Demokratie? Vielleicht später
US-Außenpolitik im Sog des Nahost-Konflikts
Die amerikanische Außenpolitik im Nahen Osten steht vor den Scherben ihrer hehren Ansprüche. Die unvermeidliche weitere Präsenz von US-Truppen im Irak bindet Kräfte, die zur Lösung des Libanon-Konflikts und der Iran-Krise fehlen. Europäische Häme über das Scheitern der neokonservativen Strategie ist so lange fehl am Platz, wie keine besseren Konzepte zur Befriedung der Region vorliegen. Doch die sind nirgends in Sicht.
Der israelische Libanon-Feldzug markiert einen tiefen Einschnitt für die amerikanische Nahost-Politik. Mit ihrer seltsam euphemistischen Bemerkung kurz nach Ausbruch der Kampfhandlungen, die Feindseligkeiten zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz seien „Geburtsschmerzen eines neuen Nahen Ostens“, versuchte US-Außenministerin Condoleezza Rice zwar, die Kontinuität der von der Bush-Regierung eingeschlagenen Strategie rhetorisch zu behaupten, die Region durch das Aufbrechen diktatorischer Machtstrukturen grundlegend zu verändern. Doch sie konnte damit kaum überdecken, dass diese Strategie mit dem jüngsten kriegerischen Konflikt zwischen Israel und seinen Feinden bis auf Weiteres in eine Sackgasse geraten ist.
Angesichts der explosiven Situation, die durch die massive israelische Reaktion auf die fortgesetzten Angriffe der libanesischen Hisbollah eingetreten war, sah sich die amerikanische Diplomatie wieder auf die alten Muster der Stabilitätspolitik in der Region zurückgeworfen. Ohne das Stillhalten traditioneller arabischer Mächte wie Ägypten und Saudi-Arabien und ohne die zumindest indirekte Kooperation Syriens, das bis dato als eine der ersten Kandidaten für einen angestrebten Regime Change gegolten hatte, war die außer Kontrolle geratene Situation kurzfristig nicht zu entschärfen. Auch nach dem Ende der aktuellen Kampfhandlungen wird der Westen bei dem Versuch, einen vom Zerfall bedrohten Libanon einigermaßen stabil zu halten und die Hisbollah zumindest vorübergehend militärisch stillzustellen, auf das Wohlwollen Syriens angewiesen sein, von der Mithilfe anderer arabischer Mächte gar nicht zu reden. Sollte Syrien in eine Friedensordnung einbezogen werden, müssten ihm dazu bedeutende Zugeständnisse gemacht werden – es ist schwer denkbar, dass sich das Regime in Damaskus zur Einstellung seiner Unterstützung für die Hisbollah bewegen lässt, ohne dass ihm ein gewichtiger Einfluss auf die libanesischen Angelegenheiten garantiert wird. Schwer vorstellbar ist es andererseits aber auch, wie Syrien diesen Einfluss ohne enge Zusammenarbeit mit der „Partei Gottes“ ausüben sollte. Denn außerhalb der Schiiten-Miliz genießt die ehemalige Besatzungsmacht im Libanon zumeist kein Vertrauen – sie aus dem Land zu drängen, war ja das Ziel der Demokratiebewegung gewesen, die sich in der „Zedernrevolution“ artikuliert hat.
Syrien eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau und der Stabilisierung des Landes zuzumessen, käme somit einem Ausverkauf der libanesischen Demokratiebewegung gleich. (Das müsste inzwischen auch dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier klar geworden sein, der gegen Ende des Konflikts von Syrien plötzlich wieder wie von einem natürlichen strategischen Partner zu reden begann – als sei das Regime in Damaskus nicht einer der Hauptverursacher der blutigen Libanon-Krise gewesen.) Doch wie weit auch immer eine Wiederannäherung an Syrien gehen wird, Damaskus wird in den kommenden Jahren kaum befürchten müssen, dass die USA der Forderung nach Demokratisierung des syrischen Systems allzu großen Nachdruck verleihen können. Ähnliches hat sich in letzter Zeit schon im Verhältnis zu anderen arabischen Diktaturen und Halbdiktaturen abgezeichnet.
Ägypten etwa hielt auf amerikanischen Druck im vergangenen Jahr Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ab, zu denen erstmals mehrere Parteien und Kandidaten zugelassen waren, darunter, wenn auch nur in Form „unabhängiger“ Einzelkandidaten, die Muslimbruderschaft. Doch die Wahlen wurden durch Gewalt und Einschüchterung manipuliert, es folgte ihnen eine Repressionswelle gegen liberale Oppositionelle. Starker Gegenwind aus Washington ist angesichts der Zuspitzung der Lage im Libanon und in den Palästinensergebieten aber nicht zu verzeichnen, zu unersetzlich ist der diplomatische Einfluss des Mubarak-Regimes für die USA inzwischen wieder geworden.
Gelohnt hat sich die Libanon-Krise in dieser Hinsicht vor allem auch für den Iran. Mit seiner massiven Unterstützung von Hisbollah und Hamas hat das Teheraner Regime dem Westen gleichsam die Instrumente gezeigt – und ihm eine Ahnung davon vermittelt, welche destruktiven Kräfte es freisetzen könnte, wollte es wirklich aufs Ganze gehen und die Region in einen großen Krieg stürzen. Vorerst dürften die Mullahs und ihr apokalyptischer Einpeitscher Machmud Achmadinedschad daran aber nicht interessiert sein. Ihnen geht es vorrangig darum, dem Westen (wie auch den arabischen Regimen) Respekt einzuflößen, ihn zur Berücksichtigung iranischer Machtinteressen zu zwingen und ihn insbesondere im Streit um das iranische Nuklearprogramm zu mehr Zurückhaltung zu nötigen.
Den USA fehlen für die Durchsetzung ihrer Idee von einer Neugestaltung des Nahen Ostens auf der Basis eines demokratischen Erwachens schlicht die tragenden Akteure in der Region. Ihr zentrales Problem dabei ist natürlich der Irak. Zwar ist es den Amerikanern gelungen, dort eine demokratische Verfassung und eine frei gewählte Regierung zu installieren, was immerhin als modellhafter historischer Durchbruch für die Demokratie in der arabischen Welt verbucht werden könnte. Doch die katastrophale Sicherheitslage, die sich im vergangenen halben Jahr noch einmal dramatisch verschlechtert hat, macht jede Hoffnung auf ein positives Ausstrahlen dieser Errungenschaften in die Region zunichte.
Dabei haben sich die Probleme im Irak in eigenartiger Weise verlagert. Sie liegen nicht mehr in erster Linie im „Aufstand“ des „sunnitischen Dreiecks“ gegen die neue Ordnung, im islamistischen und baathistischen Terror gegen die amerikanische Besatzungsmacht und ihre „Kollaborateure“. Vielmehr ist das Land in eine Vorform des Bürgerkriegs übergegangen, in dem sich schiitische und sunnitische Milizen gegenseitig Gemetzel liefern, denen täglich bis zu 100 Iraker zum Opfer fallen. (Bemerkenswerterweise hat das Interesse der Weltöffentlichkeit an diesen grauenhaften Zuständen erheblich nachgelassen, seit die Hauptkampflinie nicht mehr zwischen dem irakischen „Widerstand“ und den Amerikanern verläuft.) Keine der Kampfparteien ist dabei an einem Rückzug der US-Truppen interessiert, bieten sie doch die einzige, letzte Gewähr dafür, dass der „kleine“ nicht in einen „großen“ Bürgerkrieg mit unabsehbaren Folgen übergeht. So musste Präsident Bush die US-Truppen Ende Juli um 9000 Mann aufstocken, obwohl er doch erst kurz zuvor die schrittweise Reduzierung der amerikanischen Präsenz und den verstärkten Übergang der Sicherheitskompetenzen auf die irakische Armee angekündigt hatte. Auch diese Entwicklung arbeitet im Übrigen dem Iran in die Hände, der Gewalt und Instabilität im Irak schürt, jedoch durchaus daran interessiert ist, dass die USA im Lande bleiben und in der Sisyphosarbeit des Herstellens eines Minimums an Stabilität gebunden bleiben – was jeden Gedanken an ein militärisches Vorgehen gegen den Iran ausschließt.
Die Verstrickung in den nicht enden wollenden irakischen Albtraum ist der Hauptfaktor, der den Aktionsradius der USA auch im Palästina- und Libanon-Konflikt drastisch einschränkt. Selbst wenn dies von der US-Regierung gewollt wäre, ein massives militärisches Engagement der Vereinigten Staaten zur Stabilisierung des Libanon scheidet in dieser Situation aus. Die USA mussten sich deshalb darauf verlassen, dass Israels Offensive gegen die Hisbollah schnell zu einer Zerschlagung der proiranischen, radikalislamischen Miliz führen würde. Als dies nicht gelang, verlegten sie sich darauf, der israelischen Offensive so lange wie möglich den Rücken freizuhalten, um die Hisbollah wenigstens so weit wie möglich zu schwächen.
Demokratie als Drohung
Auch wenn es an Lippenbekenntnissen zur demokratischen Erneuerung gerade auf arabischer Seite nicht fehlt: Keiner der real existierenden Akteure in der Region richtet sein politisches Handeln tatsächlich an der Demokratieentwicklung als dem konstitutiven Element eines neuen Machtgleichgewichts im Nahen Osten aus. Das gilt auch für Israel, engster Verbündeter der USA und einzige funktionierende Demokratie in der Region. Israel hatte deshalb auch keine Scheu, dem Libanon mit seinen Luftangriffen schwere materielle Schäden zuzufügen, selbst wenn dies den Fortgang des Demokratisierungsprozesses, der durch die „Zedernrevolution“ im vergangenen Jahr in Gang gekommen war, gefährden sollte, indem es die neue libanesische Regierung destabilisierte – eine Gefahr, auf die vor allem europäische Kommentatoren mit einigem Entsetzen hingewiesen hatten. Israels Regierung hat jedoch im Blick auf das libanesische Demokratieprojekt notgedrungen eine weit weniger romantische Sicht der Dinge als mancher westliche Geschichtsvisionär.
Ungeachtet der demokratischen Erneuerung im Libanon gingen die Aufrüstung der Hisbollah und ihre Raketenangriffe auf Israel in den vergangenen Jahren unvermindert weiter. Verbunden war dies mit einer bedrohlichen Zunahme der Präsenz iranischer Ausbilder und Geheimdienst-agenten in Israels Nachbarstaat. Weder Amerikaner noch Europäer, von den im Südlibanon stationierten, nur zur Beobachtung befugten UN-Truppen ganz zu schweigen, waren willens oder in der Lage, diese Entwicklung zu stoppen. Dass die libanesische Armee die schiitische Miliz entwaffnen könnte, ist schon deshalb außerhalb jeder Möglichkeit, weil diese ja selbst an der libanesischen Regierung beteiligt ist. Der libanesische Ministerpräsident Fuad Siniora leistete gar einen öffentlichen Offenbarungseid, als er beklagte, bei der Hisbollah handele es sich um einen „Staat im Staate“, und der Westen müsse seiner Regierung bei deren Entwaffnung zu Hilfe kommen. Ein ernsthaftes Vorgehen der libanesischen Zentralgewalt gegen die Hisbollah würde sogleich die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufbeschwören. Vor diesem Problem wird auch jede internationale Truppe stehen, die infolge der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats in den libanesischen Süden einrücken könnte. Freiwillig wird sich die Hisbollah, die sich damit brüsten kann, dem israelischen Angriff wochenlang standgehalten zu haben, gewiss nicht entwaffnen lassen. Einige ihrer Führer haben den libanesischen Politikern wegen deren passiver Haltung während der israelischen Offensive sogar schon eine „Abrechnung“ angekündigt.
Israel konnte, von seinen Sicherheitsinteressen ausgehend, im „demokratisierten“ Libanon nichts anderes erkennen als eine höchst instabile Situation, die von der Hisbollah und ihrem Hauptsponsor, dem Iran, genutzt wurde, um das Zedernland zum Aufmarschgebiet gegen den jüdischen Staat zu machen. Man darf sogar vermuten, dass Israel ein von Syrien kontrollierter Libanon lieber war als eine instabile Demokratie, die vom Iran schleichend unterwandert werden und am Ende womöglich gar in eine islamische Republik verwandelt werden könnte. Zwar ist Syrien Israels Erzfeind, doch stets ein vergleichsweise berechenbarer, und das syrische Regime gehört noch jenem Typus doppelzüngiger arabischer Diktaturen an, denen ihr materieller Vorteil im Zweifelsfall wichtiger ist als eine ideologische Vision.
Irans wachsender Einfluss auf die Geschicke der Region ist ein weiterer gewichtiger Grund dafür, dass die amerikanische Grand Strategy einer Verwandlung des Nahen Ostens in eine Gemeinschaft aufblühender Demokratien einstweilen nicht aufgehen kann. Denn der Iran bietet eine radikale, in sich geschlossene ideologische Alternative zu dieser Idee der Pazifizierung der Region durch ihre „Verwestlichung“ an – eine Alternative, die von den angeschlagenen arabischen Diktaturen und Halbdiktaturen, deren panarabischer Nationalismus diskreditiert ist, nicht mehr geliefert werden kann. Der Iran ist damit zum Zentrum einer radikalen Abwehrfront gegen jeden Kompromiss mit Israel geworden, das von ihr als „zionistisches Gebilde“ verunglimpft und als zu vernichtender Fremdkörper auf islamischer Erde klassifiziert wird. Das Fatale ist, dass diese Ablehnungsfront die Ansätze demokratischer Veränderungsprozesse zu nutzen weiß, um sich an entscheidenden Schnittstellen des von Condoleezza Rice beschworenen „neuen Nahen Ostens“ in Stellung zu bringen.
Die neueste Eskalation der Gewalt nahm ihren Anfang ausgerechnet mit der erfolgreichen Durchführung einer demokratischen Wahl. Der Erdrutschsieg der Hamas bei den ordnungsgemäß abgelaufenen palästinensischen Parlamentswahlen im Januar bedeutete das Ende der schon seit längerer Zeit brüchig gewordenen westlichen Illusion von der Road Map als dem Königsweg zu einem friedlichen Ausgleich zwischen Israel und den Palästinensern. Denn indem die herrschende Fatah ihre Macht verlor, ging dem Westen der Protagonist verloren, der zur Aufrechterhaltung dieser Illusion eines nahen Verhandlungsfriedens unerlässlich war – und dessen Macht von der Beibehaltung dieser Illusion abhing. Die Fatah und die von ihr dominierte palästinensische Dachorganisation PLO erkannte in allgemeinster Form das Existenzrecht Israels und die Zwei-Staaten-Lösung an, gab sich grundsätzlich verständigungsbereit und sicherte sich so die massiven Zuwendungen Europas und der Vereinigten Staaten zur Finanzierung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Die Anerkennung des jüdischen Staates war jedoch bei genauerem Hinsehen mit einer großen Einschränkung versehen, beharrten die Fatah- und die PLO-Führung doch auf dem uneingeschränkten Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge – eine Forderung, deren Realisierung die Verwandlung Israels in einen zweiten palästinensischen Staat bedeuten würde. Zudem haben die Führer der Fatah der Gewaltoption niemals wirklich entsagt. Ihre gewalttätigen Ableger hielten diese, nicht zuletzt durch Selbstmordattentate in Israel, stets offen. Doch immerhin: Mit der Fatah/PLO-Führung konnte sich der Westen – in diesem Fall vor allem die Europäer – in dem trügerischen Gefühl wiegen, über einen verlässlichen, weil im Prinzip kompromissfähigen Partner für die erträumte dauerhafte Friedenslösung zu verfügen.
Paradoxerweise brachte ausgerechnet eine Wahl, die als mustergültig demokratisch gelten konnte, zum Vorschein, dass die Palästinenser in Wahrheit über keine wirklich tragfähigen Strukturen institutionalisierter Staatlichkeit verfügen. Die Abwahl der Fatah war in erster Linie eine Quittung für die korrupte Gewaltherrschaft, die sie unter dem Deckmantel der Herausbildung solcher staatlicher Institutionen etabliert hatte. Dass es den palästinensischen Wählern vorrangig darum ging, das Joch des korrupten Fatah-Regimes abzuschütteln, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass sich eine große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung in Umfragen für Verhandlungen mit Israel aussprach und damit dem Dogma der soeben mit großer Mehrheit gewählten Hamas, Gespräche mit dem „zionistischen Feind“ seien nutzlos, entschieden widersprach.
Doch die Hoffnungen des Westens, die Hamas werde sich durch die Übernahme demokratischer Regierungsverantwortung notgedrungen politisch „zivilisieren“ und ließe sich so in die Bahnen der Realpolitik drängen, war auf Sand gebaut. Die zuweilen moderat klingenden Verlautbarungen der Hamas-Regierung waren für die Strategie der radikalislamistischen Organisation von Anfang an nicht maßgeblich. Diese wird von der politischen Führung der Hamas festgelegt, die in Damaskus residiert und enge Beziehungen zum Iran unterhält. So zerschellte an den Zuständen im Failing State Palästina auch die Spekulation mancher Verfechter der amerikanischen Strategie, dass die Demokratisierung der Region zu einer zumindest indirekten Einbindung der islamistischen Kräfte in die Gestaltung eines „neuen Nahen Ostens“ führen werde.
Die jüngste Eskalation des Nahost-Konflikts setzte paradoxerweise ausgerechnet mit dem israelischen Strategiewechsel ein, der die weitestgehende Räumung der besetzten palästinensischen Gebiete vorsieht. Wie der Libanon-Rückzug wurde auch der Abzug aus Gaza von den Radikalislamisten als Ausdruck der Schwäche und Verwundbarkeit Israels interpretiert. Doch das neue, noch von Ariel Scharon entworfene strategische Konzept, das die Aufgabe der besetzten Gebiete mit der Option einer einseitigen Festlegung der endgültigen Grenzen Israels verbindet und das – wie die Parlamentswahlen in Israel im März dieses Jahres zeigten – von einer breiten gesellschaftlichen Mitte unterstützt wird, setzt in eher noch stärkerem Maß als bisher auf die Kraft der militärischen Abschreckung. Die Palästinenser werden nach dieser Vorstellung sich selbst überlassen; Israel zementiert indessen seine Grenzen und behält sich vor, das Angriffspotenzial des Gegners von Zeit zu Zeit durch begrenzte militärische Schläge zu dezimieren, wann immer die Bedrohung von jenseits der Grenzen zu groß werden sollte.
Dieser Logik folgte die harte militärische Reaktion in Gaza und im Libanon. Dort ging es natürlich darum, das gewaltige Raketenpotenzial der Hisbollah zu zerstören und die entführten israelischen Soldaten freizubekommen. Doch Israel verfolgte in einem weiteren Sinne auch das Ziel, den Nimbus der Hisbollah in der arabischen Welt zu zertrümmern, die sich Israels freiwilligen Rückzug von 2000 als ihren Sieg an die Fahnen geheftet hatte. Diesen Eindruck wollte Israel durch einen schnellen militärischen Erfolg über die radikalislamistische Miliz korrigieren und ihre aggressiven Feinde damit entmutigen.
Doch als Resultat einer vierwöchigen verlustreichen Militäroffensive ist eher das Gegenteil eingetreten. Keines der Kriegsziele wurde erreicht: Die von der Hisbollah entführten israelischen Soldaten kamen nicht frei, das Raketenpotenzial der radikalislamischen Miliz im Südlibanon konnte nicht vollständig zerstört werden. Die Hisbollah steht jetzt erst recht als die einzige arabische Streitmacht da, die von Israel trotz des Einsatzes massivster militärischer Mittel nicht besiegt werden konnte. Damit hat das Prinzip der Abschreckung durch die Demonstration militärischer Übermacht, auf dem Israels Sicherheitskonzept beruht, erheblichen Schaden genommen. Auf einen lang andauernden asymmetrischen Kleinkrieg ist das israelische Abschreckungspotenzial offensichtlich nicht angelegt.
Nicht aufgegangen ist wohl auch das israelische Kalkül, ein massiver Angriff auf Gaza und den Libanon werde die dortigen Gesellschaften zur Entsolidarisierung mit Hamas und Hisbollah bewegen – weil sie auf diese Weise einsehen würden, dass die aggressive Haltung der radikalen Islamisten ihnen zu große Kosten verursachten. Nicht zuletzt in den Palästinensergebieten ist Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah zum neuen Idol aufgestiegen, die Hamas wird sich auf ihrem Weg der „Hisbollahisierung“ bestätigt fühlen, den sie nach dem Abzug aus Gaza gegangen war, als sie nach libanesischem Muster Raketen an Israels Grenze stationierte. Mit dem ursprünglich von der Regierung Ehud Olmert geplanten israelischen Abzug aus dem Westjordanland dürfte es im Übrigen in absehbarer Zeit nichts werden.
USA: Keine Strategie in Sicht
Für die Vereinigten Staaten bedeutet dies, dass sie die militärische Abschreckung der erstarkenden islamistischen Kräfte weniger als bisher Israel werden überlassen können. Der Sog, der den Westen insgesamt in eine direkte Beteiligung am Nahost-Konflikt hineinzieht, wird stärker. Doch die USA stehen nun ohne ein auch nur ansatzweise schlüssiges Konzept da, wie sie dem neuen brisanten Interessengemisch im Dauerkonflikt um Palästina und in anderen Konfliktherden des Nahen Ostens begegnen soll. Europäische Genugtuung oder gar Häme darüber, dass die Blütenträume der Neocons von einem demokratischen Dominoeffekt an der labyrinthischen Wirklichkeit in der Region zerschellten, sind unangebracht. Denn Europa hat selbst keinerlei Ansätze zu einer alternativen Strategie zu bieten.
Und einen Weg zurück in die vermeintlich besseren alten Zeiten vor dem Irak-Krieg gibt es ohnehin nicht. Mögen die neokonservativen Ideen, denen die Bush-Regierung in Teilen gefolgt ist, auch von einer utopischen Überschätzung amerikanischer Machtfülle und des Potenzials prowestlicher Kräfte in der arabischen Welt getrübt gewesen sein – die Diagnose, nach der eine dauerhafte Stabilität nur durch das Aufbrechen der tyrannischen Traditionen in der Region zu erreichen ist, bleibt richtig. Sind es doch die Diktaturen, deren erdrückende und lähmende Dominanz die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen verhindert, die allein auf lange Sicht eine stabile Demokratieentwicklung tragen können, und die stattdessen ständig jene destruktiven Kräfte reproduzieren, die im Nahen Osten derzeit die Oberhand zu gewinnen drohen.
Die Vereinigten Staaten bleiben auch in Zukunft die zentrale Ordnungsmacht in der Region; ungeachtet des wachsenden militanten Antiamerikanismus hat ihr Einfluss in den vergangenen Jahren sogar noch erheblich zugenommen. Doch die USA bleiben dabei in einem grundlegenden Dilemma befangen: einerseits Motor einer forcierten Modernisierung und damit in der Wahrnehmung der herrschenden Mächte im Nahen Osten eine subversive, „revolutionäre“ (und vor allem fremde) Kraft zu sein, die eine unkalkulierbare Veränderungsdynamik in Gang setzt, andererseits aber das Erbe der alten imperialen Ordnungsmächte übernommen zu haben und in dieser Rolle stets auf die Interessen der etablierten Regionalmächte Rücksicht nehmen, sie gegeneinander ausspielen und sie doch in eine Art ideelles Gesamtinteresse verwandeln zu müssen. Den gordischen Knoten dieser machtpolitischen Sonderstellung der Vereinigten Staaten konnte auch die „neokonservative“ Denkschule, die ganz auf das produktive Chaos der revolutionären Veränderungsdynamik setzte, nicht durchschlagen – abgesehen davon, dass die Bush-Regierung die radikalen Ideen dieser Denkrichtung niemals in lupenreiner Form umgesetzt hat. Doch es bietet sich auch kein alternatives Patentrezept an, das an die Stelle der neokonservativen Strategie treten könnte.
Francis Fukuyama hat in seinem Buch „America at the Crossroads“, auf deutsch irreführend „Scheitert Amerika?“ betitelt (vgl. IP 8/2006), drei mit dem Neokonservatismus konkurrierende Denkschulen benannt, die in der amerikanischen Politik auf Abruf stehen: „Neben ihm gibt es die ‚Realisten‘ in der Tradition Henry Kissingers, die die Macht anderer Regimes respektieren und deren gegebenenfalls undemokratische Innenpolitik ignorieren oder bagatellisieren; ferner die liberalen Internationalisten, die die Machtpolitik überhaupt überwinden wollen und sich für eine internationale Ordnung einsetzen, die auf dem Recht und auf Institutionen beruht; und schließlich gibt es die (...) amerikanischen Nationalisten, die eine enge, von Sicherheitserwägungen bestimmte Sicht der nationalen Interessen der USA vertreten, einem Multilateralismus misstrauen und in ihren extremeren Manifestationen zu einem Nativismus und Isolationismus neigen.“ Schon aus dieser knappen Beschreibung wird deutlich, dass keine dieser Konzeptionen in ihrer Reinform der komplexen globalen Wirklichkeit und insbesondere der verwickelten Gemengelage im Nahen Osten gerecht werden kann. Fukuyama selbst bietet als künftige Orientierung der US-Außenpolitik die vage Formel eines „realistischen Wilsonianismus“ an, der Elemente neokonservativer Demokratievisionen mit den Prämissen des liberalen Multilateralismus und einer nüchtern realistischen Sicht auf tatsächliche internationale Machtverhältnisse verbinden soll.
Einen ähnlich tastenden Eklektizismus praktiziert freilich schon die US-Außenpolitik der zweiten Amtsperiode George W. Bushs unter Federführung von Condoleezza Rice. Bezogen auf den Nahen Osten spricht alles dafür, dass die nächsten Jahre nicht die Zeit großer gestalterischer Visionen sein wird, sondern eine Periode mühsamer Eindämmung chaotischer, destruktiver Kräfte. Der heraufziehende „neue Nahe Osten“ wird, zumindest was sein blutiges Gewaltpotenzial betrifft, dem alten zunächst leider sehr ähnlich sein.
Dr. RICHARD HERZINGER, geb. 1955, ist Redakteur für Außenpolitik bei der Welt am Sonntag. 2001 erschien sein Buch „Republik ohne Mitte“.
Internationale Politik 9, September 2006, S. 84‑90