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01. Okt. 2007

Der Furor der „Tugend“

Die Kaczynskis: Wenn revolutionärer Anspruch ins Jakobinertum umschlägt

Es war der Zorn über die alten korrupten Eliten in den neuen Chefsesseln der Demokratie, der die Zwillinge ins Amt brachte. Trotz der wachsenden Willkür ihrer Herrschaft haben sie noch nicht alle Anhänger verloren: Ein Teil der polnischen Bürgergesellschaft scheint bereit, im Kampf gegen das Ancien Régime auch Regelverletzungen zu dulden.

Eigentlich haben die Brüder Kaczynski ja irgendwo auch Recht. Jenes „graue Netz“ von Postkommunisten und Oligarchen, das nach der Analyse des regierenden Zwillingspaars in Warschau Polens „Dritte Republik“ zur korrupten Pseudodemokratie hat verkommen lassen, ist kein reines Hirngespinst. Nicht nur in Russland nämlich oder in der Ukraine, sondern eben auch in Polen ist die Demokratie nach der Wende in mancher Hinsicht ein potemkinsches Dorf geblieben. Der Systembruch von 1989–1991 ist nur zu einem begrenzten Teil eine Emanzipation der Völker gewesen. Zum anderen war er ein simpler Methodenwechsel der herrschenden Eliten, die verstanden hatten, dass ein Großaktionär im Räuberkapitalismus der osteuropäischen Gründerjahre mehr brillantbesetzte Uhren und schwarzlackierte Luxusjeeps anhäufen kann als ein ZK-Sekretär mit Dienst-Wolga. Aus Parteiapparatschiks sind damals die „roten Direktoren“ geworden, deren Netze bis heute Osteuropas Wirtschaft und Politik durchweben. Die alten Übel, Korruption, Machtmissbrauch, Ungleichheit, sind geblieben, nur das Etikett hat sich geändert.

Es ist deshalb kein Zufall gewesen, dass um die Mitte dieses Jahrzehnts, 15 Jahre nach dem Jahr 1989, mehrere Länder des früheren „Ostblocks“ von einer zweiten Welle der „Wende“ erfasst worden sind. In der „orangenen Revolution“ der Ukraine hat eine breite Volksbewegung sich 2004 gegen das System der milliardenschweren „Clans“ erhoben, die das Land unter sich aufgeteilt hatten und nun Minister en gros verscherbelten, wie andere Leute Kartoffeln oder Socken. Die Bürgerrevolte von Kiew oder auch der Sturz Eduard Schewardnadses in Georgien ist dabei so etwas wie eine zweite Welle des Systemwandels gewesen, der Versuch, das Emanzipationsprojekt von 1989–1991 einen Schritt weiterzubringen.

In Polen hat die Bürgerrevolte den Weg über die Wahlurnen genommen. Vor dem Machtantritt der Brüder Kaczynski im Jahr 2005 hatten spektakuläre Korruptionsaffären des postkommunistisch-oligarchischen Milieus das Land erschüttert. Die Polen ahnten damals, dass nicht so sehr der Bürger mit seiner Wahlstimme das Schicksal des Staates lenkte, sondern ein Geflecht von verschatteten Seilschaften, dessen zentrale Knoten wie schon vor der Wende im damals regierenden „Bund der Demokratischen Linken“ lagen, der früheren „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“ aus Diktaturzeiten. Die Brüder Kaczynski haben ihren Wahlsieg deshalb von Anfang an nicht als simple Übernahme des Staffelstabs im geregelten Lauf einer stabilen Demokratie gesehen, sondern als Fortsetzung des Systemwechsels. Ihre Parole von der „Vierten Republik“, welche die korrupte „Dritte“ der Wendezeit nunmehr ablösen sollte, stand für den Anspruch, das Werk von 1989 zu vollenden.

Dieser revolutionäre Ansatz der Kaczynskischen Politik war von Anfang an nicht zu übersehen. Ihr Appell an die Kampftradition der Solidarnosc ist permanent. Hinzu kam, dass die Zwillinge nicht nur an das Erbe des antikommunistischen Widerstands im Allgemeinen anknüpften. Innerhalb dieses Erbes wählten sie gezielt die radikalste Traditionslinie: die Ideen derer, die schon 1989 die damaligen Kompromisse Lech Walesas mit den Kommunisten am Runden Tisch abgelehnt und ohne Erfolg eine radikale Säuberung des Staates gefordert hatten. Diese Forderung nach rücksichtsloser „Dekommunisierung“ – treffend ausgedrückt in Jaroslaw Kaczynskis späterer Überlegung, General Jaruzelski habe eigentlich „die Kugel“ verdient – hat sich damals nicht durchsetzen können. Die Führung der Solidarnosc, Walesa und der erste Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, sicherten den Kommunisten als Belohnung für ihren unblutigen Abschied von der Macht sehr weitgehende Unbehelligtheit zu, so dass die alte Nomenklatura sich durch ihre Kenntnisse und Verbindungen in den Jahren der Privatisierung die besten Positionen sichern konnte.

2005 aber, 16 Jahre nach der Wende, ist mit dem Wahlsieg der Brüder KaczyÄski die seinerzeit unterlassene „Dekommunisierung“ Staatsdoktrin geworden. Der Runde Tisch und die Liberalen in der Solidarnosc, Mazowiecki etwa oder der Publizist Adam Michnik, der einmal die Behauptung aufgestellt hatte, auch ein Kommunist könne ein Ehrenmann sein, haben in der Welt der Zwillinge jene Rolle zugewiesen bekommen, die in der Französischen Revolution die Girondins hatten: den Part der Verräter an der guten Sache, der käufllichen Überläufer. Das „Netzwerk“ das die „Vierte Republik“ jetzt zerschlagen soll, umfasst daher in der Weltdeutung der Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nicht nur Kommunisten und Oligarchen, sondern auch den liberalen, „käuflichen“ Flügel der Solidarnosc – in der realen Welt das gesamte Spektrum jener politischen Kräfte, die seit der Wende in abwechselnden Regierungen das neue Polen aufgebaut und in die Europäische Union geführt haben. Die Delegitimation der Wendedemokratie ist aus der Sicht der Brüder Kaczynski damit total. Sie umfasst nicht nur die früheren Kommunisten, sondern auch das Solidarnosc-Establishment der ersten Jahre. Die Totalität dieser Negation, der jakobinische Anspruch, die unvollendete Wende von 1989 endlich an ihr Ziel zu bringen, hat den doppelten Wahlsieg der Brüder im Jahr 2005 möglich gemacht. Die Bevölkerung, angewidert von der Korruption des ersten Wendejahrzehnts, forderte den eisernen Besen, und die Brüder versprachen ihn.

Heute aber, zwei Jahre danach, ist deutlich geworden, dass die Kaczynski-Revolution in dieselbe Falle zu laufen droht, in die vor ihnen schon die Jakobiner und die Bolschewiki gelaufen sind. Ihr Säuberungsfuror ist in den letzten Monaten immer radikaler geworden, und im vergangenen Sommer haben sie mehrmals jene Grenze verletzt, die den demokratischen Rechtsstaat vom revolutionären Ausnahmezustand trennt. Die von ihrer neuen Antikorruptionspolizei CBA gezielt inszenierte Bestechungsaktion gegen ihren ungeliebten Koalitionspartner Andrzej Lepper oder die haltlose Verhaftung des früheren Innenministers Kaczmarek, der es gewagt hatte, sie zu kritisieren, haben gezeigt, dass rechtsstaatliche Selbstbeschränkung der Macht nicht zu den Kernwerten der Brüder zählt. Dass sowohl Lepper als auch Kaczmarek durchaus schillernde Persönlichkeiten sind, kann die Übergriffe gegen sie nicht entschuldigen.

In der Welt des radikalen Solidarnosc-Flügels folgen solche Grenzverletzungen aus einem Mechanismus, den man als das Paradox der totalen Gerechtigkeit beschreiben könnte: Da nämlich die zur absoluten Doktrin erhobene Forderung nach „Recht und Gerechtigkeit“ jedes real existierende Rechtssystem mit seinen tausend Kompromissen als unvollkommen erscheinen lässt, kann keine rechtliche Ordnung dem strengen Anspruch genügen. Als einziger Ausweg bleibt dann das Verwerfen aller Regeln zugunsten der unumschränkt herrschenden Idee, die Willkür der „Tugend“, wie es im Klub der Jakobiner geheißen hätte.

Jaroslaw Kaczynski hat in den letzten Monaten seiner ersten Amtszeit dieser Tendenz der „Tugend“ zur Willkür nicht ganz entgehen können. Da aus Sicht seiner Partei nicht nur Exekutive und Gesetzgebung in Polens „Dritter Republik“ von Grund auf korrupt sind, sondern auch die Judikative und die Richterschaft, hat unter seiner Regierung zuletzt kein Gericht damit rechnen können, dass die revolutionäre Führung sich ihm willig beugen würde, wenn es etwa jenes „Lustrationsgesetz“ kritisierte, mit welchem die Zwillinge die Spitzel der alten Zeit endlich aufdecken wollten, oder wenn es die Verhaftung eines politischen Gegners für gesetzeswidrig erklärte. Wer sich als Richter gegen Regierung und Parlamentsmehrheit stellt, muss mit persönlichen Angriffen rechnen. Als etwa das Verfassungsgericht die Lustration kippte, versuchten die Leute der Brüder sofort, die Richter als kommunistische Spitzel bloßzustellen, und als die Verhaftung Kaczmareks von einer Warschauer Kammer gerügt wurde, sagte ein Abgeordneter von Recht und Gerechtigkeit nur spitz, das Volk habe schließlich keine Richter gewählt, sondern eine Partei; was diese Partei tue und lasse, müsse deshalb auch nicht den Richtern gefallen, sondern „der Gesellschaft“. Schon Tocqueville hat beschrieben, wie ein solcherart entfesseltes Mehrheitsprinzip direkt zur Lynchjustiz führt.

Ob der Durchleuchtungs- und Dekommunisierungsstaat der Brüder Kaczynski mit seiner revolutionären Dynamik und seiner Verachtung für bestehende Regelwerke „der Gesellschaft“ tatsächlich gefällt, wird sich bei der Parlamentswahl am 21. Oktober zeigen. Umfragen deuten darauf hin, dass ein stabiler Teil der Wählerschaft – zwischen einem Viertel und einem Drittel – immer noch bereit ist, zu den Fahnen zu strömen, wenn die Kaczynskis rufen. Dass diese Leute sich von den Grenzverletzungen der letzten Monate nicht schrecken lassen, macht deutlich, wie intensiv die polnische Gesellschaft unter dem Grundübel der postkommunistischen Korruption in den ersten anderthalb Wendejahrzehnten gelitten hat. Wie in der Ukraine, wie in Georgien (und vielleicht auch wie eine Generation früher im Deutschland des Jahres 1968) will ein beträchtlicher Teil der Bürgergesellschaft nicht hinnehmen, dass die Eliten der alten Diktatur es sich in den Chefsesseln der Demokratie bequem gemacht haben. Im Kampf gegen die Reste des Ancien Régime ist er bereit, auch Regelverletzungen zu dulden.

Andererseits ist mittlerweile – spät genug – auch der liberale Solidarnosc-Flügel aus seinem Schlaf erwacht. Lange hatte seine politische Repräsentantin, die „Bürgerplattform“ (PO), sich nicht entschließen können, den Brüdern Kaczynski offen entgegenzutreten. Die gemeinsamen Wurzeln im Widerstand hemmten ihre oppositionelle Verve. Nach den letzten Kommandoaktionen der neuen Antikorruptionspolizei gegen die Gegner von Recht und Gerechtigkeit aber hat die Plattform den Kampf gegen die „bolschewikischen“ Neigungen der konservativen Revolution aufgenommen. Wenn die Polen am 21. Oktober zu den Urnen gehen, werden deshalb zwei klare Perspektiven zur Wahl stehen: hier der mühsame, vielleicht immer unvollkommene Prozess des schrittweisen Elitenwechsels, dort die permanente Revolution von Recht und Gerechtigkeit.

KONRAD SCHULLER, geb. 1961 in Rumänien, berichtet seit 2004 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus Polen und der Ukraine.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 22 - 25.

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