Internationale Presse

01. Jan. 2017

Das Land, wo die Reformen versanden

Italiens Medien über das gescheiterte Referendum und Renzis Rücktritt

„Italiens politische Zukunft bleibt ein Rätsel; ein Rätsel ohne greifbare Lösung“, schrieb die linksliberale Tageszeitung La Repub­blica am Tag nach der für Italiens Regierungschef Matteo Renzi unerwartet heftigen Niederlage beim Referendum. Fast 60 Prozent der Italiener hatten die Verfassungsreform, an die Renzi seine politische Zukunft geknüpft hatte, in einer Volksbefragung am 4. Dezember abgelehnt.

Offiziell ging es dabei um Fragen wie die, ob mit der Abschaffung des Zweikammersystems das Parlament effizienter und schneller arbeiten könne oder ob dadurch der Pfad in den Autoritarismus gebahnt würde. Doch in Wirklichkeit stimmten die Wähler über Matteo Renzi ab, meinte Marco Damilano in der linken Wochenzeitung l’Espresso (20. November): ob er als Regierungschef weitermachen sollte oder nicht.

Am Ende ging es auch Matteo Renzi um ein Vertrauensvotum – und das sollte sich als sein größter taktischer Fehler erweisen, wie Repubblica-Chefredakteur Mario Calabresi in seinem Leitartikel vom 6. Dezember schrieb. Der Premier habe sich offenbar an die erfolgreichen EU-Wahlen 2014 erinnert und dabei die Niederlagen der vergangenen Monate bei Regional- und Bürgermeisterwahlen vergessen. Und das, obwohl gerade die Siege der Fünf-Sterne-Bewegung in Rom und Turin ihn eines Besseren hätten belehren müssen. „Ganz abgesehen davon, dass heutzutage kein westlicher Regierungschef nach 1000 Tagen eine plebiszitäre Abstimmung überleben würde. Nicht einmal Angela Merkel.“

Jugend ohne Hoffnung

Neben Renzis überbordendem Ego warf der Politologe Ernesto Galli ­della Loggia dem Premier noch einen weiteren Fehler vor. Im konservativen Corriere della Sera (6. Dezember) wies er auf dessen „fast schon penetranten Optimismus“ hin, „dieses ständige: Wir schaffen das, wir sind auf einem guten Weg, gleich sind wir am Ziel“. Den vielen Italienern, „die noch immer mit der Krise zu kämpfen haben, denen es zum Teil miserabel geht, muss dieser Optimismus zutiefst zuwider gewesen sein und das Gefühl vermittelt haben, auf den Arm genommen zu werden“.

Besonders dürfte das für den Süden des Landes gelten. Der Schriftsteller Roberto Saviano wies in der Repubblica (6. Dezember) darauf hin, das dort nicht weniger als 80 Prozent der zwischen 18- und 34-Jährigen gegen Renzi gestimmt hätten. „Das hat aber nichts mit der sogenannten EU-Verdrossenheit zu tun, denn beim Brexit ist genau das Gegenteil geschehen: Dort hatten die jüngeren Generationen für ‚Remain‘ gestimmt.“ In Italien dagegen hätten bei der Jugend die Nein-Stimmen gewonnen, „und gleichzeitig hat die ganze Politik verloren. Denn es haben sich die Stimmen derjenigen durchgesetzt, die ohne Hoffnung in die Zukunft blicken.“

Nach dieser Lesart hätte somit auch die Front der Renzi-Gegner verloren, eine Front, die politisch nicht heterogener hätte sein können: hier der linke Flügel des Partito Democratico, da die Berlusconi-Getreuen, die Populisten der Lega Nord, die Rechtsextremen der Fratelli d’Italia und dazu noch die Fünf-Sterne-Bewegung.

Ein ungleicher „Haufen“, den nur die Abneigung gegen den Premier zusammenhielt, wie Renzi selbst einmal über seine Gegner feststellte. Und so räumte auch Valentino Parlato, einer der Doyens der linken Presse und Mitbegründer der kommunistischen Tageszeitung Il Manifesto in einem Interview mit La Repubblica (24. November) ein: „Kein Zweifel, Renzi ist intelligent, er ist aus dem Holz geschnitzt, aus dem politische Anführer sind. Ich habe ihn aber nie gemocht, und deswegen stimme ich gegen die Reform.“

Im Reformstau

Erleichtert stellte die Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore am Dienstag nach dem Referendum fest, dass die Märkte auf den Sieg der Nein-Stimmen nicht übernervös reagiert hätten. Chefredakteur Roberto Napoletano mahnte die Politik in seinem Leitartikel: „Dieses Land braucht keine technokratische Regierung. Was es benötigt, ist eine Regierung, die konkrete Antworten gibt: auf konkrete Probleme, auf die Krise des Mittelstands, auf die Angst der Menschen, abgehängt zu werden.“ Eine Regierung, die das Land wieder eine, die „gesellschaftliche Gräben überwindet und nicht vertieft“.

Probleme, über die Luciano Fontana, Chefredakteur des Corriere ­della Sera, am Tag vor dem Referen­dum (3. Dezember) geschrieben hatte: „Seit Monaten steht die Arbeit im Parlament auf Standby, lassen Wirtschaftsreformen auf sich warten und stehen die Banken am Rande des Abgrunds, ohne dass eine zukunfts­trächtige Lösung in Sicht ist.“

Zwar hatte sich der Corriere nicht prinzipiell gegen die Verfassungsreform ausgesprochen; er vertrat aber die Ansicht, dass andere Probleme dringlicher seien: Steuerentlastung, Entbürokratisierung, Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, der Bildung und der Forschung.

Das galt aus Fontanas Sicht besonders für die Lage auf dem Arbeitsmarkt und insbesondere der Jugend. Denn auch wenn die allgemeine Arbeitslosigkeit laut Statistischem Bundesamt Istat im dritten Quartal 2016 auf 11,6 Prozent und die der Jugendlichen auf 36,4 Prozent gesunken war, so habe „dieses Land bis jetzt seinen jungen Generationen nur eine prekäre Zukunft zu bieten“.

Auch die internationale Wirtschaftspresse verfolgte den Ausgang des italienischen Referendums mit Spannung. Schon Mitte August hatte das Wall Street Journal (15. August) die Abstimmung für bedeutsamer als die zum Brexit erklärt. Die Financial Times prophezeite, bei einem Sieg der Nein-Stimmen stünden acht italienische Banken vor dem Bankrott (26. November). Und ebenfalls in der FT äußerte Wolfgang Münchau (21. November) die Befürchtung, dass bei einer Niederlage Renzis auch ein Austritt Italiens aus der Euro-­Zone nicht mehr auszuschließen sei.

Comeback der Verschrotteten

In Italien selbst bemühte man beim Urteil über das Referendum die historische Perspektive. Am Tag nach der Abstimmung feierte Alessandro Sallusti, Chefredakteur der konservativen Tageszeitung Il Giornale das „Nein“ und brachte einen alten Bekannten wieder ins Spiel. „Heute endet auf unrühmliche Art und Weise die Geschichte eines Hochstaplers, der sich im Palazzo Chigi eingenistet hatte, ohne vom Volk gewählt worden zu sein.“ Das sei auch ein Schlussstrich unter einen „politischen Albtraum, bei dem Verrat und Intrigen auf der Tagesordnung standen. Und dass dieser Spuk nun zu Ende ist, verdanken wir einem Herrn, der in seinem 80. Lebensjahr steht und selbst zum Opfer dieser Intrigen wurde.“ Gemeint war Silvio Berlusconi.

Ursprünglich hatte Renzi seinen steilen Aufstieg im Partito Democratico auch und gerade seinem Versprechen verdankt, die altgediente Nomenklatura auf dem Schrotthaufen der Geschichte abzuladen – zu „rottamare“. Einige von ihren Mitgliedern verschwanden in der Tat von der Bildfläche, andere dagegen tummelten sich bald wieder auf der politischen Szene, unter ihnen Renzis Erzfeind Massimo D’Alema, der erste Premierminister Italiens, dessen politische Karriere noch in der alten PCI, Italiens Kommunistischer Partei, begonnen hatte.

„Unser Land wird schon seit mehreren Jahren von einem tiefen Unbehagen beherrscht, das nicht ausschließlich in der Wirtschaftskrise ihren Ursprung hat“, schrieb der Politologe Piero Ignazi am Tag des Referendums in der Repubblica. „Dieses Unbehagen zeigt sich immer wieder, explosionsartig und unerwartet. So reagierte man Anfang der neunziger Jahre vollkommen überrascht auf das Hineinplatzen der Lega Nord in die politische Szene – obgleich in Nord­italien schon seit geraumer Zeit ein tiefes Unbehagen zu spüren war.“ Anfang dieses Jahrzehnts seien es dann die „Grillini“ gewesen, die den politischen Betrieb aufgemischt und das fragile Gleichgewicht zwischen den Kräften gesprengt hätten.

Vor allem die Jugend wähle die Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos nicht aufgrund des Programme: „Sie wählen die Fünf Sterne einzig und allein, weil sie prinzipiell etwas gegen die politische Klasse haben. Und da kann kommen, wer will, das ändert sich nicht.“ Auch der Newcomer Renzi habe es nicht geschafft, die Jugend auf seine Seite zu bringen. Der alte Berlusconi-Trick, einerseits die politische Macht zu verkörpern und sich andererseits von ihr zu distanzieren, habe nicht mehr funktioniert.

Bloß keine Reformen

Und so scheint der Vormarsch der Fünf Sterne weiter unaufhaltsam, während sich das Mitte-rechts-Lager gerade zerfleischt. Matteo Salvini will sich zum Anführer der Mitte-Rechten krönen lassen, doch manchen Berlusconi-Getreuen ist er zu populistisch und antieuropäisch. Berlusconi selbst sieht das auch so, doch der bis vor ein paar Wochen noch als Hoffnungsträger geltende Stefano Parisi ist ihm wiederum zu moderat. Im Moment bleibe ihm also nichts Anderes übrig, als selber noch einmal als Kandidat anzutreten, kündigte der Cavalliere in einem Interview mit der römischen Zeitung Il Messaggero (27. November) an.

Vittorio Feltri, Chefredakteur der konservativen Tageszeitung Libero und ein in Italien vielgefragter Meinungsmacher, schrieb am Tag nach dem Referendum: „Italien bestätigt wieder einmal seine konservative und ängstliche Einstellung gegenüber jeglicher Art von Veränderung. Die Herren Protagonisten des Referendums sind felsenfest davon überzeugt, den jungen Premier aus dem Weg geräumt zu haben und bereiten sich auf vorgezogene Wahlen vor. Die wird es aber so schnell nicht geben, denn wir haben kein gültiges Wahlgesetz. Und bis es so weit sein wird, werden wir mit einer Regierung der Technokraten Vorlieb nehmen müssen – oder, was viel wahrscheinlicher ist, mit einem inciucio, also mit einer Koalition PD – Forza Italia.“

„Inciucio“, das ist schwer ins Deutsche übersetzbar. Die Bedeutungen reichen von „Machenschaft“ bis „Mauschelei“ und haben eines gemeinsam: Besonders verheißungsvoll klingen sie allesamt nicht.

Andrea Affaticati arbeitet als freie ­Journalistin u.a. für Il Foglio in Mailand.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 130-133

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