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01. Jan. 2005

Demokratie ist machbar, Herr Nachbar!

Wie Polens Präsident Kwasniewski in der Ukraine vermittelte

Der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski hat sich in der Ukraine als Vermittler bewährt. Schon bald könnten neue Herausforderungen auf ihn zukommen.

Schwer zu sagen, was am Ende den Ausschlag gab: die Herkunft seiner Mutter aus Litauen und der Familie seiner Frau aus Polens ehemaligen Ostgebieten? Oder neun Jahre Erfahrung und Kontakte als Staatsoberhaupt in Ostmitteleuropa? Welche Rolle spielten die frühe Karriere im sozialistischen Staat, das Erlebnis des Machtwechsels daheim und die persönliche Wende zu einem Staatsmann, der sein Land in Nato und EU führte? Polens Präsident Aleksander Kwasniewski hatte eine Schlüsselrolle in den 17 Tagen im November und Dezember 2004, die Ostmitteleuropa unumkehrbar verändert und die Entwicklung der Ukraine auf ein neues Gleis gelenkt haben.

Am Dienstag nach der ersten, der gefälschten Stichwahl vom 21. November erhält Kwasniewski zwei Anrufe. Erst ist sein ukrainischer Kollege Leonid Kutschma am Apparat. Wenig später Viktor Juschtschenko, der betrogene Wahlsieger. Beide sind erregt und äußern unabhängig voneinander die Sorge, die Lage in Kiew könne außer Kontrolle geraten. Ob Kwasniewski bereit sei zu helfen?

Eine ganze Reihe von Gründen prädestinieren Kwasniewski zum Vermittler. Russland ist Partei, Westeuropa nicht sonderlich interessiert an der Ukraine. Der Pole hingegen hat die Aussöhnung mit Kiew seit Jahren zu seinem persönlichen Anliegen gemacht, hat seinen Kollegen Leonid Kutschma und andere ukrainische Spitzenpolitiker unzählige Male getroffen und ihnen manche Tür in Westeuropa geöffnet. Er ist neben Kutschma, der seit 1994 amtiert, der dienstälteste Präsident in der Region, genießt Vertrauen, ist ein begnadeter Kommunikator, spricht mehrere Sprachen. Für die ukrainische Opposition ist Polens Freiheitsbewegung das große Vorbild. Kwasniewski war damals zwar auf der anderen Seite, amtierte als Jugend- und Sportminister der sozialistischen Regierung. Aber an Polens Rundem Tisch 1989 galt er als Mittler. Er spricht fließend Russisch und findet leicht Kontakt in der post- sowjetischen Welt.

Spielt womöglich auch die Familie eine Rolle? Kwasniewskis Mutter stammt aus Litauen, die Familie seiner Frau Jolanta aus den ehemals polnischen Gebieten, die heute zur Ukraine gehören. Er selbst ist 1954 in Bialogard, dem früheren deutschen Belgard (Pommern) geboren und dort aufgewachsen mit dem Gespür für die Schicksalsverknüpfung und die nachbarschaftliche Verantwortung, die sich aus den Grenzverschiebungen und den dunklen Kapiteln der deutsch-polnischen wie der polnisch-ukrainischen Geschichte ergeben.

Persönliche Kontakte sind Hauptwerkzeuge seiner Politik. Diese Verbindungen und Netzwerke pflegt er – unabhängig davon, ob ihm ein Partner politisch nahe steht oder nicht. Zu Johannes Rau baute er ein persönliches Vertrauensverhältnis auf, lange bevor der Bundespräsident wurde. Bei der CDU zu Rita Süssmuth, die er in den achtziger Jahren kennen lernte, als sie Kohls Familienministerin und er sozialistischer Jugend- und Sportminister war. Der Kontakt zahlte sich aus, als Süssmuth 1988 Bundestagspräsidentin wurde und es zehn Jahre blieb. Für seine Kontaktpflege tut Kwasniewski mehr als üblich, mitunter auch mehr, als die Diplomatie vorsieht. Als Bundespräsident Roman Herzog 1999 aus dem Amt schied, stürzte der Pole das deutsche Protokoll in Nöte, weil er mal schnell nach Berlin reiste, um dem geschätzten Kollegen „Danke“ zu sagen.

Auch Journalisten bezieht er in sein bewährtes Netzwerk ein. In Polen zum Beispiel Adam Michnik, den Chefredakteur der „Gazeta Wyborcza“, die während der Proteste in der Ukraine Sonderausgaben nach Kiew lieferte, in ukrainischer Sprache. Oder Adam Krzeminski, den Deutschland-Experten der „Polityka“. Den Autor, dem er 1995 nach seiner Wahl das erste Interview für eine ausländische Zeitung gab, empfängt Kwasniewski seither jedes Jahr ein, zwei Mal, um seine Botschaften unter die Deutschen zu bringen. Beim jüngsten Interview zu den Vorgängen in der Ukraine lud er ihn ein, in der Präsidentenmaschine mit zur nächsten Vermittlungsmission nach Kiew zu fliegen; er verwendete sich auch dafür, dass die ukrainische Botschaft in Warschau dem Deutschen am eigentlich arbeitsfreien Samstag rasch noch ein Visum ausstellte.

Dass sich die Ukraine unter der Oberfläche verändert, hat Kwasniewski schon länger gespürt. Vor zwei Jahren rief er Regierung und Opposition an einem Runden Tisch in Warschau zusammen, aber es kam nur die Opposition, Kutschma erschien erst zum Schluss und auch nur für ein Gespräch mit seinem Präsidenten-Kollegen. „Die lange Gesprächsverweigerung war ein Fehler“, sagt ein enger Vertrauter des polnischen Präsidenten, der bei den Verhandlungen dabei war.

Als nun die Bitte um Vermittlung aus Kiew kommt, zögert Kwasniewski keine Sekunde. Und ob er helfen will! Er betreibt ja längst eine Ostpolitik nach Brandt‘schem Muster: Wandel durch Annäherung. Oder um den Spontispruch über die Anarchie abzuwandeln: Demokratie ist machbar, Herr Nachbar! Es muss Polen doch angehen, was an seiner Ostgrenze passiert. Also schickt er Vertraute nach Kiew, erprobte Diplomaten. Vermitteln jedoch will Polen nicht allein, nicht ohne die EU, deren Mitglied es seit Mai ist. Jetzt bietet sich die Chance einer gemeinsamen Außenpolitik im Osten. Also wird telefoniert: mit den Niederländern, die die EU-Präsidentschaft innehaben, mit Schröder, Chirac, auch mit Bush. Und mit Javier Solana, Mister Außenpolitik der EU. Polens EU-Abgeordnete trommeln in Straßburg und Brüssel für eine aktive Ukraine-Politik. „Solana hat sofort verstanden, welche Chance sich bietet und dass er eingreifen muss“, erzählt der Gewährsmann im Warschauer Präsidentenpalais. Chirac wünscht „Bonne chance, Aleksander!“ Es klingt nicht enthusiastisch. Auch der Kanzler, der sich mit Kwasniewski seit Jahren duzt, ist zunächst nicht begeistert über die Bitte, er solle auf Wladimir Putin einwirken. Aber der Pole insistiert: Russland werde am Runden Tisch gebraucht, könne seine harte Position nicht durchhalten. In Kiew treffen die Vermittler am Freitag nach der Wahl auf eine absurde Situation. Als erstes sprechen sie mit Präsident Kutschma. Der behauptet zwar, die Macht innezuhaben, hat sich aber in eine Residenz 30 Kilometer vor der Hauptstadt verkrochen, in einem idyllisch verschneiten Park. „Wir sagten ihm: ‚Du musst Dich in Kiew zeigen.‘ Aber er weigerte sich.“ Sein Amtssitz, das Marynski-Palais, sei blockiert. Juschtschenko werde für Gespräche am Runden Tisch den Weg freigeben, entgegnet Kwasniewski. Um Kutschmas psychologische Starre zu lösen, wird er energisch: „Du kannst nicht vor der Verantwortung für Dein Volk davonlaufen.“

Um 15 Uhr sollen Gespräche mit Juschtschenko folgen, um 16 Uhr mit Janukowitsch, um 18 Uhr mit allen Beteiligten am Runden Tisch. Doch dann der Schock: Zehntausende Bergleute aus dem Donezk-Gebiet seien auf dem Weg, um die Orangen von der Straße zu vertreiben. Kwasniewski hat glücklicherweise die Handy-Nummer von Janukowitschs Stabschef Tihipko zur Hand, dem er schon manchen politischen Gefallen erwiesen hat. Er überzeugt ihn, dass das Aufeinandertreffen der beiden Gruppen in eine blutige Katastrophe münden könne. Bald darauf ist die Gegendemonstration der Kumpel abgesagt.

Der Besuch bei den gegnerischen Lagern fördert auch einen Kultur-Unterschied zu Tage: kalte Moderne in Janukowitschs Stabsquartier, Holz und rustikale Folklore bei den Juschtschenko-Leuten. Was Kwasniewskis Vertrauten im Rückblick am meisten erstaunt: Keine der ukrainischen Parteien besitzt einen Plan für die Lösung der Krise. Die Atmosphäre ist eiskalt, die Kontrahenten wollen nicht miteinander sprechen, sondern sich nur gegenseitig ihre Beschwerden vortragen. Janukowitsch und der russische Vertreter Gryslow wollen von Fälschungen nichts hören und insistieren, Janukowitsch sei der Sieger. Juschtschenko erwartet eine Aufklärung der Manipulationen und verlangt, man solle ihn zum Gewinner erklären.

Insbesondere der Russe Gryslow kommt immer wieder auf zwei Punkte zu sprechen. Manipulationen gebe es überall, siehe die amerikanische Präsidentenwahl. Und die Massendemonstrationen seien vom Ausland organisierte Provokationen. Dem ersten Einwand begegnete Kwasniewski mit dem Angebot, ins Schlusskommuniqué den Satz aufzunehmen: Man sei sich einig, dass Manipulationsvorwürfe überall aufgeklärt werden müssten, auch in den USA. „Dann war an diesem Punkt Ruhe.“ Und die Bilder der Proteste in Kiew kenne er aus Danzig, Prag und Leipzig. Selbst wenn sie anfangs gesteuert gewesen sein sollten, hätten sie inzwischen eine Dynamik erreicht, die sich nicht mehr stoppen lasse. Im Übrigen: Wenn Janukowitsch so sicher sei, die Wahl ehrlich gewonnen zu haben, brauche er auch eine Wiederholung nicht zu fürchten.

Nur mühsam gelingt die Verständigung auf drei Prinzipien, die am Ende alle unterschreiben: gerichtliche Überprüfung der Vorwürfe sowie Anerkennung der Entscheidung des Obersten Gerichts, keine Gewalt und Beginn eines politischen Dialogs. Die Rufe der Demonstranten bei der Abreise – „Polen, Polen“ und „Kwasniewski, Kwasniewski“ – hört der Pole gerührt, erinnert sich der Vertraute. „Aber uns war wichtig: Die Vermittlungsmission ist europäisch, nicht polnisch.“ Den EU-Partnern wird Bericht erstattet, der Niederländer Balkenende und Schröder übernehmen die Aufgabe, erneut mit Putin zu telefonieren. „Schröder kam langsam auf unsere Seite.“ Ob da auch Joschka Fischer mithalf?

Beim zweiten Gespräch am Mittwoch darauf war die Atmosphäre völlig verändert. Janukowitsch wirkte einsam, die anderen hatten ihn offensichtlich aufgegeben. Das Parlament hatte inzwischen die Wahl für gefälscht erklärt und Premier Janukowitsch das Misstrauen ausgesprochen – beides rechtlich nicht bindend, aber psychologisch wichtig. Parlamentspräsident Lytwin spielte eine Rolle, die den Vermittlern entgegenkam: Er hatte sich genau vorbereitet und erklärte, welche Beschlüsse das Parlament in welchen Zeiträumen fassen könne, um die verschiedenen Varianten der Wahlwiederholung zu ermöglichen.

Moskaus Abgesandte hingegen blieben bei ihrer unverändert harten Haltung und schadeten sich damit nur selbst. Denn mittlerweile begann sogar Präsident Kutschma sich an die europäisch-polnische Position anzunähern. Er klagte zwar über das zu hohe Tempo der Entwicklung. Aber Moskaus neues Ansinnen, komplett neue Wahlen abzuhalten, die es Kutschma und Janukowitsch erlaubt hätten, weitere Monate zu amtieren und einen neuen Kandidaten aufzubauen, fand am Runden Tisch keine breite Unterstützung. Letzte Solidaritätsgeste der Russen an ihren Kandidaten: Gryslow wollte die neue Übereinkunft erst abzeichnen, wenn Janukowitsch selbst unterschrieben habe. So geschah es.

Am Donnerstag flog Kutschma überraschend nach Moskau. „Putin, hilf!“ titelten Kwasniewski-freundliche polnische Blätter ironisch, von einem „Schlag ins Gesicht“ der Vermittler schrieben jene, die ihm weniger wohl gesonnen sind. Aber der Verzweiflungstrip nach Moskau änderte nichts mehr. Zwei Mal telefoniert Kwasniewski am Freitag ausgiebig mit Kutschma – zwischen seinen Pflichten als Gastgeber des südkoreanischen Präsidenten. Am Abend kam das Urteil des Obersten Gerichts der Ukraine: Die Stichwahl war gefälscht und muss wiederholt werden.

Kwasniewski wäre am liebsten gleich am Samstag wieder nach Kiew aufgebrochen, um den Sack zuzumachen. Aber die Ukrainer brauchen erstmal Zeit, um sich in der neuen, unverhofften Lage zurechtzufinden. Und um dem Parlament Gelegenheit zu geben, die Vorgabe – neue Stichwahl am 26. Dezember – in Gesetze zu gießen, samt Änderung der anfechtbarsten Wahlrechtsparagrafen. Das misslingt zunächst, immer noch wehren sich die alten Kräfte, kämpfen um jeden Zentimeter Macht. Abermals reisen die Vermittler am Montag nach Kiew, erinnern an die gemeinsamen Absprachen. Am Mittwoch, 8. Dezember, 17 Tage nach der gefälschten Wahl, bringt das Parlament mit einem umfangreichen Kompromisspaket die Wende unter Dach und Fach.

Kwasniewski interpretiert den Erfolg als Beleg einer gemeinsamen EU-Außenpolitik nach Osten. Weitere Betätigungsfelder warten, „zum Beispiel Moldawien, dessen widernatürliche Teilung nur Spannungen und Probleme schafft“. Oder Weißrussland? Da senkt der Präsident die Stimme zum Flüsterton. „Ja, oder Weißrussland. Aber das sage ich heute nur ganz leise.“

Im Herbst 2005 endet die zweite Amtszeit als Präsident, dann darf Kwasniewski nicht noch mal antreten. Für Ruhestand ist es viel zu früh, er wird ja im kommenden November erst 51. Aber für einen wie ihn wird Europa, wird die Welt gewiss Verwendung haben.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 96 - 99.

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