Der sanfte Globalisierer
Wie Pascal Lamy die Entwicklungsländer fördern will
Ein Europäer an der Spitze der Welthandelsorganisation: Was viele für unmöglich gehalten haben, ist nun doch Wirklichkeit geworden. Pascal Lamy, der nach dem Scheitern der Ministerkonferenz von Cancún im September 2003 die Organisation als „mittelalterlich“ kritisiert hatte, konnte sich schließlich durchsetzen. Als seine „Leitlinie“ stellt er heraus, vor allem die Interessen der Entwicklungsländer stärker als bisher im Welthandelssystem zu verankern.
Nord und Süd für Lamy
Neben Lamy kandidierten der Außenminister von Mauritius Jaya Krishna Cuttaree, der brasilianische WTO-Botschafter Luiz Felipe Seixas Correa und der ehemalige Vorsitzende des Allgemeinen Rates der WTO Carlos Perez del Castillo aus Uruguay. Zum Schluss waren nur noch Perez del Castillo und Lamy im Rennen, da sie die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten. Während Perez del Castillo auf den Rückhalt zahlreicher Entwicklungs- und Schwellenländer wie China und Brasilien (G-20) sowie der Cairns-Gruppe zählen konnte, erhielt Lamy die Unterstützung der USA sowie – nach dem Ausscheiden des Kandidaten aus Mauritius – der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (AKP-Staaten). Diese hoffen vor allem auf eine Fortsetzung der Präferenzzölle, die die EU den ehemaligen Kolonien gewährt. Zusätzlich erhielt Lamy die Unterstützung zahlreicher anderer Entwicklungsländer, weil er angekündigt hatte, Entwicklungsthemen in der Doha-Runde besonders zu berücksichtigen. Den am wenigsten entwickelten Ländern hatte er sogar eine „round for free“ versprochen.
Das Auswahlverfahren der WTO ist kompliziert, da einstimmig über den Kandidaten entschieden werden muss. Die zuletzt von allen Mitgliedern getragene Entscheidung für Lamy wurde daher mit Erleichterung aufgenommen, denn die Wahl hätte – wie im Fall von Mike Moore (Neuseeland) und Supachai Panitchpakdi 1999 – sehr leicht zu einem Nord-Süd-Konflikt ausarten können. Vor allem Lateinamerika und Afrika waren sehr daran interessiert, einen Kandidaten aus ihrer Region für die WTO zu nominieren; letztlich scheiterten sie, weil sie sich nicht einigen konnten. EU-Handelskommissar Peter Mandelson kommentierte: „Diese Wahl hätte zu einem Nord-Süd-Konflikt eskalieren können und es ist der WTO zu verdanken, dass dies nicht geschah. Ich bin sicher, dass Pascal Lamy hervorragend geeignet ist, Ausgleich zu schaffen. Das ist, was die WTO jetzt braucht.”1
Wenig Macht – viel Einfluss
Welche Macht hat der WTO-Generaldirektor? Entscheidungen der WTO können nur einstimmig von den Mitgliedern getroffen werden. Der Generaldirektor hat zwar kein Verhandlungsmandat, doch vielfältige Einflussmöglichkeiten – etwa über den Vorsitz des wichtigen „Trade Negotiations Committee“, das die Arbeiten der einzelnen Verhandlungsgruppen der Doha-Runde steuert: Er kann aus dieser Position heraus die Tagesordnung mitgestalten, Initiativen ergreifen und als „ehrlicher Makler“ zwischen den einzelnen Positionen der Mitgliedstaaten vermitteln. Es hängt somit viel von der jeweiligen Persönlichkeit ab, welchen Einfluss der Generaldirektor ausübt.
Lamy gilt als dynamischer und intelligenter Verhandlungsführer mit großer Handelsexpertise. Er hat die klassische Laufbahn der französischen Eliteschulen durchlaufen, ist Mitglied der Sozialistischen Partei und begann seine Berufskarriere – wie in diesen Fällen üblich – als Inspecteur des Finances. In den achtziger Jahren arbeitete er als Berater des damaligen französischen Wirtschafts- und Finanzministers Jacques Delors und stieg, als dieser 1985 Präsident der Europäischen Kommission wurde, zu dessen Kabinettschef auf. Vom Mitglied des Arbeitsstabs zur Sanierung des Crédit Lyonnais avancierte er später zum Generaldirektor der Bank. Nach deren Privatisierung wechselte er 1999 in die Europäische Kommission als EU-Handelskommissar. Der passionierte Marathonläufer wird als „Bürokrat“ bezeichnet, der hart arbeitet und strategisch denkt. Vor allem hat der 58-Jährige einen Ruf als ausgezeichneter Manager. Dies ist von hervorragender Bedeutung in einer Organisation, die aufgrund ihrer Entscheidungsregeln nach einem Konsens suchen muss. Welche Aufgaben kommen nun auf Lamy zu?
Die Doha-Entwicklungsagenda
Die wichtigste Aufgabe des neuen Generaldirektors wird darin bestehen, die im Jahr 2001 ins Leben gerufene Doha-Entwicklungsagenda zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Bereits im Dezember 2005 wird die sechste WTO-Ministerkonferenz in Hongkong stattfinden, die entscheidende Weichenstellungen für den Abschluss der Doha-Runde bringen soll. Pascal Lamy hat bereits betont, dass es seine „erste, zweite und dritte Priorität“ sei, die Runde erfolgreich abzuschließen und sicherzustellen, dass die Interessen der Entwicklungsländer in das Zentrum des Welthandelssystems gerückt würden.
Die Doha-Runde ist seit dem Genfer Rahmenabkommen vom Juli 2004 ins Stocken geraten. Um den Verhandlungen neuen Schwung zu verleihen, trafen sich die Handelsminister zahlreicher WTO-Staaten im Januar 2005 am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. Dabei wurde vereinbart, das Jahr 2006 als Zieldatum für das Schlussabkommen festzulegen. Zentral für einen Erfolg der Doha-Runde sind Fortschritte in der Landwirtschaftspolitik. Ohne deutliche Zugeständnisse der Industriestaaten, allen voran der EU und der USA, kann es keine Einigung in der Runde geben. Gleichzeitig müssen die Verhandlungen über den Marktzugang für Industriegüter und Dienstleistungen vorangetrieben werden, die deutlich hinter den Agrarverhandlungen herhinken.
Wie sehen die Erfolgsaussichten aus? Lamy wird der Runde einen Impuls geben, da er als ehemaliger EU-Handelskommissar viel praktische Erfahrung in WTO-Verhandlungen gesammelt hat und sich explizit für eine Entwicklungsrunde einsetzt. Aggressiver als Supachai wird er sich in die Verhandlungen einmischen und für Ergebnisse zwischen den Interessengruppen sorgen. Allerdings besteht die Gefahr, dass er als ehemaliger Vertreter der EU mit dem europäischen Agrarprotektionismus gleichgesetzt wird. Pascal Lamy muss es daher schaffen, als aufrichtiger Vermittler zwischen den verschiedenen Verhandlungsgruppen anerkannt zu werden – vor allem in den Verhandlungen über eine Öffnung der Agrarmärkte. Diese Hürde wird er aller Wahrscheinlichkeit nach leicht nehmen, da er sich bereits als EU-Handelskommissar dafür eingesetzt hat, sämtliche Agrarexportsubventionen der EU zu einem bestimmten Datum abzuschaffen – sehr zum Ärger seines Heimatlands Frankreichs (Angebot der EU vom Mai 2004). Lamy selbst gibt sich optimistisch: „In der Agrarfrage liegt bereits ein fester Rahmen vor. Es gibt eine Einigung, dass wir die Subventionen beenden sollten. Jetzt geht es um Taktik und Zahlen. Wir haben es fast geschafft.”2
Streitschlichtung und neue Mitglieder
Das zweitwichtigste Thema für Lamy wird der Umgang mit der neuen Wirtschaftsmacht China sein, die in Doha 2001 als neues WTO-Mitglied aufgenommen wurde. Es kam bereits zu einem eskalierenden Konflikt um die steigenden chinesischen Textilexporte in die USA und die EU nach dem Wegfall des Textilfaserabkommens im Januar 2005. Nach Daten des amerikanischen Handelsministeriums stieg der Import von chinesischen Textilien zwischen Januar und März 2005 je nach Kategorie in einer Spanne von 250 Prozent bis 1600 Prozent. Daher führten die USA bereits Mitte Mai einseitig Importquoten für sieben Textilgruppen aus China ein. Gleichgelagerte Untersuchungen in der EU hatten ergeben, dass z.B. der Import von Pullovern im ersten Quartal 2005 im Vergleich zum Vorjahr um 534 Prozent gestiegen war und der von T-Shirts um 137 Prozent. Im Gegensatz zum einseitigen Vorgehen der USA wurde in bilateralen Gesprächen vereinbart, dass China den Import von zehn Warengruppen auf einen jährlichen Zuwachs von 8 bis 12,5 Prozent beschränkt. Peter Sutherland, der ehemalige WTO-Generaldirektor, kritisierte diese wachsende protektionistische Haltung der Industrieländer: „Die echte Herausforderung der WTO liegt nicht mehr in der Antiglobalisierungsbewegung, sondern im Protektionismus Europas und der Vereinigten Staaten.“3
Schwerwiegende Konflikte finden aber auch zwischen den Industriestaaten statt: So belastet zurzeit der transatlantische Handelsstreit um Subventionen an Airbus und Boeing die WTO. Beide Parteien haben das Panelverfahren im ersten Anlauf blockiert; das Verfahren kann jedoch jederzeit wieder aufgenommen werden – mit ungewissem Endergebnis. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die WTO durch das Ausmaß des Konflikts überfordert wird und an Glaubwürdigkeit verliert, was wiederum einen negativen Einfluss auf die Doha-Runde hätte. Neben den zahlreichen Konflikten, die gelöst werden müssen, stehen zusätzlich schwierige Beitrittsverhandlungen mit Russland und dem Iran vor der Tür, bei denen es auf das Verhandlungsgeschick des Generaldirektors ankommt.
Reformen der WTO
Ein weiteres zentrales Thema sind die internen Reformen der WTO. Im Rahmen des zehnjährigen Bestehens erschien im Januar 2005 ein Bericht unter Federführung von Peter Sutherland über notwendige institutionelle Reformen der WTO mit dem Titel „The Future of the WTO“. Dieser enthält zahlreiche Vorschläge zur Änderung von WTO-Regeln sowie zur Neugestaltung des Dialogs mit der Zivilgesellschaft, der Rolle des Generaldirektors und des Sekretariats. Auch Lamy selbst hatte dringend Reformen der „mittelalterlichen“ Organisation angemahnt. Erste Reformschritte werden jedoch wohl erst nach dem Abschluss der Doha-Runde auf die Tagesordnung kommen. Eine Debatte zum jetzigen Zeitpunkt betrachtet Lamy als „kontraproduktiv“.
Mit der Wahl Lamys besetzen nun Europäer und Amerikaner die Chefposten der wichtigsten internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen: Am 1. Juni 2005 trat der Amerikaner Paul Wolfowitz sein Amt als Präsident der Weltbank an, seit Juni 2004 hat der Spanier Rodrigo de Rato den Posten des IWF-Direktors inne. Diese Verteilung widerspricht zwar der immer stärker werdenden Rolle der Entwicklungs- und Schwellenländer auf globaler Ebene, es kommt jedoch vor allem darauf an, Entwicklungsthemen in den Vordergrund zu stellen.
Lamy wird in erster Linie an den Erfolgen der Doha-Runde gemessen werden. Dies ist eine hohe Messlatte in Zeiten wachsenden Protektionismus in den Industrieländern einerseits, und lauter werdenden Forderungen der Entwicklungsländer nach Öffnung der Märkte für ihre Produkte andererseits. Lamy sucht eine Globalisierung, die allen zugute kommt und die durch internationale Regeln gesteuert wird. Sein Ziel bleibt es jedoch, das internationale Handelssystem zum Vorteil der Entwicklungsländer umzugestalten. Damit ist Lamy einer der wenigen Handelsexperten, die einen positiven Gegenentwurf zur bestehenden Globalisierungskritik haben. Der „Hut“ des Generaldirektors ist ohne Zweifel für jeden Kandidaten eine große Herausforderung; Lamy besitzt jedoch die erforderlichen Eigenschaften, um die Probleme lösen zu können.
1 Peter Mandelson: The EU and the WTO, http://europa.eu.int/comm/trade/issues/newround/pr260505_en.htm.
2 World Trade Organisation. Half-way Down the Farm Road, Financial Mail, 20.5.2005.
3 „Exocet missile“ May Be Just the Man for the WTO, Financial Times, 15.5.2005.
Internationale Politik 8, August 2005, S. 90 - 93