden großen Eindruck gemacht. Noch im März ­dieses Jahres, als Russland die Ukraine ­bereits überfallen hatte, schloss die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson einen schwedischen Beitritt aus. Aber der finnische Durchbruch steigerte die Sorgen in Schweden, am Ende der einzige Nicht-NATO-Staat in der Ostseeregion zu sein (mit Ausnahme Russlands, versteht sich).



Stockholm und Helsinki geht es um die Sicherheitsgarantien der NATO. Ihre eigenen Armeen bleiben zahlenmäßig klein und defensiv ausgerichtet. Derzeit dienen 24 000 Menschen aktiv in den schwedischen Streitkräften. Dazu kommen etwa 11 500 Teilzeit-Militärs, die ihre Uniform nur zu speziellen Übungen und Operationen anlegen. Schweden verfügt darüber hinaus über die sogenannte Heimwehr (Hemvärnet), eine 20 000 Mann starke Organisation innerhalb der Streitkräfte. 2018 hat das schwedische Militär zudem die Wehrpflicht wieder eingeführt. Finnlands Armee zählt 31 500 Soldaten, kann aber auf beeindruckende Reserven zurückgreifen. Finnische Generäle können „in kurzer Zeit“ bis zu 280 000 gut trainierte Reservisten mobilisieren. Die Gesamtzahl ehemaliger Soldaten im potenziell mobilisierbaren Alter liegt bei 900 000.



Zu den schwedischen Stärken gehört zuerst einmal die drittgrößte Marine in der Ostsee (nach der deutschen und der russischen). Der schwedische Luftraum wird von fast 100 exzellenten „Gripen“-Flugzeugen bewacht. Finnland verfügt über 60 amerikanische F/A-18 Kampfflugzeuge und hat den Ersatz durch F/A-35A bis 2025 bereits eingeleitet. 64 Flugzeuge sollen für 8,4 Milliarden Euro angeschafft werden. Finnland wird außerdem unter anderem JASSM-ER-Marschflugkörper erhalten, die Ziele in bis zu 1000 Kilometer Entfernung erreichen können. (Die Luftlinie zwischen Helsinki und Moskau beträgt etwa 900 ­Kilometer.)



Natürliche Verbündete

Weil Russlands Verhalten der entscheidende Grund für den fundamentalen Meinungswechsel der nördlichen Länder war, liegt nahe, dass osteuropäische Staaten für Stockholm und Helsinki in der NATO zu natürlichen Verbündeten werden. Alle drei großen Blöcke (Schweden und Finnland; die baltischen Staaten; Polen, Tschechien, die Slowakei und Rumänien) müssen sich um die multidimensionale Integration und Koordination ihrer Verteidigungspolitik kümmern.



Insbesondere Polen, Schweden und Finnland sind natürliche Partner und ergänzen sich gegenseitig. Das zeigte sich schon beim Eastern Partnership Project, das in der EU gemeinsam von Polen und Schweden lanciert wurde, genauer gesagt von Carl Bildt und Radek Sikorski. Das Projekt zielte präzise auf diejenigen Staaten, in denen die Konfrontation mit Russland heute hauptsächlich stattfindet: die Ukraine, Moldau, Georgien, aber auch andere Staaten, sogar Belarus selbst. Das Projekt sollte als Kommunikationsplattform dienen, unter den beteiligten Staaten aber auch eine gesunde Rivalität auf dem Weg zur Demokratisierung, beim Kampf gegen Korruption und bei der Integration in die Europäische Union auslösen.



Der NATO-Beitritt Finnlands bedeutet auch für die baltischen Staaten eine fundamentale Verschiebung und ist eine ernste Herausforderung. Wladimir Putin sieht sich selbst gern als Reinkarnation Wladimirs des Großen, dessen Werk er vervollkommnen will: diejenigen „Rus“ einzusammeln, die es zu weit in den Westen verschlagen hat und aus seiner Sicht nicht dorthin, sondern zur „Russki mir“ gehören, der „russischen Welt“. Litauen, Lettland und Estland fallen unter das Putin’sche Argument, Minderheiten schützen zu müssen. Nach der Ukraine und der Republik Moldau sind es die baltischen Staaten, die Moskau am stärksten bedroht und die zugleich am verwundbarsten sind.



Schweden und Finnland sind Gleichgesinnte ohne Illusionen, wenn es um Russland geht. Aus prorussischen Standpunkten lässt sich kein politisches Kapital schlagen, seien sie taktischer oder sub­stanzieller Natur. Russische Desinformationskampagnen haben wenig Chancen. Die Finnen wissen genauso gut wie die Polen, dass Russland nur dann aufhört, wenn es aktiv gestoppt wird. Und eine mögliche russische Landoffensive gegen die baltischen Staaten müsste wohl zu­allererst von den nordischen Partnern zurückgeschlagen werden.



In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte „Suwalki-Lücke“ von Bedeutung, die eine Landverbindung zwischen Polen und den baltischen Staaten bildet und einerseits von Belarus, das unter russischer Vorherrschaft steht, und andererseits vom russischen Kaliningrad begrenzt wird. Dieser enge Korridor findet unter russischen Militärexperten immer wieder Erwähnung.



Vom polnischen Standpunkt aus betrachtet, bedeutet das Zusammenschließen des gesamten Ostseegebiets in der NATO eine Verlängerung des aktuellen Friedens um mehrere Jahre und mehr Zeit für die konkrete militärische Vorbereitung, was eine stärkere Streuung russischer Streitkräfte unter anderem auch in den arktischen Raum nach sich ziehen wird. Der Vorsitzende der Geheimdienstabteilung des finnischen Militärs, Oberst Esapekka Vehkaoja, sagte: „Es ist schwer vorstellbar, dass Russland in den nächsten Jahren in der Lage sein wird, seine Truppenstärke in der Nähe der finnischen Grenze signifikant auszubauen.“ Der Kreml hat zwar die Schaffung zehn weiterer paramilitärischer Brigaden angekündigt, die gen Norden entsandt werden sollen. Aktuell allerdings werden Truppen aus der Grenzregion in die Ukraine geschickt.



Die ukrainischen Verteidiger haben schon jetzt rund ein Drittel der russischen Armee für mindestens ein Jahr aus der Einsatzfähigkeit herausgebrochen. Der Beitritt Finnlands und Schwedens fügt dem weitere 10 bis 20 Prozent hinzu, um die lange Landgrenze zu sichern. Das schwächt Russlands offensive Kapazitäten beträchtlich. Zudem stärkt die Mitgliedschaft der beiden Nordländer die Stellung derjenigen Staaten, die den internationalen Druck auf Russland noch verstärken wollen gegenüber denjenigen, die sich für einen Waffenstillstand auf Kosten ukrainischer Gebiete einsetzen.



Zurück zur ursprünglichen Mission

Die hohe Kompatibilität der finnischen und schwedischen Streitkräfte mit ­NATO-Standards wird eine schnelle operative Teilnahme beider Länder ermöglichen, was die Abschreckungsstärke der NATO zusätzlich erhöht. Es sollte außerdem daran erinnert werden, dass sich militärische Auseinandersetzungen in der Zukunft viel stärker in und um die Arktis abspielen könnten. Auch hier stärkt der Beitritt Finnlands und Schwedens die NATO substanziell und begrenzt die russischen Spielräume und die Manövrier­fähigkeit der russischen Verbände. Die NATO kehrt zu ihrer ursprünglichen Mission zurück, der Eindämmung Russlands. Interventionen außerhalb des Bündnisgebiets, die sich als Fehler herausgestellt haben, treten in den Hintergrund. Das bedeutet auch das Ende des Traumes, die NATO könne als eine Art „Special Task Force“ der USA dienen.



Auf der anderen Seite wird Frankreichs Einfluss in der Allianz auf seine reale Bedeutung zurückgestutzt. Wollten Finnland und Schweden ihre vormalige Neutralität in die NATO hineintragen, wären das schlechte Nachrichten. Ihre aktive Unterstützung der Ukraine gibt hier aber zu keinerlei Befürchtungen Anlass.



Der jüngste NATO-Gipfel in Madrid hat gezeigt, dass die USA nicht bereit sind, ihre militärische Präsenz in Europa sub­stanziell auszubauen. Die östliche Flanke der NATO wird von Deutschland nicht effektiv geschützt werden können – dazu mangelt es am Willen und auch an den Fähigkeiten. Bundeskanzler Olaf Scholz’ Zögern bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine lässt keinerlei Raum für Illusionen darüber, was Deutschland zur Unterstützung der Ukraine, aber auch der Polen und Balten im Falle einer konkreten Bedrohung zu leisten und zu opfern bereit wäre.



Die direkte Abwehr Russlands ist daher in erster Linie eine Aufgabe der Polen, Balten, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Schweden und Finnen. Dennoch bedarf es der Einheit des gesamten Westens, wenn Russlands mittelalterliche imperialistische Anwandlungen gestoppt werden sollen. Denn: Davon hängt die Sicherheit Europas ab. Nec Hercules contra plures – „es gibt keinen Herkules, der gegen eine Menge bestehen kann.“    



Aus dem Englischen von John-William Boer

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 79-84

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Slawomir Sierakowski ist Senior Fellow im Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)