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01. Aug. 2004

Den Orient verwestlichen!

Plädoyer für eine selbstbewusste Nahost-Politik

Im Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus sind politische, wirtschaftliche und soziale
Reformen das wichtigste Mittel; doch muss dieser Dialog ohne die Fundamentalisten stattfinden,
mit denen keine Kompromisse möglich sind. Die Autorin plädiert für einen Dialog, der „an den
Autokraten vorbei“ geführt werden sollte und bei dem letztendlich „mehr Westen“ – sprich mehr
demokratische Partizipation der Gesellschaften – für den Nahen Osten gefragt sei.

Mit der „Broader Middle East Initiative“ unternehmen die USA und Europa eine neue Offensive für Reformen im Nahen und Mittleren Osten. Der Erfolg ist bestenfalls ungewiss, denn wesentliche Voraussetzungen bleiben weiterhin unberücksichtigt: Der Reformprozess ist das vielleicht wichtigste Mittel im Kampf gegen den islamischen Fundamentalismus. Doch der Dialog muss gänzlich ohne die Fundamentalisten stattfinden, denn mit totalitären Bewegungen wie dem radikalen Islamismus sind keine Kompromisse möglich.

Um die Rekrutierung des terroristischen Nachwuchses in den pakistanischen Madrassas oder den Wohlfahrtseinrichtungen der Fundamentalisten zu verhindern, müssen die jeweiligen Regierungen mit westlicher Hilfe eine „Sozialoffensive“ beginnen, ein enger und besser geknüpftes Sozialsystem etablieren und Ausbildungsstätten errichten, die kritisches Denken anstelle von religiöser Indoktrination vermitteln.

„Der Westen“ sollte sich dabei nicht kleinmütig verhalten: Reformen zielen letztendlich auf die Einführung eines „westlichen politischen Systems“, nämlich der Demokratie ab. Dass „die arabische Straße“ sich gegen ein „von außen übergestülptes Gesellschaftssystem“ wehre ist eine reine Schutzbehauptung arabischer Potentaten, die den Verlust der eigenen Macht befürchten. Die Demokratie als ursprünglich „abendländisches“ politisches Modell wurde ohne schädliche Auswirkungen auf die eigene Kultur längst schon von nichtwestlichen Gesellschaften übernommen – sie ist ohne Zweifel auch für die arabische Welt tauglich.

Große Teile der arabischen Bevölkerung wissen das und gehen in ihren Forderungen nach Reformen oft weiter als Europäer oder Amerikaner. Die westlichen „Reformpartner“ sollten auf diese Grundlage bauen und den Reformdialog zu einem großen Teil gegen die jeweiligen Regierungen und mit regierungsunabhängigen Organisationen führen.

Von den hoch gesteckten Zielen der amerikanischen Regierung und einem „Beginn der Freiheit von Marokko bis Afghanistan“ blieb nach dem G-8-Gipfel Anfang Juni 2004 wenig übrig. Zum Thema israelisch-palästinensischer Konflikt findet sich nur ein unverbindlicher Hinweis auf die Roadmap, an deren erster Stufe, einem Waffenstillstand, Israelis wie Palästinenser immer wieder scheitern. Im Übrigen bestanden die Europäer darauf, dass den betroffenen Staaten „kein bestimmtes Gesellschaftssystem aufgedrängt“ werden dürfe, denn „erfolgreiche Reformen sollten und können nicht von außen festgelegt werden.“

Die Ansätze der Europäer und der USA mögen verschieden sein, in einem Punkt sind sie sich einig: Politische, wirtschaftliche und soziale Reformen sind das beste Mittel gegen den islamistischen Fundamentalismus. Nur sollten sich die „Reformpartner“ auch auf eine ähnliche Interpretation der Wurzeln des Fundamentalismus einigen: Er ist keine Widerstandsbewegung gegen die amerikanische Nahost-Politik, sondern eine totalitäre Ideologie, die sich gegen die Grundlagen der Moderne richtet. Er kämpft vehement für die Abschaffung des Staates und der von Menschen gemachten Normen und Gesetze. Gott ist alleiniger Gesetzgeber, weltliches Recht gilt als lästerlich.

Der islamistische Totalitarismus verfolgt keine konkreten politischen Ziele. Er hegt eine apokalyptische Weltuntergangsvision. Aber keiner der so genannten „politischen Führer“ von Organisationen wie der palästinensischen Hamas oder der Al Khaïda trat bislang mit irgendeiner konkreten Idee – beispielsweise für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den meisten arabischen Staaten – hervor. Wie alle Totalitarismen propagiert der radikale Islamismus den Kampf eines „auserwählten Volkes“ (des Islam) gegen den Feind (Zionisten, Kreuzfahrer, die Renegaten im eigenen Lager), der mit der Vernichtung des Gegners enden muss. Ist nach dem „Endsieg“ der „Idealzustand“ wieder hergestellt und die islamische Welt in das goldene Zeitalter des Kalifats zurückversetzt, würde sich die Lösung aller Probleme von allein ergeben.

Jeder „Sieg der Moderne“, die Einführung liberaler Ideen, des „türkischen Modells“ einer demokratischen Gesellschaft, würde eine Niederlage für den Islamismus bedeuten. Dementsprechend findet in Irak nicht nur ein Kampf gegen die Besatzungsmacht USA statt, sondern vor allem gegen das Ansinnen, eine funktionierende, von Irakern selbst geführte Demokratie zu etablieren. Terrorattentate gegen Einrichtungen der UN, Menschenrechtsorganisationen oder die Rekruten für irakische Sicherheitsdienste sind keine Willkür, sondern kühle Planung. Sie sollen jeden entmutigen, der sich am Aufbau eines funktionierenden, nichtislamistischen Staatswesens beteiligt. Jedes Reformvorhaben wird zunächst größeren Widerstand der Islamisten hervorrufen – gleich, ob es von den Amerikanern oder den Europäern betrieben wird. 

„Der Westen“ sollte sich hier um eine unmissverständliche Position bemühen. Der (politische) Kampf gegen den totalitären Islamismus ist alles andere als islamfeindlich. Denn eine Bewegung, die keine Lösungsansätze für die eklatanten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Gegenwart bieten kann, die im Gegenteil vom Erhalt des Status quo – Armut, mangelnder Ausbildung und der Unfähigkeit der arabischen Potentaten – profitiert, schadet in erster Linie der islamischen Welt selbst.

Mit einer totalitären, „absoluten Wahrheit“ sind keine Kompromisse möglich. Reform kann es daher nicht mit ihnen, sondern nur gegen sie geben. Am wichtigsten wäre, den Islamisten die Deutungshoheit über den Islam, die sie für sich reklamieren, zu entziehen. Das aber kann nur in einem innerislamischen Dialog geschehen, der auf vielen Ebenen bereits stattfindet. „Es spricht nichts dagegen, westliche Werte mit der islamischen Kultur zu vereinen“, hielt der iranische Staatspräsident Mohammed Khatami dem Religionsführer Khamenei entgegen.

Ein Dialog „des Westens“ mit den Fundamentalisten ist nur sinnvoll, wenn sie den grundsätzlichen Kompromiss eingehen, die nationale Agenda vor die religiöse zu stellen und sich als politische Parteien am Staatswesen beteiligen. Trotzdem sollten die USA und die Europäer auch hier Druck auf die jeweiligen Regierungen ausüben. Islamistische Organisationen dürfen keine Aufgaben übernehmen, für die das Staatswesen zuständig ist: Es ist nicht akzeptabel, wenn Islamisten eigene bewaffnete Milizen unterhalten, wie die libanesische Hisbollah, die eine Präsenz regulärer libanesischer Truppen an der Grenze zu Israel verhindert. Auch das Monopol auf Wohlfahrt oder Ausbildung darf ihnen nicht überlassen werden. Islamistische Schulen, Sportklubs und sogar Kindergärten dienen nicht nur der terroristischen Nachwuchsförderung; sie sind Schutzschild für weltweite Spendenaktionen. Wer kann schon genau nachprüfen, ob in den Moscheen westlicher Städte für ein Waisenhaus in Gaza oder für die Milizen der Hamas gesammelt wird.

Es ist kurzsichtig, die Fundamentalisten militärisch zu bekämpfen und ihnen gleichzeitig die Mittel zur Nachwuchsförderung und obendrein einen gehörigen Sympathiebonus bei der Bevölkerung zu überlassen. Die „Polizeiaktion“ muss von einer „Sozialoffensive“ begleitet werden. Dass westliche Staaten für die finanzielle Förderung von Sozialprojekten auch Transparenz und Zuverlässigkeit fordern, sollte sich von selbst verstehen und ist alles andere als der von arabischen Autokraten monierte „Kulturimperialismus“. Leider haben westliche Reforminitiativen oft den fatalen Effekt, Wölfe zu Hütern der Schafe zu machen. Sowohl der „Barcelona-Prozess“ als auch die „Broader Middle East Initiative“ suchen die „Reformpartnerschaft“ ausgerechnet mit jenen (politischen) Eliten, die das geringste Interesse hegen, sich selbst zu entmannen. Deshalb wehren sie sich gegen eine „Verwestlichung“. Aber Korruption und Diktatur sind keine schützenswerten kulturellen Güter; und „Verwestlichung“ ist ein Begriff, der auf unklaren Vorstellungen beruht.

Die Türkei wagte das Experiment zuerst – und in der Tat verstand man die radikale Säkularisierung der türkischen Gesellschaft durch den Staatsgründer Kemal Atatürk in der arabischen Welt als Verrat an der eigenen Kultur, Tradition und Religion. Erst die Wahl einer religiösen Regierung und die Weigerung Ankaras, amerikanische Truppen durch türkisches Gebiet nach Irak marschieren zu lassen, rückte das Land nach Jahrzehnten eisigen Schweigens wieder ins Interesse der Region. Neuerdings berichten arabische Medien ausführlich über die politischen Entwicklungen in einem demokratischen und islamischen Land.

Und was das „fremde Gesellschaftssystem“ angeht: Der Koran kennt durchaus Methoden demokratischer Konsensbildung. Nach dem Prinzip der „Shura“ ist jede Regierung dazu verpflichtet, den „Willen des Volkes zu erfragen“. Nur wenige Suren des Korans beschäftigen sich mit Gesetzen, die das politische und gesellschaftliche Zusammenleben regeln. Weil viele davon reichlich kryptisch und heutigen Lebensumständen kaum mehr angepasst sind, kennt der Koran das Prinzip der „Interpretation“ oder des „individuellen Urteils“, das sich jeder Gläubige erlauben darf – doch wurden beide Prinzipien geradezu „gekidnappt“. Arabische Staatsführer bestehen darauf, als Einzige den „Willen der arabischen Straße“ in einem undurchschaubaren Prozess, ganz gewiss aber ohne freie Wahlen „lesen“ zu können. Und Theologen beanspruchen die alleinige Deutungshoheit über den „Willen Gottes“. Aber das muss nicht so bleiben. Marokkos König Mohammed VI. verabschiedete im Herbst 2003 eine Reihe von Gesetzen, die die Gleichstellung der Frauen betreiben. Er berief sich dabei „als direkter Nachfolger Mohammeds“ auf die Interpretationsspielräume im Koran. Die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi geht den gleichen Weg in Opposition zu den Hardlinern in Teheran.

Es ist reine Selbsttäuschung, wenn Europäer in Anlehnung an arabische Staatsführer eine „Verwestlichung“ ablehnen. Arabische Gesellschaften verstehen unter dem Begriff oft moralische Korruption, leeres Konsumverhalten, sexuelle Zügellosigkeit, hohe Scheidungsraten, Kinderlosigkeit, womöglich legale Eheschließungen für Homosexuelle. Für diese Klischees von westlicher Seite in scheinbarer Selbstkritik Verständnis zu zeigen, ist nicht nur verlogen –es zeugt auch von einem verqueren Verständnis von Demokratisierung. Historisch mögen sich demokratische Systeme aus dem Reifungsprozess einer Gesellschaft entwickelt haben: die politische Kultur erzeugt das System. Autokratische Regime aber unterdrücken erfahrungsgemäß jeden Ansatz einer Zivilgesellschaft. Unter diesen Umständen können echte Reformen wie die Gründung von Parteien, die Einführung von Wahlen, ein verlässliches Rechtssystem nur von außen eingefordert werden.

In diesem Sinn ist mehr Westen gefragt, nicht weniger. Dabei zieht die Etablierung demokratischer Institutionen keinesfalls automatisch eine „westliche Lebensweise“ nach sich. Innerhalb eines demokratischen Systems wird jede Gesellschaft im Konsens selbst entscheiden, was sie sich zumuten kann, und in welchem Tempo. Zudem ist das Modell Demokratie schon längst nicht mehr auf „westliche Gesellschaften“ beschränkt. Indien, Südkorea oder Japan haben mit Erfolg das „westliche“ System importiert und dabei ihre eigenen nationalen, religiösen und ethnischen Kulturen und Traditionen beibehalten. Dass sich Demokratie „entwestlicht“ hat, dass eine abendländische „Hardware“ gleichsam mit orientalischer „Software“ benutzt werden kann, haben auch große Teile der arabischen Welt längst begriffen.

Die wesentlichen Ansätze der „Broader Middle East Initiative“ beruhen auf den Analysen der „Arab Human Development Reports“ 2002 und 2003. Mit schonungsloser Offenheit sprechen die arabischen Autoren dieser UN-Analysen darin sämtliche Mangelerscheinungen der Region an. Die Abwesenheit demokratischer Institutionen, die Benachteiligung der Frauen, eine demographische Entwicklung, die Heerscharen unzufriedener Jugendlicher ohne die geringste Chance auf eine Eingliederung in die Arbeitswelt produziert; staatliche Medien, die als Verlautbarungsorgane für abstruse Verschwörungstheorien fungieren. Rechtssysteme, die eher auf Willkür, denn auf transparenten Strukturen beruhen; ein Schulsystem, das „Obrigkeitsdenken belohnt“, keinerlei kritisches Denken fördert und ein „knowledge gap“ zementiert.

Unzählige regierungsunabhängige Organisationen beschäftigen sich mit diesen Krankheiten. Es ist deshalb geradezu fahrlässig, arabische NGOs nicht in den Reformprozess einzubeziehen – selbst wenn man damit die äußerst niedrige Schwelle des Beleidigtseins arabischer Autokraten übertritt. Wenn Reformen erfolgreich sein sollen, muss der Dialog zunächst an den Autokraten vorbei geführt werden – und zwar in allen Bereichen, die in den arabischen Gesellschaften selbst als mangelhaft eingestuft werden. Die Bundesrepublik führt seit längerem einen Rechtsdialog mit der Volksrepublik China. Dabei geht es nicht einmal so sehr um den großen Komplex „Menschenrechte“ oder „Verfassungsrecht“, sondern um viel unverfänglichere Bereiche wie Medienrecht oder bürgerliches Recht, die gleichwohl ungeheuer wichtig für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sind.

Ein ähnlicher Dialog ist durchaus auch mit der arabischen Welt möglich. Es ist auch keine Bevormundung, mit Hilfe von Trainingsprogrammen für Journalisten Einfluss auf den Standard der Berichterstattung arabischer Medien zu nehmen. Es kann nicht im Interesse westlicher Staaten liegen, wenn die von nahöstlichen Medien verbreiteten Verschwörungstheorien auch Einzug in die Einwanderungsgesellschaften Europas halten. Ebenso förderungswürdig sind Austauschprogramme für Schüler, Studenten und Lehrer sowie NGOs, die sich der Gleichstellung der Frauen in der arabischen Welt widmen. Gleich, um welche der angesprochenen Mangelerscheinungen der arabischen Welt es sich handeln mag: es gibt in jedem Fall Partner für Reform. Das sollte spätestens beim Treffen wichtiger NGOs und führender Wirtschaftskräfte im ägyptischen Alexandria Mitte März 2004 deutlich geworden sein. Die nach dem Gipfel verabschiedete „Alexandria Declaration“ geht in ihren Forderungen nach Reform wesentlich weiter als der „Barcelona-Prozess“ oder die „Broader Middle East Initiative“. Große Teile der arabischen Welt nehmen „dem Westen“ nicht das Reformvorhaben übel. Sie finden es eher unverzeihlich, wenn diese Initiativen unter das Niveau der „hauseigenen Forderungen“ fallen. „Es ist keine westliche Überheblichkeit, Demokratie zu fordern“, glaubt der frühere Dekan der Fakultät für islamisches Recht an der Universität Katar, Add Al-Hamid Al-Ansari. „Arrogant ist es, uns die Fähigkeit zur Demokratie nicht zuzutrauen.“ Diese Arroganz sollte der Westen in der Tat ablegen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2004, S. 105-110

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