BRICS, Format der vielen Optionen
Die Erweiterung der Staatengruppe ist kein antiwestliches Schreckgespenst – sie ist ein Ausdruck dafür, wie Staaten ihre Interessen bestmöglich verfolgen.
Die Erweiterung der BRICS-Gruppe, verkündet am Ende des 15. Gipfeltreffens in Johannesburg Ende August, läutet ein neues Kapitel ein. Nachdem sich die Staats- und Regierungschefs von Brasilien, Russland, Indien und China 2009 zum ersten Mal trafen und im darauffolgenden Jahr Südafrika als neues Mitglied einluden, erhielten diesmal gleich sechs Staaten eine Einladung: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Iran, Äthiopien, Ägypten und Argentinien. Dabei konnten die BRICS-Mitglieder von einer langen Liste von Kandidaten wählen – laut der südafrikanischen Regierung hatten vor dem Gipfel rund 40 Länder ihr Interesse bekundet.
Im Westen wird die BRICS-Gruppe oft nicht ernst genommen oder aber überschätzt. Im Jahr 2011 verkündete Philip Stephens, Kolumnist der Financial Times, es sei „Zeit, Abschied zu nehmen“ von den „BRICS ohne Mörtel“, in Anspielung auf die doppelte Bedeutung des Namens der Gruppe. Bloomberg-Kolumnist Marcus Ashford beschrieb die Gruppe kurz vor dem Gipfel in Südafrika als „zufälligen Haufen“. Der Kieler Politikwissenschaftler Joachim Krause sprach von einer „weitgehend unbedeutenden“ Institution.
In der Tat war es in den vergangenen Jahren ein Leichtes, die BRICS-Gruppe als inkohärentes Konstrukt darzustellen. Brasilien, Südafrika und Indien sind demokratisch, während Russland und China autokratisch regiert werden. Indien, Russland und China sind, im Gegensatz zu Brasilien und Südafrika, Nuklearmächte. Brasilien und Indien möchten ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats werden, was China zu verhindern weiß. Ein Grenzkonflikt zwischen Indien und China schwelt seit Jahren und zuletzt kam es 2020/21 zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten beider Staaten.
Umso bemerkenswerter ist es, wie die BRICS-Gruppe ihre Zusammenarbeit seit 2009 vertieft hat. Was anfänglich nicht viel mehr als ein jährliches Treffen der Regierungschefs war, wuchs über die Jahre zu einem breiten Geflecht an Beziehungen zwischen Ministerien, Universitäten und Kultureinrichtungen – in manchen Jahren fanden mehr als 100 solcher Treffen statt.
Hinzu kommt die vor zehn Jahren gegründete New Development Bank (NDB) mit Sitz in Schanghai, die von der ehemaligen brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff geleitet wird. Zwar ist die NDB noch sehr viel kleiner als die Weltbank; aber allein die Tatsache, dass sich die BRICS-Mitglieder auf die Finanzierung einer gemeinsamen Entwicklungsbank verständigt haben, sollte denjenigen zu denken geben, die die Institution als irrelevant abtun. Noch mehr zum Nachdenken bringen sollte die Tatsache, dass so viele Länder BRICS-Mitglieder werden wollen. Dabei sind sie nicht erpicht darauf, Teil einer von China und Russland angeführten antiwestlichen Allianz zu werden – von den bisherigen und neuen Mitgliedern trifft das allein auf den Iran zu. Keines der anderen Länder will fest auf der Seite Chinas und/oder Russlands stehen.
Was jedoch alle BRICS-Mitglieder eint, ist die Überzeugung, dass die immer noch westlich dominierte internationale Ordnung, gerade im Wirtschafts- und Finanzbereich, unfair ist und dass die G7-Staaten, insbesondere die USA, ihre Macht oft im eigenen Interesse ausnutzen. Alle BRICS-Länder sehen etwa US-Sanktionen kritisch und sind sich einig, dass man dem unkontrollierten Missbrauch der globalen Stellung des Dollars Grenzen setzen sollte.
Nach dem Motto „Einer für alle, alle für einen“ steht die BRICS-Mitgliedschaft für eine Rückversicherung gegen Druck und Isolierungsversuche des Westens. So wandten sich die BRICS-Mitglieder 2014 gegen Versuche, Russland nach der Annexion der Krim aus dem G20-Format auszuschließen. Putins imperialer Feldzug gegen die Ukraine demonstriert, dass diese Solidarität Grenzen hat. So hat Gastgeber Südafrika Putin aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs gebeten, nicht nach Johannesburg zu reisen. Doch Südafrika führte demonstrativ parallel zum ersten Jahrestag von Putins Krieg in diesem Februar ein gemeinsames Militärmanöver mit Russland und China durch. Indien und Brasilien lehnen die Sanktionen gegen Moskau genauso ab wie Peking. Keines der BRICS-Länder empfindet es als Stigma, mit Moskau (oder jetzt auch Teheran) in einer Gruppe zu sein.
Ein nichtwestliches Gegengewicht
Der Westen ist unter Führung der Biden-
Regierung nach Russlands Feldzug gegen die Ukraine im Februar 2022 geeint aufgetreten und hat die globale Macht des Dollars mit Hilfe des von der G7 plus einiger Verbündeter ohne UN-Mandat beschlossenen Sanktionsregimes eindrücklich demonstriert. Dies hat in den Augen vieler Staaten die Notwendigkeit unterstrichen, der G7 und der Ausübung der Dollar-Übermacht durch Formationen wie den BRICS ein Gegengewicht entgegenzustellen. Doch für die meisten BRICS-Staaten ist dieses Gegengewicht nicht Ausdruck des Wunsches, sich als Teil eines von China und Russland angeführten antiwestlichen Blocks zu verorten. Der Aussage des indischen Außenministers Jaishankar, Indien sei nicht antiwestlich, sondern einfach nichtwestlich, können sich viele BRICS-Mitglieder und Aspiranten weitestgehend anschließen.
Es geht vielmehr um Optionen. Die Mitgliedschaft ist eine Option, die BRICS-Staaten aus einer unterschiedlichen Gewichtung von Motiven verfolgen. Es ist aber keine exklusive Option. Das zeigt sich daran, dass Brasilien, Indien und Südafrika kein Problem damit haben, als Gäste den G7-Beratungen beizuwohnen, wenn die jeweilige G7-Präsidentschaft sie einlädt. Die Nicht-Exklusivität der Beziehung zeigt sich auch daran, dass die neuen BRICS-Mitglieder Vereinigte Arabische Emirate und Saudi-Arabien sowie Indien kurz nach Bekanntgabe der BRICS-Erweiterung beim G20-Gipfel in Indien Anfang September gemeinsam mit den USA und Europa einen „India-Middle-East-Europe Economic Corridor“ verkündeten, der sich als Gegengewicht zu Chinas globalen Infrastrukturprogrammen versteht.
Kurzum: Viele nichtwestliche Staaten sehen sich in einem neuen Zeitalter der Multi-Optionalität. Sie profitieren davon, verschiedene Optionen zu haben, die man kombinieren oder auch gegeneinander ausspielen kann, um das eigene nationale Interesse bestmöglich zu verfolgen: Das BRICS-Format ist ein Vehikel dafür. Deutschland und Europa sollten die erweiterte Formation differenziert betrachten im Hinblick auf die Interessen der Mitglieder sowie Potenzial und Grenzen der Zusammenarbeit unter den BRICS-Staaten. Gerade die Erweiterungsfrage hilft, Interessengegensätze und auch Fliehkräfte innerhalb der Gruppe besser zu verstehen. Deutschland und Europa sollten einen nüchternen Umgang mit den BRICS einüben, jenseits der hierzulande noch zu oft anzutreffenden Unterschätzung als Papiertiger und Überschätzung als Schreckgespenst.
Gegensätzliche Interessen
China und Russland haben das größte Interesse an der Erweiterung. Peking war die treibende Kraft, die sie als klares Zeichen gegen den Westen beim Johannesburger Gipfel durchsetzte. Seine relative Macht gegenüber den anderen BRICS-Mitgliedern ist im vergangenen Jahrzehnt stark gewachsen und seine Position als Primus inter pares wird durch eine Erweiterung nur noch deutlicher. Russland spielt die Erweiterung ebenfalls in die Hände. Dass bedeutende Länder dem BRICS-Club beitreten, verdeutlicht, dass Moskau keinesfalls isoliert ist. Im Gegenteil: 2024 hat Russland die BRICS-Präsidentschaft inne und lädt für Oktober zum Gipfel nach Kasan ein – ein klarer Prestigegewinn. Des Weiteren hat Präsident Putin 200 politische, wirtschaftliche und kulturelle Veranstaltungen angekündigt. Und Moskau ist auch sehr recht, dass mit dem Iran ein weiterer klarer Feind des Westens Mitglied der Gruppe wurde.
China und Russland treiben die Erweiterung voran, andere Gründungsmitglieder sehen das skeptischer
Die übrigen Gründungsmitglieder sehen die Frage der Erweiterung differenzierter und mit teilweise deutlichem Unbehagen. Viele in Brasilien fürchten einen relativen Statusverlust durch viele neue Mitglieder und eine Schwächung des privilegierten Zugangs zur chinesischen Führung. So reist Präsident Lula zwar als fröhlicher Befürworter der BRICS-Erweiterung durch die Welt und hat sogar die Mitgliedschaft Venezuelas ins Spiel gebracht. Doch innerhalb seiner Regierung gibt es viele Skeptiker. So sagte ein Beamter gegenüber Reuters, dass „Erweiterung den Block in etwas anderes verwandeln würde“ und äußerte Sorgen um die Kohäsion sowie „die Sicherung des eigenen Platzes in einer Gruppe wichtiger Staaten“. Brasilien setzte Argentinien als Neumitglied durch, als klar war, dass auf Druck Chinas die Erweiterung beim Gipfel in Johannesburg nicht zu verhindern war.
Südafrika setzte sich für Ägypten als Neumitglied ein und äußerte sich ansonsten positiv zur Erweiterung, obwohl man sich nicht in eine antiwestliche Agenda einspannen lassen will. Indien sieht sich weder als Teil eines Globalen Westens, wie sich das einige Analysten hierzulande erträumen, noch als Teil einer antiwestlichen Koalition, schon gar nicht unter Führung Chinas, das für Neu-Delhi seit der militärischen Konfrontation an der indisch-chinesischen Grenze 2020/21 zur zentralen sicherheitspolitischen Bedrohung geworden ist. Ein zentrales Motiv Indiens für die Mitgliedschaft in der BRICS-Gruppe ist zu verhindern, dass dort von Peking Dinge gegen Indiens Interessen vorangetrieben werden.
Auch unter den Neumitgliedern gibt es Interessengegensätze. Iran und Saudi-Arabien sind regionale Kontrahenten. Äthiopien und Ägypten streiten sich um Wasserpolitik am Nil. In Argentinien ist die Mitgliedschaft innenpolitisch sehr umstritten; je nach Ausgang der Präsidentschaftswahl könnte das Land einen Rückzieher machen. Bemerkenswerterweise entschloss sich Indonesiens Präsident Jokowi, die Einladung zur BRICS-Mitgliedschaft vorerst nicht anzunehmen.
Nach der Erweiterung wird gemeinsames Handeln von Seiten der BRICS schwieriger werden. Schon jetzt ist die Idee einer gemeinsamen Währung als Alternative zum US-Dollar illusorisch, weil kein Land die Souveränität über die Zentralbank abzugeben bereit ist. Nachdem Moskau dies ins Spiel gebracht hatte, sagte Indiens Außenminister Jaishankar jüngst in aller Deutlichkeit: „Es gibt keine Idee einer BRICS-Währung.“
Die New Development Bank ist auf den Dollar angewiesen. Laut einer Untersuchung des US-Forschers Brad Setser hat Chinas Nutzung des Dollars bei den Währungsreserven sich im vergangenen Jahrzehnt nicht entscheidend reduziert, Peking hat nur mehr Offshore-Treuhänder genutzt. Wie die Forscherinnen Andrea Binder und Ricardo Soares de Oliveira herausgearbeitet haben, sind die BRICS-Staaten treue Nutzer von Offshore-
Finanzvehikeln, auch um weniger konditionierten Zugang zum Dollar zu erhalten. Sicherlich werden die BRICS-Mitglieder (gerade China) mit Nachdruck an Zahlungsmechanismen zur Umgehung der Dollar-Übermacht und möglicher US-Sanktionen arbeiten und versuchen, weniger Zahlungen in Dollar abzuwickeln. Aber auch das ist ein herausfordernder Prozess, wie die europäische Erfahrung mit dem Instex-Vehikel zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran zeigt.
Chancen und Möglichkeiten
Deutschland und weitere G7-Staaten sollten die Attraktivität der BRICS für viele Länder der nichtwestlichen Welt als Misstrauensbeweis gegenüber der vom Westen oft beschworenen „regelbasierten internationalen Ordnung“ zur Kenntnis nehmen und daraus die richtigen Lehren ziehen. Wenn die BRICS und viele der Aspiranten „regelbasiert“ hören, fragen sie sich: „wessen Regeln?“ Sie erinnern an selektive Anwendung seitens des Westens und fordern grundlegende Reformen im Sinne einer größeren Mitbestimmung etwa in internationalen Finanzinstitutionen.
Berlin sollte Brasilien, Indien und Südafrika nicht belehren, sondern als Garanten sehen, dass BRICS nicht antiwestlich wird
Die BRICS-Mitgliedschaft an der Seite Chinas und Russlands ist kein Grund für Deutschland und Europa, Brasilien, Indien oder Südafrika zu belehren oder zu beschimpfen. Berlin sollte die drei Länder eher als Garanten sehen, die verhindern, dass der BRICS-Verbund zu einem antiwestlichen Sturmgeschütz Pekings und Moskaus wird. Dafür sorgt schon allein die zunehmende Rivalität zwischen China und Indien. So haben in der Vergangenheit Brasilien und Indien immer wieder Formulierungen in BRICS-Dokumenten aus Sicht des Westens „entschärft“. Statt hohler Hohelieder auf die „regelbasierte internationale Ordnung“ sollten Deutschland und Europa ernsthafte Angebote für eine Reform machen, etwa durch Verzicht auf Europas Anspruch auf den IWF-Chefposten und Deutschlands Forderung eines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat.
Auch sollte Deutschland alles tun, um den Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens gute Angebote nicht nur mit Blick auf Infrastrukturprojekte, sondern auch in der Handelspolitik zu machen. Dass hierzulande etwa bei den Grünen ein Umdenken in der Handelspolitik zu einem pragmatischeren Kurs eingesetzt hat, ist ein notwendiger Schritt. Deutschland muss alles tun, um französische Widerstände gegen den Abschluss des Abkommens zwischen EU und Mercosur bis Jahresende zu überwinden.
Viele Kooperationsmöglichkeiten ergeben sich auch im Rahmen der Energiewende und der Notwendigkeit der Diversifizierung bei kritischen Rohstoffen. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz und die Bundesregierung Rohstoffpartnerschaften vorantreiben, bei denen erste Veredelungsstufen bereits im Förderland erfolgen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Deutschland sollte sich dabei keinen Illusionen hingeben. Nichts davon wird große nichtwestliche Staaten wie Indien und Brasilien zu einfachen Partnern machen. Aber nur so können Deutschland und Europa attraktive Angebote in einer Ära der Multi-Optionalität machen.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 72-76
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