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03. Jan. 2022

Krieg und Frieden

Was will Polen von der Europäischen Union? Im scharfen Streit um Gelder und Rechtsstaatlichkeit geht es um weit mehr als „nur“ um ein Land. Auf dem Spiel steht Europas Zukunft.

Nach dem Fall des Kommunismus war es Polens größter Traum, der Europäischen Union und der NATO beizutreten. Über Jahre hinweg schien es, als warteten wir auf ein Wunder in unserem grauen, düsteren Land, in dem überall noch die Narben der Nazizeit und des Kommunismus zu erkennen waren. Dieses Ziel überwand damals die Grenzen einfacher Politik, es war zivilisatorisch, beinahe heilig.

Es galt, dieBevölkerung zu einem Votum für den Beitritt zur EU zu bewegen – einem Konstrukt, mit dem viele Polen wenig anfangen konnten. Am Ende gaben deutlich mehr als 50 Prozent ihre Stimme ab, sogar Papst Johannes Paul II. mischte sich in die Debatte ein. 2003 stimmten 77,5 Prozent für den EU-Beitritt, bei einer Wahlbeteiligung von 59 Prozent. Es ist wichtig festzuhalten, dass die EU-Mitgliedschaft Polens somit ein stärkeres demokratisches Mandat erhielt, als es jede polnische Regierung seit 1989 erringen konnte.



18 Jahre später ist die Unterstützung für die polnische EU-Mitgliedschaft auf fast 90 Prozent angestiegen. Polens nationale Institutionen hingegen befinden sich in einer Vertrauenskrise. Das dürfte hauptsächlich auf zwei Faktoren zurückzuführen sein: die nationale Sicherheit und die wirtschaftliche Entwicklung.



Die EU wird weithin als Garantie für die polnische Unabhängigkeit angesehen, die über Jahrzehnte der Bedrohung durch Russlands imperialistische Tendenzen ausgesetzt war. Werfen die Polen einen Blick auf die von Russland gepeinigte ­Ukraine, sehen sie darin ihr eigenes Schicksal, sollten EU und NATO ihren Schutzschirm eines Tages wieder einrollen. Dasselbe gilt für die polnische Wirtschaft. 1989 hatte die Ukraine ein höheres BIP pro Kopf als Polen, dessen Wirtschaft durch die Sanktionen nach der Ausrufung des Kriegsrechts 1981 schwer getroffen war. 2020 lag das ukrainische Pro-Kopf-BIP laut Weltbank bei 13 060 Dollar, während Polen es auf 34 265 Dollar brachte.



Wäre Polen dem Weg der Ukraine gefolgt, wäre seine Wirtschaft heute wohl nicht über das Niveau von 2001 hinausgekommen. Mirosław Gronicki und Ludwik Kotecki vom European Financial Congress haben berechnet, dass Polen seit seinem EU-Beitritt bis Juli 2021 mehr als 206,8 Milliarden Euro erhalten hat. Das ist mehr als doppelt so viel wie Polens gesamter Jahreshaushalt von 2021. Die PiS-Regierung hat herausgehandelt, dass Polen in den nächsten sieben Jahren weitere 160 Milliarden Euro erhalten wird, unter anderem über den europäischen Wiederaufbauplan. Damit ist und bleibt Polen der größte Nettoempfänger von EU-Finanzmitteln aller Mitgliedstaaten. Die Regierung hat diesen Erfolg bereits marketingtechnisch ausgeschlachtet und Werbetafeln im ganzen Land aufhängen lassen. Auf diesen ist die astronomische Summe von 750 Milliarden polnischer Złoty zu lesen, ohne auch nur im Entferntesten zu erwähnen, dass diese Gelder in der EU ihren Ursprung haben. Die Plakate sind bereits bezahlt, das Geld hingegen wird wohl nicht fließen. Und das, obwohl Polen bereits zugesagt hatte, seinen Teil der gemeinsamen Schulden, die für den polnischen Wiederaufbauplan aufgenommen werden, zu schultern. Damit trägt Polen seinen Teil der Last, wird die Früchte des Programms aber nicht genießen können. Denn: EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni hat angekündigt, dass die Europäische Kommission ihre Zustimmung zum polnischen Wiederaufbauplan widerrufen und somit vorerst kein Geld fließen wird. Grund dafür ist unter anderem die Infragestellung der Gültigkeit des EU-Rechts durch die polnische Regierung und ihre Entscheidung, diese Frage an das Verfassungsgericht zu überweisen.



Sechs Jahre lang hat die polnische Führung nun schon eine undemokratische Reform nach der anderen in Angriff genommen. Die EU hat diesen Zustand zu lange schulterzuckend hingenommen. Mehrere PiS-Politiker sind Richter am Verfassungsgericht, darunter auch der Urheber der umstrittenen Justizreformen, Sławomir Piotrowicz, und Małgorzata Pawłowicz, die die Flagge der EU einmal einen bloßen „Lappen“ nannte. Die anderen Richter werden ebenso entgegen der Verfassung direkt von der PiS ernannt. Geleakte E-Mails von Ministerpräsident Morawieckis rechter Hand und dem Leiter seines Amtssitzes legen offen, dass die Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Julia Przyłębska, offenbar unter der direkten Kontrolle der Regierungspartei steht. So wissen wir, dass die jüngste Entscheidung des Verfassungsgerichts, die es Polen freistellt, EU-Recht anzuwenden oder eben auch nicht, von der polnischen Führung direkt diktiert worden ist. Noch schockierender wird diese Entscheidung dadurch, dass etwa durch Gentilonis Statement schon zu diesem Zeitpunkt klar war, dass Polen einen Rückzieher würde machen müssen, um Hilfen aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu bekommen. Die PiS-Regierung aber tat das glatte Gegenteil.



Mateusz Morawiecki hat den Tod des Wiederaufbauplans selbst eingeleitet. Wie ist das möglich? Nachdem eine Gruppe von liberaleren PiS-Parlamentariern um Jarosław Gowin die Fraktion im Parlament verließ, verlor die PiS ihre parlamentarische Mehrheit. Jetzt muss die Regierung beeinflussbare Abgeordnete vor jeder Abstimmung noch mehr schmieren als zuvor. PiS ist damit in immer ­größere ­Abhängigkeit von einer Gruppe Abgeordneter geraten, die von Justizminister Zbigniew Ziobro angeführt wird und jede Übereinkunft mit Brüssel ablehnt, wenn sie das Prinzip der Konditionalität enthält, also Zahlungen der EU an die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze knüpft.



Auf der anderen Seite der politischen Auseinandersetzung steht die Opposition mit ihrem Anführer Donald Tusk. Seine Strategie ist es bislang, die Handlungen der Regierung als Schritte in Richtung eines „Polexit“ darzustellen. So lassen sich die Proteste vom 10. Oktober erklären, zu denen Tusk direkt nach dem Urteil des Verfassungsgerichts aufgerufen hatte. Menschenmassen trafen sich auf den Straßen: In Warschau waren es bis zu 100 000 Demonstranten, Proteste gab es in weiteren 120 Städten.



Was die PiS als nächstes tut, ist schwer vorherzusagen. Durch das Urteil des Verfassungsgerichts hat sie sich in eine Sackgasse manövriert. Sie kann jetzt nicht mehr auf die finanziellen Mittel zugreifen, mit denen die Partei ihren Sieg bei den Wahlen 2023 sichern wollte. Immer klarer zu werden scheint, dass die PiS bereit ist, ihrem Machterhalt nicht nur die Mittel aus dem Wiederaufbaufonds zu opfern, sondern auch Polens EU-Mitgliedschaft an sich. Um am Drücker zu bleiben, muss die Partei weiter die Justiz kontrollieren, die in Polen Wahlergebnisse für gültig erklären muss und radikale Regierungsentscheidungen zurückweisen könnte.



Oberflächlich scheint es bei Polens Auseinandersetzung mit der EU-Kommission nur um ein einzelnes rebellisches Land zu gehen, das sich nicht an rechtsstaatliche Kriterien halten will. Aber das Fehlen einer unabhängigen Justiz in Polen schadet nicht nur dem Land selbst, sondern auch allen EU-Bürgern und ausländischen Firmen, die in Polen operieren. Der polnische Rat für das Gerichtswesen, ebenfalls von der PiS kontrolliert, hat entgegen der Verfassung bereits 1000 neue Richterinnen und Richter nominiert. Mehr als eine Million Gerichtsentscheidungen könnten angezweifelt werden, weil die Richter nicht regelkonform ins Amt gekommen sind.



Drohende Ansteckungsgefahr

Die Entscheidung des von der PiS kontrollierten Verfassungsgerichts, nationales Recht über EU-Recht zu erheben, ist zudem bedrohlich ansteckend. Polen wird immer mehr zum Beispiel für andere Länder, nicht nur an den politischen Rändern, sondern auch für Vertreter des politischen Mainstreams – siehe die neue Rhetorik einiger Präsidentschaftskandidaten der politischen Rechten in Frankreich. Diejenigen, denen die EU schon immer ein Dorn im Auge war, angeführt von den Brexit-Verfechtern um Premierminister Boris Johnson, zeigen sich hocherfreut. Auch in Russland jauchzen Presse und Politik. Nach Morawieckis markigem Interview mit der Financial Times nannte der russische Sender RT dessen Drohungen mit einem dritten Weltkrieg „große Worte“.



Während EU-Politiker noch immer nach Möglichkeiten suchen, den Dialog aufrechtzuerhalten, lässt Jarosław Kaczyński den Konflikt munter eskalieren. Der Vorsitzende der Regierungspartei ignoriert schlicht die Rekordstrafen, die der EuGH verhängte, und die sich auf etwa eine Million Złoty pro Tag belaufen. Polens Justizministerium hat bereits damit begonnen, Richter ihres Amtes zu entheben, die weiterhin EU-Recht vor polnischem Recht anwenden.



Europäische Politiker scheinen die Lage nicht wirklich zu verstehen, gehen sie doch fälschlicherweise davon aus, die polnische Politik folge den Regeln der Vernunft. Doch schon im 19. Jahrhundert, als der Liberalismus die westlichen Länder eroberte, träumte Polen von einer Art Messias, der die Unabhängigkeit wiederherstellen würde. Die höchste Stellung in Polen ist nicht die des Ministerpräsidenten, sondern die eines Erlösers. Darum bedarf Kaczyński auch keines hohen Amtes, um seinen beträchtlichen Einfluss auszuüben. Anders als Viktor Orbán geht es ihm nicht um Geld, Würden oder internationale Positionen. Kaczyński hat noch nicht einmal ein Bankkonto, ebenso wenig wie einen Führerschein. Ihm geht es nicht um Prestige oder hochrangige Treffen mit anderen Staatslenkern. Jeder politische Führer in Polen, von Józef Piłsudski über Lech Wałęsa bis heute zu Jarosław Kaczyński, wurde wie ein Halbgott und Heilsbringer verehrt. Selbst Tusk wird von den liberalen Teilen der Wählerschaft so gesehen. Er kehrte in die polnische Politik genau deswegen zurück: als Verteidiger einer unterdrückten Nation. Das ist die einzige Position, die er in Polen noch nicht innehatte und die es ihm ermöglichen würde, in den Status der oben erwähnten Nationalhelden ­aufzusteigen.



Was derzeit in Polen geschieht, geht über die normalen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition weit hinaus. Es ist ein offener politischer Krieg. Liberale Prinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz, die Gewaltenteilung oder die Freiheit von Presse und Medien bleiben da schnell auf der Strecke. Gerichte, Medien, Geld, Außenpolitik – alles ­bloße Ressourcen, die in diesem Krieg von Nutzen sein können. In Polen bestätigen die Gerichte Wahlergebnisse, und nur sie können Entscheidungen einer gewählten Regierung blockieren. Aus diesem Grund war Kaczyński schon immer wie besessen von der Justiz.



Sollte es keine andere Lösung geben, wäre die PiS-Regierung bereit, die Chance auf europäische finanzielle Mittel aufzugeben. Derzeit sucht die Regierungspartei nach Wegen, wie das Geld auf andere Weise aufgetrieben werden könnte, etwa durch eine höhere Verschuldung. Zusätzlich zum offiziellen Defizit von etwa 30 Milliarden Złoty wächst ein immer höheres inoffizielles Defizit heran, das nicht mehr der parlamentarischen Kontrolle untersteht. Es beinhaltet Ausgaben aus zahlreichen Fonds der Nationalen Entwicklungsbank BGK sowie Mittel aus dem staatlich betriebenen Entwicklungsfonds. Diese Institutionen geben Anleihen heraus, die vom Staat gedeckt und hauptsächlich von Banken erworben werden, nur um dann von der polnischen Nationalbank zurückgekauft zu werden. Die Schulden, die auf diese Weise aufgetürmt wurden, belaufen sich schon jetzt auf etwa 350 Milliarden Złoty. Diese „abgehobenen“ Ausgaben, von denen sich im offiziellen Staatshaushalt keine Spur findet, werden 2022 wohl um gut 50 Prozent höher ausfallen als im Krisenjahr 2020.



Derweil wird die Morawiecki-Regierung versuchen, die Kommission dadurch hinters Licht zu führen, dass sie ihre Reformen zurückzunehmen scheint (beispielsweise, indem sie die Disziplinarkammer am Obersten Gericht wieder abschafft), nur um dann – sobald das Geld aus Brüssel wieder fließt – noch weitergehende Reformen zu beschließen. Ein Gesetzentwurf liegt dafür schon bereit.



Dass etwa 88 Prozent aller Polinnen und Polen die europäische Integration befürworten, sollte niemanden in Sicherheit wiegen: Kaczyński ist ein Meister der politischen Mobilisierung. Obwohl sich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen ihn stellt, gewinnt er immer wieder Wahlen. Hauptgrund ist, dass die Wahlbeteiligung der PiS-Wähler doppelt so hoch ist wie die ihrer liberalen Konkurrenten.



Um Kaczyński zu schlagen, muss man wohl oder übel Feuer mit Feuer bekämpfen. Finanzieller Druck kann helfen, aber nur, wenn er umfassend und durchgreifend wirkt. Die Wählerschaft der PiS besteht im Grunde aus zwei Blöcken: den Fanatikern und den Zynikern. Erstere wählen Kaczyński aus Überzeugung, letztere, weil sie von den Sozialleistungen seiner Regierung profitieren, auch wenn sie nicht mit seinen anderweitigen Einstellungen übereinstimmen. Die Gruppe der Zyniker hat bisher zu den Wahlsiegen der PiS entscheidend beigetragen, könnte sich aber leicht abwenden, wenn kein Geld mehr fließt.



Der Sejm, das Unterhaus des Parlaments, hat den sogenannten Polen-Plan verabschiedet, der etwa neun Millionen Polen von der Steuerlast befreit. Dauerhaft werden sich immer neue Erhöhungen der Sozialleistungen nicht durch bloße Verschuldung bezahlen lassen. Langfristig könnten die fehlenden EU-Gelder also dazu führen, dass die Regierung ihre generöse Politik nicht bis zu den Wahlen wird aufrechterhalten können, worauf ihre Umfragewerte in den Keller sinken dürften.



Was Brüssel tun könnte

Endloser Dialog zwischen der EU-Kommission und der PiS hilft weder den einfachen Polinnen und Polen noch der EU, deren Vertragsgrundlage bald immer weniger respektiert werden könnte. Die Kommission könnte mit ihrer Entscheidung über den polnischen Wiederaufbauplan bis zum Sommer 2022 warten und dann zu dem Schluss kommen, dass die mangelnde Unabhängigkeit der polnischen Justiz eine effektive Kontrolle der Mittelverwendung unmöglich macht. Anfang 2022, nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts über den Konditionalitätsmechanismus, gegen den Polen und Ungarn beim EuGH Berufung eingelegt haben, wird die Kommission sofort dazu übergehen, auch bei anderen Mitgliedstaaten die Auszahlung der Mittel an Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Dieses Prozedere dürfte sich wohl bis zum Sommer hinziehen.



Die Drohung allerdings ist unmissverständlich: Brüssel kann – wenn es so entscheidet – alle Transferleistungen nach Polen stoppen, gleichzeitig aber auf den polnischen Beiträgen bestehen. Dieses Szenario bleibt zwar unwahrscheinlich, stellt aber dennoch eine greifbare Drohung dar. Sollte zudem in Ungarn die Opposition die Wahlen im Frühling 2022 gewinnen, wird der finanzielle Druck auf Polen noch weiter steigen.    

 

Sławomir Sierakowski ist Publizist, Politikwissenschaftler und Senior Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.



Aus dem Englischen von John-William Boer

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 70-74

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