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01. Mai 2005

Die Sirenen von Warschau

Krieg in den Köpfen: die Angst vor Russen und Deutschen

Das Kriegsende in Ostmitteleuropa lässt auf sich warten. Den Polen und Balten stecken deutsche und russische Besatzung und Gewaltherrschaft noch in den Knochen. Die neue Konfliktbereitschaft ist darum verständlich. Aber Europa ist die beste Chance, die Ostmitteleuropa je hatte.

Vielleicht hat das Wunder vom Rhein uns ja allen die Urteilskraft genommen. Kaum war nach 1945 der Friede im Westen Realität geworden, hielten wir ihn für den Normalfall. Dass das ein Irrtum war, dass Versöhnung nach Generationen des Krieges nicht die Regel ist, sondern eine kostbare Ausnahme, hat zuerst der Balkan erfahren. In Jugoslawien ist der Friede der Diktatoren an jenem Tag zerbrochen, an dem die Diktaturen sich auflösten. Ein halbes Jahrhundert nach 1945 fielen die Völker übereinander her, als sei seit dem letzten Schuss kein Tag vergangen. Europa ahnt seither, dass seine Ordnung nicht auf bebensicherem Boden steht.

Eine der Regionen mit besonders reger seismischer Tätigkeit ist das nordöstliche Mitteleuropa, jene Tiefebene zwischen Oder und Baltikum, die in den Kalkülen deutscher und russischer Marschälle immer wieder nur als Panzerrollbahn fungierte. Wie dünn das Eis hier sein kann, wie unvergangen zwischen Polen, Balten, Russen und Deutschen der Krieg noch ist, darüber geben zwei Episoden Aufschluss, die sich im letzten Jahr ereignet haben.

Episode eins handelt von Polen und Deutschen. An einem strahlenden Sonntag im Sommer 2004, genauer: am 1. August um 17 Uhr, spazierten Mann und Frau durch die Alleen des Warschauer „Park Lazienkowski“ hin-über zur Orangerie, als ein Sirenenton die Luft erfüllte. Frau und Mann nahmen wahr, dass um sie alles erstarrte: Der Rentner weiter vorne setzte seine Stockspitze in den Kies und gefror. Die Großfamilie weiter hinten kam samt Mops und Kinderwagen zum Stillstand. Auf der Bank nebenan verstummten die Liebesleute.

Zwischen Frau und Mann bestand ein Unterschied. Beide waren zwar Deutsche, Kinder der fetten Jahre. Aber anders als die Frau kannte der Mann Polen gerade nur so wenig, wie eben gewöhnliche Deutsche Polen kennen. Er stutzte deshalb nur kurz, als das Signal ertönte, stellte dann aber bald fest, dass keine Gefahr bestand und machte Anstalten, Sirene hin, Sirene her, den Spaziergang fortzusetzen. Sie dagegen, die gewisse Kenntnisse besaß, blieb nicht nur wie angewurzelt stehen, sondern weigerte sich obendrein, ein Wort zu sprechen. Stattdessen bedeutete sie ihm nur durch Gesten, doch ja um Himmels Willen den Mund zu halten.

Was er nicht wusste: Das Signal erscholl nicht für irgendeine Feuerwehr-übung. Es erinnerte an den Krieg, genauer: an den 1. August 1944, als Schlag 17 Uhr die Sirenen den Warschauer Aufstand ausriefen, die größte bewaffnete Erhebung gegen die Nazis, die das besetzte Europa im Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat. Der Aufstand sollte Polen noch vor Ankunft der Sowjetarmee befreien, doch er geriet zur vollendeten Tragödie. Die Nazis erstickten die Insurrektion in Blut. Hinrichtungstrupps entvölkerten ganze Stadtteile, und während auf der östlichen Weichselseite die Rote Armee pausierte, um Wehrmacht und SS Zeit für ihr Vernichtungswerk zu geben, legten deutsche Sprengtrupps Warschau in Asche. Polen aber erinnert sich daran, als sei es gestern gewesen. Die Nation weiß, dass sie auch in 100 Jahren noch Deutschland zum Nachbarn haben wird, und wenn das Signal ertönt, erstarrt sie bis heute, vom Baby bis zum Greis, zu einem Bild alerter Gefechtsbereitschaft. Es ist der Frau schließlich gelungen, den Mann mittels eines durch die Zähne gezischten kriegsgeschichtlichen Stoßreferats zunächst zum Innehalten zu bringen, und danach, als er weiter leise gegen alles völkische Brimborium protestierte, sogar zur Beachtung der Schweigeminute. Bevor er aber den Mund schloss, sagte er noch einen Satz, ohne den diese Szene nicht vollständig erzählt wäre: „Na und?“ sagte der Mann. „Was geht uns das an? Wir sind ja keine Polen.“

Fazit von Episode eins: In Polen heulen bis heute die Sirenen. Der westöstliche Doppelüberfall von 1939, der Hitler-Stalin-Pakt, der Mord an knapp sechs Millionen polnischer Bürger (die Hälfte von ihnen Juden) in den folgenden Jahren, sind in Polen emotional blanke Gegenwart. Deutschland aber glaubt, das alles sei nur eine Feuerwehrübung.

Episode zwei handelt von Polen und Russen. Letzten März beschloss die Stadt Warschau, eine Straßenkreuzung nach dem Tschetschenengeneral Dschochar Dudajew zu benennen, unter dessen Führung in den neunziger Jahren der tschetschenische Widerstand gegen Russland zum Krieg wurde. Weil aber Dudajew in Moskau als Vater aller Terroristen gilt, reagierte der Kreml mit wütendem Protest. Russland plant nun nach einer Meldung der Zeitung Wremja Nowostej den Gegenschlag: Die Straße, an der die polnische Botschaft in Moskau liegt, soll den Namen des russischen Generals Michail Murawjow erhalten, der 1830 einen antirussischen Aufstand im geteilten Polen so gründlich niederschlug, dass ihm der Volksmund den Namen „Henker“ gab.

Fazit von Episode zwei: Auch im Verhältnis Polens zu Russland ist der Friede weit. Die Symptome des Nach- und Vorkriegs, Furcht und Aggression, sind auch hier nicht überwunden. Es wird zu zeigen sein, dass diese Symptomatik nicht nur Polen betrifft, sondern auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Ein Jahr nach dem Beitritt dieser Staatenwelt zur Europäischen Union ergibt sich daraus zusammen mit dem polnischen Reflex gegen Deutschland eine Tendenz zur Abgrenzung sowohl nach Osten als auch nach Westen, welche in scharfem Widerspruch zur „europäischen“ Idee des Ausgleichs durch Zusammenarbeit steht. Diese Tendenz ist zwar in allen Ländern dieses Raumes gegenwärtig nur eine Unterströmung. Doch die Generation des Ausgleichs tritt ab. Vor allem in Polen könnte sie nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen dieses Jahres die Hegemonie verlieren.

Von Panzern und Uniformen

Die Gründe für den wachsenden Alarmismus im östlichen Mitteleuropa liegen zum Teil bei den gefürchteten Nachbarn in Ost und West. Beim Blick nach Westen ist vor allem das neue Interesse der Deutschen an Flucht und Vertreibung Anlass schriller Fanfarenstöße: Der Plan, in Berlin, nahe am Holocaust-Denkmal, ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu bauen, weckt in Polen die Befürchtung, Deutschland könnte eines Tages dazu übergehen, den Zweiten Weltkrieg nur noch als „Judenmord plus Vertreibung“ wahrzunehmen. Polen würde damit seine Opferrolle verlieren und als „Vertreiberstaat“ in die Reihe der Täter gestellt. Deutschland aber könnte auf den Gedanken kommen, die 1945 verlorenen Gebiete und Vermögenswerte zurückzufordern. Das Auftreten der „Preußischen Treuhand“, einer Kleinorganisation aus dem Spektrum der Vertriebenenverbände, die vor europäischen Gerichten das Eigentum vertriebener Deutscher zurückgewinnen möchte, ist in Polen als Bestätigung dieser Sorge aufgefasst worden.

Die polnische Publizistik und große Teile der politischen Klasse haben auf diese Entwicklungen so reagiert, als ließe die Bundeswehr an den Oderbrücken schon die Panzermotoren warmlaufen. Der Parlamentsabgeordnete Dobrosz versicherte, nunmehr zeige sich, dass Deutschland nach wie vor auf die „Vernichtung Polens“ aus sei. Der Chef der Partei „Recht und Gerechtigkeit“, Jaroslaw Kaczynski, einer der einflussreichsten unter den kommenden Männern des Landes, rief seine Landsleute auf, jedem zu misstrauen, der freundlich von Deutschland rede: Mitten in der Heimat treibe eine „fünfte Kolonne“ ihr Wesen, ehrlose Publizisten und „nützliche Idioten mit bettlerischem Charakter“, die von „deutschem Geld“ lebten und von „deutschen Geheimdiensten, darunter der Stasi“ geführt würden. Im September 2004 hatte sich die Aufregung so weit gesteigert, dass der Sejm mit überwältigender Mehrheit beschloss, trotz des polnischen Reparationsverzichts von 1953 das etwas verdutzte Deutschland mit der Frage des Schadenersatzes für die Folgen des Weltkriegs zu konfrontieren. Auf öffentlichen Veranstaltungen wurden Abbilder der deutschen Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach in SS-Uniformen gesteckt und verbrannt.

Dem rapiden Klimaverfall im Westen folgte im Winter der Temperatursturz im Verhältnis zu Russland. Hier allerdings betraf die Eiszeit noch weitere Partner: Außer Polen sind auch die baltischen Staaten, vor allem Estland und Litauen, heute mit Moskau heillos überworfen – so sehr, dass die Präsidenten beider Länder sich geweigert haben, am 9. Mai an den Moskauer Feiern zum 60. Jahrestag des Sieges über Deutschland teilzunehmen.

Die Ursache dieser Verstimmung ähnelt der im Westen haargenau: Russland, der Nachfolger jener Sowjetunion, die das östliche Polen und das Baltikum 1939 mit brutaler Gewalt an sich riss und ihre Beute erst nach der Wende von 1989 wieder herausgab, steht heute im Verdacht des Revanchismus. Polen und Balten haben nicht überhört, dass Präsident Putin die Annexion des Baltikums und die Aufteilung Polens im Gefolge des Molotow-Ribbentrop-Paktes vom 23. August 1943 erst kürzlich mit dem Argument verteidigt hat, nur so sei Hitler überhaupt zu stoppen gewesen. Ihnen ist nicht entgangen, dass Russland die Ordnung von Jalta, durch die es seine Beute über den Krieg hinaus behalten konnte, nach wie vor heroisiert, und dass die russische Staatsanwaltschaft sich weigert, die Morde vom Frühjahr 1940, als der sowjetische Geheimdienst in Katyn, Miednoje und Charkow etwa 22 000 polnische Offiziere, Geistliche und Intellektuelle erschoss, als Völkermord zu verfolgen. Im polnischen Parlament hat diese Weigerung am 22. März 2005 eine geharnischte Protestresolution gegen Russland nach sich gezogen.

Diese Disposition zum Konflikt gen Osten wie gen Westen hat tiefe Wurzeln. Keine Erfahrung haben die Völker dieses Raumes schmerzlicher bezahlen müssen als die, dass ein scheinbarer Friede – etwa der von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg – in Wahrheit oft nur eine Atempause ist, in der die Aggressoren Kräfte sammeln für den nächsten Überfall. Heute nimmt man wahr, dass es Russland wie schon nach 1918, als nach Generationen der Teilung Polen und das Baltikum neu entstanden, schwer fällt, den Verlust Mitteleuropas hinzunehmen. Der Abschied Moskaus von jener „Jaltanischen“ Hegemonialsphäre in Osteuropa, in welcher Balten und Polen bis 1989 Gefangene waren, ist noch nicht völlig überzeugend gelungen, der Zerfall der Sowjetunion nicht ganz verschmerzt. Die Angst ist wach, dass der sowjetische Expansionismus wiederkehren könnte. Deutschland wird ähnlich gesehen. Führende polnische Publizisten wie Stefan Bratkowski betonen immer wieder, dass die Bundesrepublik das „Abkommen“ von Potsdam, wo die Alliierten im Juni 1945 die Abtrennung der deutschen Ostgebiete beschlossen, bis heute nicht anerkannt hat.

Es lässt sich deshalb darstellen, dass der osteuropäische Friede von 1989 zumindest aus Sicht der Opfervölker dem Versailler Scheinfrieden von 1919 ähnelt: Er sucht eine Ordnung zu fixieren, welche die großen Nachbarn in Ost und West von Anfang an nicht wollten. Er geht auf Grenzziehungen zurück, die nicht immer anerkannt wurden. Die Analogie ist klar: So wie Deutschland nach 1919 Versailles nicht akzeptiert hat, so lehnt es bis heute „Potsdam“ ab. Russland wiederum hat die Unterzeichnung der Grenzverträge mit den baltischen Republiken seit Jahren hinausgezögert. Der Friede ist also unsicher, eine neue deutsch-russische Annäherung bleibt eine permanente Bedrohung.

Wie lebendig dieses Empfinden bis in die Nachkriegsgeneration hinein wirkt, hat der 1960 geborene westukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch beschrieben. „Zwischen Russen und Deutschen eingezwängt zu sein ist die historische Bestimmung Mitteleuropas“, schreibt er über die „unglücklichen Nationen“ des Ostens. „Die mitteleuropäische Angst schwankt historisch zwischen zweierlei Sorge hin und her: Die Deutschen kommen, die Russen kommen. Der mitteleuropäische Tod, das ist der Tod im Lager oder im Gefängnis, ein kollektiver Tod. Massenmord, Säuberungen. Die mitteleuropäische Reise, das ist die Flucht. Aber woher, wohin? Von den Russen zu den Deutschen? Oder von den Deutschen zu den Russen? Gut, dass es auf der Welt im Notfall noch Amerika gibt.“

Sind solche Interpretationen der ostmitteleuropäischen conditio historica erst einmal akzeptiert, drängt sich eine unabweisliche Folgerung auf: Ostmitteleuropa bleibt bedroht wie in den dreißiger Jahren. Wollen Polen und Balten daher die Wiederkehr des Desasters verhindern, müssen sie den Kardinalfehler jener Zeit vermeiden: Die Appeasement-Politik des „Münchener Abkommens“ von 1938, als die Welt Hitler durch falsche Nachgiebigkeit zum Krieg ermutigte.

Solche Schwäche darf nicht mehr sein, ist die Folgerung der „Falken“ in Polen und im Baltikum. Deutsche, russische Provokationen verlangen entschlossene Antworten, selbst wenn das heißen sollte, diplomatische „Massenvernichtungswaffen“ einzusetzen (so hat Polens Ministerpräsident Belka den Reparationsbeschluss des polnischen Parlaments beschrieben). „Es geht nicht darum, dass wir uns verteidigen“, schreibt die einflussreiche polnische Zeitschrift Wprost. „Wir sollten als erste zuschlagen“.

Das Trauma des Appeasements

So verständlich aber die Ablehnung jeden „Appeasements“ historisch auch sein mag, so zweifelhaft erscheint sie im Licht der Gegenwart. Der Generalverdacht des Opportunismus, den jede Beschwichtigungspolitik seit „München“ nicht mehr los wird, ist nämlich oft genug unbegründet. Vorleistung und Zugeständnis können zur überaus erfolgreichen Strategie werden, wenn beim Gegner genug Verständigungsbereitschaft vorhanden ist, um das Signal zu erkennen und seinerseits freundlich zu reagieren. Nur wenn ein skrupelloser Feind ohnehin zum Überfall entschlossen ist wie Hitler, wird „Beschwichtigung“ kontraproduktiv, weil sie den Feind stärkt, ohne ihn zum Einlenken zu bewegen. Ist jedoch ein Gegner an der Eskalation nicht interessiert oder wünscht er gar Frieden, kann die Ablehnung jeden „Appeasements“ dazu führen, dass Chancen verspielt werden. Ob daher die „Falken“ Ostmitteleuropas eine rationale Politik der Stärke betreiben oder einen zerstörerischen Kollisionskurs fahren, hängt davon ab, ob Russland und Deutschland wirklich so sind, wie die historischen Warner es nahe legen: bei aller Freundlichkeit nach außen im Innersten finster entschlossen, sich Mitteleuropa wiederzuholen, die Gegenwart zurückzudrehen bis zum Jahr 1989 oder gar bis 1945, so dass jedes Entgegenkommen zum Fehler wird.

In beiden Fällen aber ist die Antwort klar. Deutschland hat zwar wie Russland bis heute für polnische oder baltische Augen gewisse beunruhigende Züge, doch hier wie dort überwiegen die positiven Zeichen. So hat etwa Deutschland tatsächlich „Potsdam“ nie hingenommen; die polnischen Publizisten, die immer wieder darauf hinweisen, sollten aber nicht vergessen, dass seither drei Abkommen hinzugekommen sind, die Deutschland rückhaltlos anerkennt, und die Polens neue Westgebiete sichern: der Görlitzer Vertrag mit der DDR von 1950, der Warschauer Vertrag mit Bonn vom Jahr 1970 und der von Helmut Kohl ausgehandelte deutsch-polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990.

Auch die Entschädigungsbegehren der „Preußischen Treuhand“ sind nur eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass zur gleichen Zeit, als die Treuhand Schlagzeilen machten, die deutsche Vertriebenenpräsidentin Steinbach die jahrzehntealte Forderung der Vertriebenenverbände nach Entschädigung durch die „Vertreiberstaaten“ aufgegeben hat, um stattdessen eine „innerdeutsche“ Lösung zu fordern. Insgesamt ist es deshalb aus polnischer Sicht absolut nicht zwingend, Deutschland vor allem als Bedrohung zu sehen. Das Gegenteil wäre plausibler. Die Bundesrepublik ist über Jahre der wichtigste Befürworter der EU-Osterweiterung gewesen, und bis heute kommt der größte Teil der Brüsseler Gelder für Osteuropa aus Deutschland.

Im Falle Russlands gibt es etwas mehr Anlass zum Zweifel. Die Eliten des Landes entstammen bis heute der kommunistischen Nomenklatura. Die Sowjetnostalgie blüht, und immer wieder versucht Russland, ehemalige Vasallen durch Druck gefügig zu machen. Es ist noch nicht lange her, dass Moskauer Diplomaten die Unabhängigkeit der Ukraine mit den Worten kommentierten, das „gehe vorbei“ wie ein Kater oder ein Schnupfen, und erst im Herbst hat Putin mit unverfrorener Offenheit in Kiew versucht, einen Klüngel moskaufreundlicher Oligarchen gegen den Willen der Bevölkerung an der Macht zu halten.

Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass Russland seit den Zeiten der Sowjetunion eine Entwicklung durchgemacht hat, die ermutigend genug ist, um zumindest im Gespräch zu bleiben, statt auf verletzende Weise Besuche abzusagen. Moskau hat das Baltikum schließlich – wenn auch zögernd und erst nach einem blutigen Repressionsversuch – zuletzt ebenso in die Unabhängigkeit entlassen wie alle übrigen Sowjetrepubliken sowie Polen und die Staaten des Warschauer Paktes. Die russische Armee hat geordnet das östliche Mitteleuropa verlassen. Zuletzt ist der gesamte Raum zwischen Oder und Bottnischem Meerbusen der NATO und der EU beigetreten, ohne dass Moskau seine Interkontinentalraketen startklar gemacht hätte. Russland hat damit trotz aller Einschränkungen eine Entwicklung genommen, die eine kooperative Haltung mindestens ebenso begründen kann wie eine strikte Politik der Härte.

Versöhnungsraum oder Kampfbereitschaft?

Das östliche Mitteleuropa hat in dieser Lage die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Die erste hätte das Ziel, nach dem Vorbild des „karolingischen“ Kooperationsgebiets im Rheintal einen „jagiellonischen“ Versöhnungsraum im Osten zu schaffen. Wie im Jagiellonenstaat der frühen Neuzeit, in dem das polnische Warschau ebenso blühen konnte wie Krakau und Danzig mit seinem deutschen Element oder das ukrainische Kiew, könnten hier die historischen Feindschaften langsam in Vergessenheit geraten. Eine starke Bindung an Europa und damit auch an Deutschland könnte einem solchen Raum, von Polen über das Baltikum und die Ukraine bis in den Kaukasus, den Rückhalt geben, der nötig ist, um auch Russland gegenüber gelassen aufzutreten und Chancen der Versöhnung zu nutzen. Voraussetzung einer solchen Politik wäre die Annahme, dass sowohl mit Deutschland als auch mit Russland ein vernünftiger Ausgleich letzten Endes möglich ist, und Entgegenkommen nicht immer Appeasement sein muss.

Die zweite Variante folgt dem Modell „Israel“. In ihr ist die Besinnung auf die eigene Identität und Stärke der Garant des Überlebens. Kampfbereitschaft ist wichtiger als der Kompromiss mit Nachbarn, die sich von ihren Revancheträumen ohnehin nie trennen werden. Die EU mit ihrem Relativismus wird in diesem Modell eher als Schwächung gesehen denn als Rückhalt, und im schlimmsten Fall gar als verkapptes Instrument deutschen Machtstrebens.

Die Idee des Verbündeten zwischen Russland und Deutschland spielt in dieser konfliktorientierten Konzeption eine Rolle. Auch hier ist es sinnvoll, das Baltikum, Polen und die Ukraine zusammenzuschließen – allerdings nicht, um zwischen West und Ost eine Brücke zu schaffen, sondern als Trutzgemeinschaft, um nach beiden Seiten umso besser abwehrbereit zu sein. Eine solche Politik findet Vorbilder in der Zwischenkriegszeit, als der Gründer der zweiten Polnischen Republik, Marschall Pilsudski, zeitweise (und erfolglos) die Unabhängigkeit der Ukraine förderte, um zwischen den Mühlsteinen Deutschland und Russland nicht allein zu sein.

„Die Dinge haben sich verändert“

Welchen Weg wird das östliche Mitteleuropa einschlagen? Extrapoliert man etwa die polnische Politik seit 1989 in die Zukunft, spricht vieles dafür, dass es die kooperative Variante wählen wird, und dass die Eskalationsreflexe, wie sie sich im Reparationsbeschluss vom September noch zeigten, zurückgehen werden. Langfristig haben Polen und Balten mit dem Beitritt zur EU einen Weg gewählt, der in Bezug auf Deutschland der Kooperation Priorität gibt. Auch in Bezug auf Russland haben sie damit die europäischen Konzepte des Ausgleichs übernommen. Die Krisen der jüngsten Vergangenheit sind entschärft worden. Im Konflikt um den Europäischen Verfassungsentwurf Ende 2003 hat der damalige polnische Ministerpräsident Miller zuletzt darauf verzichtet, die polnischen Privilegien bei der Stimmgewichtung im Rat auf Biegen und Brechen zu verteidigen. Sein Nachfolger Belka hat zusammen mit Bundeskanzler Schröder die Irritationen um die Preußische Treuhand in den Griff bekommen. Seit ein gemeinsames Gutachten der beiden Regierungen im Herbst 2004 festgestellt hat, deutsche Vertriebene hätten keinerlei Aussicht, vor Gericht Entschädigungen von Polen zu erfechten, ist der Panikpegel der polnischen Presse spürbar gesunken.

Auch in Bezug auf den Osten gibt es positive Zeichen. Polen arbeitet mit höchster Energie daran, zusammen mit der Ukraine einen Kooperationsraum nach dem offenen „jagiellonischen“ Muster zu schaffen. Die Intervention Präsident Kwasniewskis während der „Orangenen Revolution“ in Kiew zielte keineswegs darauf, eine abgekapselte zwischeneuropäische Trutzburg zu bauen, sondern sie war auf geradezu vorbildliche Weise mit deutscher und europäischer Politik abgestimmt. In Bezug auf Russland hat Kwasniewski der Versuchung widerstanden, nach dem Vorbild seiner Kollegen in Litauen und Estland, Adamkus und Rüütel, der Siegesfeier von Moskau am 9. Mai fernzubleiben, obwohl er von der polnischen Rechten dazu gedrängt wurde.

Auch im Verhältnis der Balten zu Russland gab es positive Signale. Umfragen zufolge hätten die meisten Litauer es lieber gesehen, wenn Präsident Adamkus die Einladung nach Moskau angenommen hätte, und in Estland haben beinahe alle Parteien Präsident Rüütel zum Besuch geraten. Das deutlichste Zeichen der Verständigung gab jedoch die lettische Präsidentin Vike-Freiberga. Obwohl sie die Okkupation ihres Landes durch Stalin schonungslos geißelte und das Wüten der Sowjets gar mit dem der Nazis verglich, entschloss sie sich zur Reise, um nicht aus lauter Angst vor „Appeasement“ Möglichkeiten des Ausgleichs zu versäumen. „Ich wollte unterstreichen, dass die Dinge sich verändert haben“, sagte sie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Das Moskau, das heute feiert, ist nicht die Hauptstadt der Sowjetunion, sondern die Hauptstadt der Russischen Föderation.“

Nizza oder Tod

So könnte also argumentiert werden, alles sei eigentlich auf gutem Wege. Wenn Deutschland nun noch ein wenig hinzulernte und beispielsweise auch über den engen Kreis der Fachleute hinaus glaubwürdig zur Kenntnis nähme, dass die vermeintliche „Vertreibernation“ Polen in Wahrheit zwischen 1939 und 1945 wie keine andere (außer der jüdischen Nation) unter der deutschen Versklavungs- und Vernichtungspolitik geblutet hat, dann müsste auch das neue Interesse der Deutschen am eigenen Kriegs- und Vertreibungsleid keinen Polen mehr beunruhigen.

Dennoch scheint eine solche optimistische Diagnose verfrüht. Die kooperative Außenpolitik der gegenwärtigen polnischen Regierung könnte mit den bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen jäh zu Ende gehen. Der „Bund der Demokratischen Linken“ Kwasniewskis droht wegen einer Serie von Skandalen zur Splitterpartei zu werden. Das Vakuum füllen vier schnell gewachsene Parteien zwischen rechtsliberal (Bürgerplattform), nationalkatholisch („Liga Polnischer Familien“ sowie „Recht und Gerechtigkeit“) und radikalpopulistisch („Selbstverteidigung“). Diese vier unterscheiden sich in vielem, ähneln sich aber in einem Punkt: Sie sind geprägt von jener mentalen Gefangenschaft in der osteuropäischen Vernichtungsgeschichte, die der Schriftsteller Juri Andruchowytsch als Kennzeichen der „unglücklichen Nationen“ beschrieben hat.

Bei den radikaleren Politikern dieses Spektrums, etwa bei Vater und Sohn Maciej und Roman Giertych sowie ihrer Partei „Liga Polnischer Familien“ (LPR), findet dabei die Idee der „Erbfeindschaft“ gegen Deutschland immer wieder Nahrung. Der Vater und Großvater der beiden, Jedrzej Giertych, war Verfasser eines viel beachteten Buches über diesen Gegensatz, und Enkelsohn Roman, der jetzige Star der LPR, hat geschrieben, Deutschland finde sich mit der Oder-Neiße-Grenze bis heute nicht ab. Bei der „Selbstverteidigung“ des rechts-links-Populisten Lepper und bei der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ der Zwillingsbrüder Kaczynski stehen die Dinge nicht viel anders. Lech Kaczynski, Bürgermeister von Warschau und gegenwärtig der demoskopisch stärkste unter den potenziellen Präsidentschaftskandidaten, hat jene antirussische Episode mit der Dudajew-Straße unterstützt, und seine städtischen Beamten haben für künftige Regressforderungen an Deutschland schon jetzt die komplette Liste aller Warschauer Sachschäden zwischen 1939 und 1945 zusammengestellt.

Diese Populisten könnten bei den bevorstehenden Wahlen 40 Prozent gewinnen. Es ist ein geringer Trost, dass die größte der neuen Rechtsparteien, die „Bürgerplattform“ (PO), insgesamt gemäßigt wirkt. Das Beispiel der Reparationsabstimmung vom Herbst, als die nationalkatholische Rechte mit ihrem antideutschen Antrag das polnische Parlament im Handstreich nahm, weil keiner wagte, sich ihrer Rhethorik entgegenzustellen, hat vorgeführt, wie schnell auch die „Bürgerplattform“ das Spiel der Radikalisierung mitspielen kann. Ein anderes Exempel für die fehlende Widerstandskraft der gemäßigten Rechten war ein Antrag der Nationalkatholiken zur Einführung der Todesstrafe. Die PO hat damals der Versuchung nicht widerstehen können, diesem Antrag zuzustimmen, obwohl er mit der Mitgliedschaft in der EU nicht vereinbar war. Das Regierungslager hat ihn schließlich mit vier Stimmen Mehrheit gerade noch blockieren können.

Alles deutet darauf hin, dass diese von Populisten gehetzte Rechte noch in diesem Jahr in Polen zur Macht gelangen wird. Europa wird dann mit einem Partner konfrontiert sein, der die EU entweder offen als antipolnisches, antikatholisches deutsch-französisches Komplott ablehnt, oder sie allenfalls instrumentell als Quelle von Transfergeld und internationalem Einfluss akzeptiert. Wie schwierig eine Nation, die von historischer Existenzangst geplagt wird, sich im fein tarierten Geflecht der EU handhaben lässt, hat Ende 2003 die Regierungskonferenz zum Europäischen Verfassungsvertrag bewiesen, als das polnische Beharren auf den Privilegien der Regelung von Nizza den Prozess beinahe hätte scheitern lassen. Der Fraktionschef der Bürgerplattform, Jan Rokita, der möglicherweise bald Ministerpräsident wird, hat damals mit dem Slogan „Nizza oder Tod“ die antieuropäische Stimmung geprägt.

Eskalierende Rhethorik gegen „historische Feinde“, Geringschätzung der EU, ein religiös inspiriertes Empfinden der eigenen nationalen Mission – das Weltbild der Kreise, die Polen vielleicht bald regieren, ist nicht vom Modell Rheinland inspiriert, sondern vom Modell Israel. Den Völkern zwischen Oder und Narwa steckt die Erfahrung des Krieges noch in den Knochen. Deutsch-russische Annäherungen sind (nicht ohne Grund nach ungezählten Teilungen seit 1772) ein unverwundener Albtraum, und wenn sie in europäischer Umrahmung stattfinden, wie am 18. März 2005 das Treffen zwischen Putin, Schröder, Chirac und dem Spanier Zapatero, so führt das nur dazu, das Misstrauen auch auf Europa auszuweiten. Gutes Zureden, wie unlängst, als der französische Außenminister Barnier auf einer Baltikumreise zu etwas milderen Tönen gegen Moskau riet, wird als „Beschwichtigung“ denunziert. Es passt zu dem Modell Israel, dass als der einzige akzeptierte Partner in dieser Welt der Schrecken die Vereinigten Staaten erscheinen.

So verständlich diese permanente Kampfbereitschaft im Lichte all der vergangenen Teilungen, Okkupationen und Massaker auch sein mag, für die Zukunft Ostmitteleuropas droht der Akzentwechsel hin zur Konfrontation zum Problem zu werden. Die von der neuen Rechten so gering geschätzte europäische Integration nämlich ist seit Jahrhunderten die erste Chance, die dieser Raum erhält, der verhängnisvollen Zwischenlage zwischen Russland und Deutschland zu entkommen. Wer Europa aus der Sorge heraus verschmäht, es könnte der verkappte Rahmen neuer deutscher Ansprüche oder gar einer neuen Verständigung mit Russland auf Kosten Mitteleuropas sein, der verkennt, dass für die EU immer noch gilt, was einmal für die NATO galt: Sie bindet Deutschland ein und macht den Rücken stark gegen Russland. Ihr Zweck ist ebenso „to keep Russia out“ wie „to keep Germany down“ (wenn auch das dritte Element „to keep America in“ neuerdings etwas wacklig geworden ist).

Der „cauchemar des coalitions“, der Albtraum vom Teilungspakt zwischen Deutschland und Russland, könnte damit auf lange Sicht für die Staaten der alten ostmitteleuropäischen Panzerebenen zur „self-fulfilling prophecy“ werden. Denn gerade, wenn es stimmen sollte, dass Deutschlands europäisches Musterschülertum ebenso wie die gegenwärtige russische Expansionspause historisch gesehen zwar erfreuliche, aber dennoch höchst labile Anomalien sind, wäre es verheerend, die Möglichkeit zu verkennen, die in solchen Anomalien enthalten ist. Wenn Polen und das Baltikum aus der Erwartung heraus, dass Geographie und Geschichte ohnehin jede Versöhnung aussichtslos machen, zur Logik des Konflikts zurückkehren sollten, wird sie das in genau jene „Zwischenlage“ zurückwerfen, der sie nach 1989 zum ersten Mal seit Jahrhunderten entkommen sind.

Polen und Litauer, Esten und Letten sollten deshalb nicht wie Israel darauf setzen, notfalls auch über Generationen hinweg gegen eine Welt von Feinden überleben zu können. Ihre Nachbarn, Deutschland und Russland, sind keine unterentwickelten Wüstendiktaturen, ihr Wunschverbündeter, das ferne Amerika, hat in Ostmitteleuropa kein Ölinteresse zu verteidigen wie im Nahen Osten. Europa ist trotz seiner Neigung zu „Appeasement“ im Osten und trotz der ungeliebten deutsch-französischen Dominanz in Brüssel die einzige Chance, die dieser Raum in Jahrhunderten gehabt hat. Es ist Zeit, die Sirenen abzuschalten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 26 - 35.

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