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01. Mai 2022

Der lange Krieg

Russlands Überfall auf die Ukraine setzt den Angriff fort, der 2014 begann. Dessen Ausgang entscheidet auch über die Zukunft des Westens und der trans­atlantischen Ordnung.

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Bild: Selensky in Butscha
Um das Überleben als eigenständiger Staat zu kämpfen, ist für die Ukraine nichts Neues: Staats-
präsident Wolodymyr Selensky in Butscha.
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Die Ukraine kann es sich nicht leisten, diesen Krieg zu verlieren: Es geht um ihr Überleben als politische Nation und als Staat. Der Westen –die EU und die NATO – kann es sich nicht leisten, die Ukraine verlieren zu lassen: Es geht um seine eigene Sicherheit und die Zukunft der Demokratie auf dem europäischen Kontinent und weltweit.



Am 24. Februar begann die Russische Föderatin mit einer groß angelegten Invasion in der Ukraine. Die Gräueltaten, die die russische Armee in der Ukraine begangen hat, sind schockierend und machen sprachlos. Die Zivilbevölkerung, darunter Frauen und Kinder, sind die ersten Opfer der russischen Raketen, Bomben und Schüsse. Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Geburtsstationen sowie zivile Gebäude wurden von russischen Raketen und Bomben getroffen. Die Auslöschung der Stadt Mariupol gibt bereits Anlass, diese Entwicklungen als Völkermord zu bezeichnen. Die Szenen aus der Stadt Butscha bei Kiew, die Anfang April von der russischen Besatzung befreit wurde, zeigen das schockierende Ausmaß und den Charakter der Kriegsverbrechen, die Russland in der Ukraine begeht. Dies ist eine große Tragödie nicht nur für die Ukraine, sondern für die gesamte Friedens­ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und darüber hinaus. Dennoch zahlen die Ukrainerinnen und Ukrainer den höchsten Preis in diesem Krieg.



Der Westen hat viel getan, um die Ukraine in diesem Krieg zu unterstützen, aber nicht genug, um den russischen ­Präsidenten Wladimir Putin zu stoppen und weitere Kriegsverbrechen zu verhindern. Das hat mit dem mangelnden Verständnis dafür zu tun, dass Russland den Krieg nicht nur gegen sein Nachbarland führt, sondern vor allem gegen den Westen und alles, wofür er steht: internationale Regeln und Normen, seine Friedensordnung und europäische Werte. Folglich verteidigt die Ukraine diese Werte, während sie für ihre eigene Souveränität und Freiheit kämpft.



Im weiteren Sinne kämpft die Ukraine für die Fähigkeit der EU, ihrem eigenen Ziel der Sicherung von Frieden, Freiheit und Stabilität in Europa gerecht zu werden, und für die europäische Sicherheit. Dieser Mangel an Verständnis für das, was auf dem Spiel steht, führt zu mangelndem Engagement, alle möglichen Ressourcen zu investieren, um die Widerstandsfähigkeit der Ukraine zu stärken und Russland zum Rückzug aus dem Land zu bewegen.



Der Euromaidan als Wendepunkt

Für viele im Westen begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine in diesem Februar. Tatsächlich ist die russische Invasion etwas, was sich niemand im 21. Jahrhundert vorstellen konnte. Es war ein Weckruf für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und vielleicht auch für viele andere westliche Politikerinnen und Politiker. Ein genauerer Blick legt jedoch nahe, dass der Überfall von 2022 Teil einer umfassenderen Entwicklung ist, die schon viel früher einsetzte.



Bereits im November 2013 sollte die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen. Dieses Dokument, über das seit 2006 verhandelt worden war, sollte die Ukraine zu einem integralen Bestandteil des europäischen normativen Raumes und in einigen Bereichen zu einem Teil des EU-Binnenmarkts machen. Bei diesem Dokument ging es vor allem um die zivilisatorische Entscheidung der Ukraine zwischen der demokratischen, wohlhabenden und technologisch fortschrittlichen EU gegenüber dem autokratischen und ressourcenbasierten Wirtschaftsmodell Russlands. Viele Ukrainer sahen das Abkommen als ein Instrument für die EU-orientierte Transformation ihres Landes. Außerdem würde es den Abschied der Ukraine aus der russischen Einflusszone in Form der Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan sichern, die später in die Eurasische Wirtschaftsunion umgewandelt wurde und weitere post­sowjetische Länder einschloss.



Putin war sich darüber im Klaren, was für das russische neoimperiale Projekt auf dem Spiel stand. Wenige Tage vor dem historischen EU-Gipfel in Vilnius, auf dem das Assoziierungsabkommen unterzeichnet werden sollte, kündigte die ukrainische Regierung unter der Führung ihres Präsidenten Viktor Janukowitsch eine Kursänderung an. Die Vorbereitungen für die Unterzeichnung wurden ausgesetzt. Im Gegenzug sollte die Ukraine einen Kredit in Höhe von 15 Milliarden Dollar und niedrigere Preise für Gaslieferungen aus Russland erhalten. Wäre dieser Plan aufgegangen, wäre die Ukraine ein Vasallenstaat Russlands geworden, ähnlich wie Belarus und bis zu einem gewissen Grad auch Armenien.



Wie sich herausstellte, hatte die ukrainische Gesellschaft im Gegensatz zu ihrer Regierung eine andere Vorstellung von ihrer Zukunft. Die Menschen gingen auf die Straße und begannen das, was zunächst als Euromaidan bezeichnet wurde, aber bald als „Revolution der Würde“ bekannt wurde. Nach den dreimonatigen Protesten im kalten Winter 2013/14, bei denen 78 Demonstranten und 13 Polizisten ihr Leben verloren und die Janukowitsch zur Flucht nach Russland zwangen, wachte die Ukraine in der neuen Realität auf.



Die Krim und Teile des Donbass wurden annektiert beziehungsweise besetzt. Russland begann den Krieg, der im Laufe von acht Jahren etwa 15 000 Tote und 1,5 Millionen Vertriebene zur Folge hatte. Hunderte Menschen wurden wegen ihrer politischen Ansichten und der Wahrung der ukrainischen Identität verfolgt und inhaftiert. Die Dinge beim Namen zu nennen – dass also Russland gegen das Völkerrecht und die internationale Ordnung verstieß, indem es Gebiete eines souveränen Staates besetzte –, wurde ebenfalls strafbar. Doch das Hauptziel Russlands, die Souveränität der Ukraine zu untergraben, wurde durch die Invasion 2014 nicht erreicht.



Trotz der Besetzung von etwa 7 Prozent ihres Territoriums hat sich die Ukraine noch stärker auf den proeuropäischen Weg begeben. Sie schloss das Assoziierungsabkommen mit der EU ab, ihre Bürgerinnen und Bürger erhielten das Recht auf visumfreies Reisen in den Schengen-Raum, und die öffentliche Meinung wurde entschieden proeuropäisch: Seit 2014 befürworten stets über 50 Prozent der ukrainischen Gesellschaft den Beitritt zur Europäischen Union, weniger als 14 Prozent dagegen den Beitritt zur von Russland geführten Zoll- oder der Eurasischen Wirtschaftsunion.



Die sogenannten Minsker Abkommen, zu deren Unterzeichnung die Ukraine unter militärischem Druck Russlands im September 2014 und Februar 2015 gezwungen wurde, waren Russlands Instrument, um die Souveränität der Ukraine auf andere Weise zu untergraben. Nach Vorstellung des Kremls sollten die von Russland in­stallierten Regime in den Regionen Donezk und Luhansk, die selbsternannten „Volksrepubliken“, nach ihrer Wiedereingliederung in die Ukraine Moskau in die Lage versetzen, die Kontrolle über die Ukraine von innen heraus auszuüben.



Die angeblichen „Volksrepubliken“ galten in der Ukraine als trojanische Pferde. Deshalb bestand Russland auf dem Son­derstatus und den Wahlen in diesen Gebieten, bevor die Ukraine die Kontrolle über ihre Außengrenze zu Russland wiedererlangen sollte. Die ukrainische Gesellschaft und in der Folge ihre Regierung konnten diese Bedingungen nicht akzeptieren. Deshalb scheiterte Putins Plan.



Die groß angelegte Invasion am 24. Februar war die letzte Option, die Moskau zur Verfügung stand, um die Ukraine wieder in seine Umlaufbahn zu zwingen. Da der „Blitzkrieg“-Plan aufgrund des starken Widerstands der Ukrainer nicht aufging, entschied sich Russland für den totalen Vernichtungskrieg, bei dem ganze Städte und Ortschaften zerstört wurden und ein Massenmord an der Zivilbevölkerung stattfand.



Das Überleben der Ukraine

Genau wie während der Revolution der Würde, als die Ukrainer für ihr Recht kämpften, ihre Zukunft als Mitglied der europäischen Staatenfamilie selbst zu ­bestimmen, kämpft die Ukraine heute erneut um dasselbe Recht. Doch heute ist dieser Kampf viel umfangreicher und der Preis ist viel höher.



Dass in diesem Krieg für die Ukraine ihr Überleben als Staat und als politische Nation auf dem Spiel steht, ist historisch gesehen nichts Neues. Das Land hat eine lange Geschichte der Unterdrückung durch den russischen Imperialismus, sei es durch das zaristische Russland oder durch die Sowjetunion. Die jahrhundertelange Russifizierung und die Vernichtung der ukrainischen intellektuellen Eliten, Bauern und Dissidenten durch Stalin sind all jenen, die sich auch nur im Geringsten für Geschichte interessieren, nur allzu bekannt.



Tatsächlich handelt und denkt das heutige Russland weiterhin wie eine Kolonialmacht. Putins Artikel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“, der im Juli 2021 veröffentlicht wurde, stellt das Recht der Ukraine auf Eigenstaatlichkeit offen infrage. Im Oktober 2021 folgte ein Artikel des ehemaligen russischen Präsidenten und Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew, in dem die Ukraine als „Vasallenstaat“ des Westens bezeichnet wurde. In diesem Zusammenhang kann Russlands militärische Invasion als ein integrales Instrument der imperialistischen Politik angesehen werden.



Außerdem kämpft die Ukraine für ein politisches System des Pluralismus, der Freiheit und der Menschenrechte – die Werte, für die die EU steht. Im Gegensatz zu Russland hat die Ukraine einen regelmäßigen politischen Machtwechsel durch Wahlen erlebt. Obwohl sie unter Korrup­tion, oligarchischer Macht und einer nur mangelhaft unabhängigen und fairen Justiz gelitten hat, ist die ukrainische Gesellschaft heute weitgehend pluralistisch mit politischem Wettbewerb, freien Medien und einer lebendigen Zivilgesellschaft.



Dies sind genau die Werte, die in dem autoritären politischen System Russlands keinen Platz haben. Mehr noch: Der Raum für diese Werte schrumpft innerhalb der EU, wie der erneute Wahlsieg von Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei Anfang April in Ungarn zeigt. So liegt der Erhalt der Ukraine und dieser Werte in der Ukraine im vitalen Interesse der EU.



Aggressive Militärmacht

Was unter russischer Herrschaft in den besetzten ukrainischen Gebieten passiert, sollte für jeden eine weitere Warnung vor Russlands aggressiver Militärmacht sein. Nehmen wir die Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde. Auf der Halbinsel wurden seitdem Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen en masse begangen. Dazu gehören das gewaltsame Verschwindenlassen, die Folter und die unmenschliche Behandlung von Oppositionellen durch die lokalen „Behörden“. Auf der Krim gibt es zahlreiche politische Gefangene, die Vereinigungs- und Meinungsfreiheit werden unterdrückt. Vor allem die Ureinwohner, einschließlich der Krimtataren und ethnischen Ukrainer, wurden zur Zielscheibe staatlicher russischer Gewalt. Auch in den besetzten Teilen des Donbass ist es nicht besser geworden. Der preisgekrönte Film des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa mit dem Titel „Donbass“ zeigt gut, wie Gesetzlosigkeit und Straflosigkeit dort aussehen.



Die Invasion 2022 bringt der Ukraine weitere solcher Kriegsverbrechen und Verletzungen der Grundrechte und -freiheiten. Menschenrechtsorganisationen haben bereits zahlreiche Belege für die systematische Verfolgung von lokalen Regierungsbeamten, Journalisten, religiösen Führern, Freiwilligen und Aktivisten der Zivilgesellschaft in den seit Februar vorübergehend von russischen Truppen besetzten Gebieten der Ukraine gesammelt. Viele wurden entführt und tot aufgefunden. Ukrainische Truppen, die Anfang April die gesamte Region Kiew von den Besatzern befreiten, wurden mit schockierenden Bildern der Verwüstungen konfrontiert: Leichen auf den Straßen, Beweise für Hinrichtungen von Zivilisten, Massengräber und getötete Kinder.



Raus aus der Komfortzone

Schließlich nutzt Russland die besetzten Gebiete für die Installation von militärischen Einrichtungen und Waffensystemen, was die Sicherheit Europas bedroht. Seit der Annexion der Krim hat Russland die ukrainische Halbinsel konsequent zu einem Militärstützpunkt ausgebaut. Das auf der besetzten Krim konzentrierte Zerstörungspotenzial in Form von Raketen hat bereits zu einem absoluten militärstrategischen Vorteil für Russland in der Schwarzmeerregion geführt. Von dort aus kann Russland seine Macht bis in den südlichen Kaukasus, den Nahen Osten und das Mittelmeer projizieren.



Die Raketenbasen auf der Krim wurden bereits für den Beschuss von Kiew und der Westukraine genutzt. Mit diesen Stützpunkten hat Russland auch die Möglichkeit, Atomschläge gegen Ziele in fast ganz Europa zu führen. Die EU kann es sich nicht leisten, dass russische militärische Offensivkräfte noch näher an ihre Grenzen heranrücken.



Der Westen muss entschlossener und rascher handeln, um die Ukraine zu unterstützen und Russland zu besiegen. Wladimir Putin wird seine Aggression nicht beenden – es sei denn, er würde durch die gemeinsamen Anstrengungen des Westens und der Ukraine gestoppt. Eine Kombination aus Waffenlieferungen, die der Ukraine einen militärischen Vorteil gegenüber der russischen Armee verschaffen können, und strengen Wirtschaftssanktionen sollte diesem Ziel dienen. Darüber hinaus braucht die Ukraine eine EU-Beitrittsperspektive in Form des Status eines EU-Kandidatenlands.



All diese Maßnahmen erfordern, dass die EU und andere westliche Länder ihre Komfortzone verlassen. Wirtschaftliche Unannehmlichkeiten und die Notwendigkeit, über die üblichen bürokratischen Verfahren hinauszugehen, sind einige der Komponenten des Preises, der zu zahlen ist. Doch wenn sich der Westen bewusst ist, was auf dem Spiel steht, und sich diesen Kampf zu eigen macht, ist dieser Preis nicht allzu hoch. Schließlich zahlen die Ukrainer einen viel höheren Preis. Die Ukrainer haben keine Wahl, denn sie schützen ihr Land. Aber auch der Westen hat keine Wahl: Es geht um seine Zukunft. Letztendlich ist die Hilfe für die Ukraine eine Investition in transatlantische Stärke, Kohärenz und Sicherheit.    

Dr. Iryna Solonenko ist Senior Fellow am Zentrum Liberale Moderne.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 44-48

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