Defekte Demokratie
Buchkritik
Tschetschenien-Krieg, Verfolgung Oppositioneller, ungeklärte Morde und ein allgegenwärtiger Geheimdienst: Mit demokratischen und rechtsstaatlichen Formeln lässt sich Wladimir Putins Politik nur bedingt beschreiben. Wohin steuert Russland, wie kann der Westen reagieren? Fünf Neuerscheinungen suchen nach Antworten.
Als im November 2006 der ehemalige KGB-Mann Alexander Litwinenko in London vergiftet wurde, erlitt die russische Regierung im Westen Europas einen Ansehensverlust, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Seither steht sie im Verdacht, sie erteile Aufträge, Kritiker und Oppositionelle töten zu lassen. Denn kein einziger Mordfall ist bislang aufgeklärt worden. Alex Goldfarb, ein Dissident, der die Sowjetunion in den siebziger Jahren verlassen konnte und seit den späten neunziger Jahren die Bürgerrechtsstiftung des Multimilliardärs Boris Beresowski in den USA leitet, hat nun ein Buch über den Mord an Alexander Litwinenko geschrieben. Es trägt zur Aufklärung der Mordtat wenig bei, denn es wiederholt nur, was auch schon in den Zeitungen zu diesem Thema zu lesen war. Aber es gibt Auskunft über die Motive, die den Präsidenten und seine Umgebung dazu veranlassen, „Verräter“ aus dem Weg räumen zu lassen.
Goldfarbs Buch erzählt vom Konflikt zwischen Beresowski und Putin, in den auch Litwinenko verwickelt wurde. Es begann mit dem Krieg gegen Tschetschenien, den Beresowski im Auftrag Jelzins beenden half, indem er zwischen den Konfliktparteien vermittelte. Als Putin an die Macht gelangte, glaubten er und seine Gefolgsleute, die Macht nur behalten zu können, wenn sie die demokratischen Strukturen zerschlügen, die Gefahr des Terrors beschwörten und den Krieg gegen Tschetschenien wieder aufnähmen. Kurz: Putin machte die Tschetschenen für Anschläge verantwortlich, die sie nicht begangen hatten, um Krieg und Diktatur zu rechtfertigen. Und er erwartete von den Oligarchen, dass sie ihre Macht über die Medien dazu nutzen würden, die Regierung zu unterstützen. Denn Beresowskis Geld und Medienmacht hatten 1996 die Wiederwahl Boris Jelzins erst möglich gemacht. Nun aber verweigerten sich die Oligarchen dem Werben des Kremls. Sie kritisierten die Allmacht des Staates und den Krieg gegen Tschetschenien. Zur Lenkung der Staatsgeschäfte konnten sie ihre Medien freilich nicht mehr einsetzen. Denn der Ex-KGB-Mann Putin verstand Illoyalität als Verrat, und er bestrafte diesen Verrat, indem er die Medienmacht der Oligarchen brach. Beresowski musste seine Fernsehsender abtreten und floh ins Ausland.
Nun wurde Alexander Litwinenko zur Partei im Konflikt zwischen den Oligarchen und dem Kreml. Denn er war Mitte der neunziger Jahre damit beauftragt worden, Mordanschläge der Mafia auf Beresowski zu untersuchen. Er lernte Beresowski persönlich kennen, und als der Geheimdienst die Bemühungen des Oligarchen, einen Frieden mit den Tschetschenen auszuhandeln, zu verhindern versuchte, geriet er in einen Gewissenskonflikt. Litwinenko erfuhr, dass der Geheimdienst ein Bombenattentat auf ein Moskauer Wohnhaus im Jahr 1999 vorbereitet hatte, und er war bereit, dieses Wissen weiterzugeben. Im Jahr 2000 half ihm Alex Goldfarb, Russland zu verlassen und in England Asyl zu finden. Für Putin, so Goldfarb, sei es undenkbar gewesen, dass jemand die „Firma“ verließ und Verrat beging. Deshalb habe Litwinenko sterben müssen.
Man darf die politische Wirklichkeit nicht aus den Verfassungen herauslesen. Denn nirgendwo in Europa ist die Kluft zwischen den Postulaten der Verfassung und dem Leben so groß wie in Russland. Die postsowjetische Verfassung lässt keine demokratischen und rechtsstaatlichen Wünsche offen. Aber was nützt das schönste Gesetz, wenn es niemanden gibt, der sich ihm anvertrauen will. Margarete Mommsen und Angelika Nußberger führen das Versagen des demokratischen Verfassungsstaats auf die Unterentwicklung des Parteiensystems, die personalisierten Patronagesysteme in der Politik und die tief verwurzelte autoritäre politische Kultur zurück. In einem politischen System, in dem die Vorherrschaft der Exekutive über die Legislative ein Glaubenssatz ist, könne es keinen Rechtsstaat geben. Diese Kultur, die Streit verachtet und Harmonie und Unterwerfung belohnt, habe es Putin leicht gemacht, ein autoritäres politisches System zu errichten, das wenig Widerstand hervorrufe.
Putin sei es ohne große Mühe gelungen, den Föderationsrat und die Regionen zu entmachten, indem er die Gouverneure persönlich an sich gebunden habe. Er habe das Parlament entmachtet, indem er die Abgeordneten in regierungsnahe Parteien integriert und von der Macht abhängig gemacht habe. Seither sei Russland keine Demokratie mehr. 13 Journalisten seien bislang ermordet, dutzende auf andere Weise zum Schweigen gebracht worden. Russland sei auch kein Rechtsstaat mehr. Denn die Unabhängigkeit der Richter sei systematisch untergraben worden, Verfahren seien durch die Exekutive gelenkt und kritische Richter zum Schweigen gebracht worden. Ein Blick auf die spektakulären Prozesse gegen politische Gegner genüge, um diese Wahrheit zu begreifen. Das Putin-System funktioniere, weil sich die Unterworfenen nicht als Entrechtete sähen, sondern als Profiteure der Macht. Richter, Beamte und Abgeordnete wollten nicht unabhängig, sondern in der Nähe der Macht sein.
Wie lässt sich diese Wirklichkeit verändern? Wie kann die Verachtung des Rechts und der Gewaltenteilung überwunden werden? Die Antwort müsste wohl lauten: durch Selbstüberwindung des Homo sovieticus. Wie aber soll diese Selbstüberwindung gelingen? Darauf können Mommsen und Nußberger keine Antwort geben. Ähnlich äußert sich auch Dirk Sager in seinem Buch über das „Pulverfass Russland“. Er erzählt vom Aufstieg Putins und vom System Boris Jelzins, das diesen Aufstieg möglich machte. Von den Oligarchen und der schleichenden Entmachtung des Parlaments, der Diskreditierung des demokratischen Experiments durch Vetternwirtschaft und Willkür. Als Jelzin 1993 gegen das Parlament vorgegangen sei und wenig später seine Wiederwahl mit Hilfe der Oligarchen skrupellos ins Werk gesetzt habe, sei das demokratische Experiment gescheitert. Nur unter diesen Voraussetzungen habe ein Politiker vom Schlage Putins sich zum Herrn über Russland machen können.
Seither regiere Putin Russland mit Hilfe eines weit verzweigten Netzes von Klienten und Gefolgsleuten, die sich über alle demokratischen Spielregeln hinwegsetzten. Der Nationalismus sei ihre Integrationsideologie, die sie über die gleichgeschalteten Medien aggressiv verbreiteten. Von der Opposition erwartet Sager nichts: Sie sei zerstritten, machtlos und werde von den Medien ferngehalten. Einzig die Kommunisten dürften als Oppositionspartei noch in Erscheinung treten, weil ihre Anwesenheit die Rechtfertigung dafür sei, dass Putin und die Seinen regieren müssen. Wer sich mit den Beschreibungen der Tagespolitik zufriedengibt, wird Sagers Buch mit Gewinn lesen. Wer jedoch nach Erklärungen sucht, wird nichts erfahren, was nicht schon in den Tageszeitungen zu lesen war.
Von anderem Zuschnitt ist das Buch der Politikwissenschaftlerin Lilia Schewzowa, das eine ausgewogene und intelligente Analyse des gegenwärtigen politischen Systems in Russland bietet. Von der Transformationsforschung hält sie wenig. Denn wer von Transformation spreche, unterstelle, dass Veränderungen sich stets als Fortschrittsbewegungen ereigneten. Das Neue aber vollziehe sich auf dem Boden des Alten, vor allem dann, wenn Krisen bewältigt werden müssten. Nirgendwo zeige sich diese Wahrheit deutlicher als im gegenwärtigen Russland. Die Herrschaft gründe sich auf Patronage und Personennetze, Ämter würden verkauft und verwendet, um die Beamten und ihre Gefolgsleute durchzufüttern, Autorität und Vertrauen gründeten sich auf Personen, nicht auf Institutionen. Unter solchen Umständen habe es keine andere Herrschaftsform als die Autokratie geben können, die Putin verkörpere und legitimiere. Der extreme Zentralismus sei eine Folge des personalisierten Herrschaftssystems, weil Kontrolle nur möglich sei, wenn die letzten Entscheidungen in einer Hand lägen.
Nur sei diese Stärke zugleich die größte Schwäche des personalisierten Systems. Denn Putin sei von den korrupten Klienten und Gefolgsleuten, die das Land ausplünderten, abhängig. Man könnte auch sagen, dass die Ordnung nur simuliert ist, von der die Inszenierung der Macht spricht. Solange Menschen das Gefühl haben, sagt Schewzowa, dass Wohlstand auch ohne Demokratie erreichbar ist, werde es keinen Wandel geben. Erst wenn Menschen erfahren, dass die Bedrohung ihrer individuellen Freiheit von der politischen Verfassung ihrer Herrschaft unmittelbar abhängt, werden sie auch bereit sein, sich für demokratische Veränderungen zu öffnen. Die Vergangenheit ist keine Last, der man nicht entkommen kann. Sie eröffnet auch Möglichkeiten.
Von solch umsichtiger und kluger Analyse ist Alexander Rahrs Pamphlet über das neue Russland weit entfernt. Rahr analysiert nicht. Er behauptet. Man gewinnt den Eindruck, dass Rahr hier vor allem die offizielle Version des Kremls referiert. Die Thesen des Buches sind ebenso schlicht wie der Stil, in dem sie vorgetragen werden. Russland sei in den neunziger Jahren vom Westen gedemütigt, in seiner Ehre verletzt und ausgebeutet worden. Das russische Militär habe sich im eigenen Land nicht frei bewegen dürfen, Ausländer hätten Russland durch Kredite und Aufbauhilfen gefügig gemacht und seinen Einfluss auf die ehemaligen Sowjetrepubliken beschneiden wollen. Der Westen habe Absatzmärkte in Russland erschließen wollen, es aber stets abgelehnt, seine Märkte für russische Unternehmen zu öffnen. Dann sei Putin ins Spiel gekommen. Er habe die politische Ordnung in Russland stabilisiert, er habe die Oligarchen gezwungen, Steuern zu bezahlen und sie daran gehindert, auf legalem Weg das Volk auszuplündern, und er habe Russland seinen nationalen Stolz als Großmacht wiedergegeben.
Rahrs Putin ist nicht nur ein Ordnungshüter. Er ist auch ein Freund des Westens. Aber diese Freundschaft werde vom Westen nicht erwidert. Im Gegenteil: Russlands Streben nach militärischer und wirtschaftlicher Kooperation werde vom Westen abgewehrt. Putins Demonstrationen der Macht seien deshalb nichts weiter als Reaktionen eines „enttäuschten Europäers“ (S. 23). Allein Gerhard Schröder habe die Bedeutung Russlands und die Aufrichtigkeit seines Präsidenten klar erkannt.
Warum aber ist Putin bislang nur von Schröder und seinen Anhängern als Freund der westlichen Demokratie wahrgenommen worden? Auch darüber lässt Rahr Putin das letzte Wort sprechen. Weil der Westen selbstgerecht sei, als moralischer Lehrmeister auftrete und die eigenen demokratischen Defizite totschweige, sei er auch nicht imstande, die bisher erbrachten Leistungen unparteiisch zu bewerten.
Seit dem Amtsantritt Putins ist die freie Berichterstattung in Presse und Fernsehen eingeschränkt, sind die Medien gleichgeschaltet und die Opposition durch Wahlfälschungen und Manipulationen aus dem Parlament vertrieben worden. Dutzende von -kritischen Journalisten wurden erschossen, in Tschetschenien herrscht das Regiment des blanken Terrors. Von all dem ist bei Rahr nur am Rande die Rede.
Alex Goldfarb und Marina Litwinenko: Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste. Hamburg: Hoffmann & Campe 2007, 428 Seiten, 19,95 €
Margarete Mommsen und Angelika Nußberger: Das System Putin. München: C.H. Beck 2007, 216 Seiten, 12,95 €
Dirk Sager: Pulverfass Russland. Wohin steuert die Großmacht? Berlin: Rowohlt 2008, 272 Seiten, 19,90 €
Lilia Shevtsova: Lost in Transition. The Yeltsin and Putin Legacies. Washington/DC: Carnegie Endowment 2007, 388 Seiten, 19,95 $
Alexander Rahr: Russland gibt Gas. Die Rückkehr einer Weltmacht. München: Hanser 2008, 280 Seiten, 19,90 €
Prof. Dr. JÖRG BABEROWSKI, geb. 1961, ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2006 erschien von ihm „Ordnung durch Terror“ (Dietz).
Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 132 - 135