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01. Okt. 2006

Das Immer-und-ewig-Land

Grund für den indischen Pluralismus: Fast jeder Bürger gehört irgendeiner Minderheit an

Wie kann ein Gemeinwesen funktionieren, in dem die Mehrheit der Bevölkerung – inklusive des Premierministers – die Nationalsprache nicht versteht? Ganz einfach, meint Shashi Tharoor: Die meisten Inder gehören in ihrem Land einer Minderheit an. Die Essenz des indischen Pluralismus besagt, dass man mehrere Dinge zugleich sein kann.

Als Indien 1996 den 49. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft feierte, stand der damalige Premierminister HD Deve Gowda auf dem Festungswall von Delhis aus dem 16. Jahrhundert stammenden Roten Fort und hielt die traditionelle Ansprache zum Unabhängigkeitstag – in Hindi, Indiens „Nationalsprache“. Acht seiner Amtsvorgänger hatten vor ihm insgesamt 48-mal exakt dasselbe getan, aber dieses Mal war das Ungewöhnliche, dass Deve Gowda, ein Südinder aus dem Staat Karnataka, zur Nation in einer Sprache sprach, von der er selbst kein einziges Wort verstand. Tradition und Politik verlangten eine Rede in Hindi, also hielt er eine – mit Wörtern, die ihm in seiner einheimischen Kannada-Schrift aufgeschrieben worden waren, in der sie natürlich keinerlei Sinn ergaben.

Eine solche Episode ist andernorts fast unvorstellbar, aber sie spiegelt ganz wunderbar die Verschrobenheiten wider, die Indien überhaupt erst zu Indien machen. Nur in Indien kann ein ganzes Land von einem Mann regiert werden, der dessen „Nationalsprache“ nicht versteht; sowieso nur in Indien gibt es eine Nationalsprache, welche die halbe Bevölkerung nicht versteht; und zu guter Letzt konnte nur in Indien diese spezielle Lösung gefunden werden, um den Premierminister in die Lage zu versetzen, zu seinem Volk zu sprechen. Einer der besten Playback-Sänger des indischen Kinos, KJ Yesudas aus dem Bundesstaat Kerala, sang sich mit Liedtexten in die Hindi-Musikcharts, die für ihn in Malayalam-Schrift transskribiert worden waren; aber zu erleben, dass dieselbe Methode auch für die Ansprache des Ministerpräsidenten zum Unabhängigkeitstag angewandt wird, ist schon ein bemerkenswerter Beleg für den indischen Pluralismus. Tatsache ist ganz einfach, dass wir in Indien alle Minderheiten sind. Einen archetypischen Inder, den man neben einen archetypischen Engländer oder Franzosen stellen könnte, hat es noch nie gegeben. Ein typischer indischer Zugreisender, sagen wir ein Hindi sprechender männlicher Hindu aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh, könnte sich zwar der Illusion hingeben, er repräsentiere die „Mehrheitsgesellschaft“ – ein Ausdruck, der von den weniger Fleißigen unter unseren Journalisten sehr gern benutzt wird. Aber er tut es nicht. Als Hindu gehört er natürlich zu der Glaubensrichtung, der sich 82 Prozent der Bevölkerung zugehörig fühlen. Aber die Mehrheit des Landes spricht kein Hindi. Die Mehrheit kommt auch nicht aus Uttar Pradesh, obwohl man als Besucher schon auf diese Idee kommen könnte, wenn man dort hinreist. Aber wenn dieser Tourist, sagen wir mal, meinen Heimatstaat Kerala besuchte, wäre er vermutlich sehr überrascht angesichts der Feststellung, dass die Mehrheit dort nicht einmal männlich ist.

Und es kommt noch schlimmer: Unser archetypischer indischer Mann müsste sich nur unter die polyglotte, vielfarbige Menge auf einem von Indiens überfüllten größeren Bahnhöfen mischen – und mit vielfarbig meine ich hier nicht die Farben der Kleidung, sondern die der Haut – um rasch festzustellen, wie sehr er tatsächlich in der Minderheit ist. Selbst sein Hindutum garantiert ihm keine Mehrheitsposition, denn seine Kastenzugehörigkeit macht aus ihm automatisch eine Minderheit. Wenn er ein Brahmane ist – 90 Prozent seiner indischen Landsleute sind das nicht. Wenn er ein Yadav ist, also Angehöriger einer anderen „rückständigen Klasse“ – 85 Prozent seiner Landsleute sind das nicht. Und so weiter.

Schon Kaste und Sprache erschweren also die Identifizierung einer indischen Identität, aber richtig kompliziert wird die Sache durch die Ethnizität. In den meisten Fällen verrät ein indischer Name sofort, wo dessen Träger herkommt und welche Muttersprache er spricht; wenn wir uns vorstellen, verkünden wir damit gleichzeitig unsere Herkunft.

Obwohl es in unseren städtischen Eliten durchaus Mischehen gibt, sind die Inder immer noch hauptsächlich endogam, und einen Bengali kann man leicht von einem Punjabi unterscheiden. Die Unterschiede fallen oft mehr ins Auge als die Gemeinsamkeiten. Ein Brahmane aus Karnataka hat zwar als Hindu denselben Glauben wie ein Kurmi aus Bihar, aber was ihre Kleidung, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Erscheinung, ihre Essgewohnheiten oder in jüngster Zeit sogar ihre politischen Vorstellungen angeht, haben sie wenig miteinander gemein. Gleichzeitig wäre ein tamilischer Hindu wohl der Meinung, dass ihn mehr mit einem tamilischen Christen oder einem tamilischen Muslim verbindet als etwa mit einem Jat aus Haryana, der formal Hindu ist wie er. Was also macht Indien zur Nation? Was ist Indiens Identität?

Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die italienische Nation aus einem Mosaik von Sprengeln und Kleinstaaten geschaffen wurde, schrieb der italienische Nationalist Massimo Taparelli d’Azeglio: „Wir haben Italien erschaffen. Was wir nun tun müssen, ist, Italiener zu erschaffen.“ Es fällt schon auf, dass ein paar Jahrzehnte später kein indischer Nationalist der Versuchung nachgab, einen ähnlichen Gedanken zu formulieren. Der große Vordenker des modernen indischen Nationalismus, Jawaharlal Nehru, hätte auch nie gesagt, „wir haben Indien erschaffen, jetzt müssen wir Inder erschaffen“, denn er glaubte felsenfest, dass Indien und die Inder schon Jahrtausende lang existiert hatten, bevor er im 20. Jahrhundert ihre politischen Sehnsüchte artikulierte.

Dennoch war das Indien, das 1947 das Licht der Welt erblickte, auf sehr realistische Art und Weise eine Neuschöpfung: ein Staat, der zum ersten Mal die Bewohner von Ladakh und von den Lakkadiven zu Landsleuten machte; ein Staat, der zum ersten Mal Punjabis von Punjabis trennte; ein Staat, der von einem Bauern aus Kerala verlangte, sich einem brahmanischen Gelehrten, der in Delhi regierte, verpflichtet zu fühlen – auch das erstmals.

So wurde unter Gandhi und Nehru der indische Nationalismus in der Tat ein ganz spezielles Gewächs. Er basierte nicht auf irgendeinem konventionellen Grundraster nationaler Identität. Nicht auf Sprache, denn Indiens Verfassung erkennt 18 offizielle Sprachen an, und es gibt weitere 35 Sprachen, die von jeweils mehr als einer Million Inder gesprochen werden. Nicht auf Ethnizität, denn unter dem Begriff „Inder“ versammeln sich so viele unterschiedliche ethnische Typen, dass viele Inder mit Ausländern mehr gemein haben als mit anderen Indern – ethnisch verbindet indische Punjabis und Bengalis mehr mit Pakistanis und Bangladeschis als mit Poonawallahs oder Bewohnern von Bangalore. Nicht auf Religion, denn Indien ist ein säkularer pluralistischer Staat und beherbergt jede der Menschheit bekannte Religion, mit Ausnahme vielleicht des Shintoismus. Nicht auf der Geographie, denn die natürliche Geographie des Subkontinents – die Berge und die Meere – wurden durch die Teilung von 1947 zerrissen. Und nicht einmal auf dem Territorium, denn laut Gesetz kann jedermann, der einen im Indien vor der Teilung geborenen Großvater hat, auch außerhalb der heutigen Landesgrenzen, indischer Bürger werden. Der indische Nationalismus war daher immer der Nationalismus einer Idee.

Es ist die Idee eines Immer-und-ewig-Landes, hervorgegangen aus einer uralten Zivilisation, vereint durch eine gemeinsame Geschichte, aufrechterhalten durch eine pluralistische Demokratie. Indiens Demokratie zwingt seinen Bürgern keine enge Konformität auf. Die Essenz des indischen Pluralismus besagt, dass man mehrere Dinge zugleich sein kann, aber vor allem eines: Man kann gleichzeitig ein guter Muslim, ein guter Keralit und vor allem ein guter Inder sein. Die indische Idee ist das Gegenteil von dem, was Freudianer „den Narzissmus kleinerer Unterschiede“ nennen; in Indien feiern wir die Gemeinschaft größerer Unterschiede. Wenn Amerika ein Schmelztiegel ist, dann ist Indien ein thali, eine Auswahl üppiger Gerichte in verschiedenen Schüsseln.  Jedes schmeckt unterschiedlich und passt nicht notwendigerweise gut zu den anderen, aber alles gehört auf denselben Teller und ergänzt sich so, dass das Essen insgesamt eine befriedigende Sache wird.

Wie Rabindranath Tagore und kürzlich auch Amartya Sen betont haben, ist die Idee Indien die eines Landes, das viele willkommen heißt. Es ist die Idee, dass eine Nation Unterschiede der Kaste, des Glaubens, der Hautfarbe, Überzeugung, Kultur, Küche, Kleidung und Lebensgewohnheiten ertragen – und dennoch zu einem Konsens zusammenfinden kann. Dieser Konsens bezieht sich auf die simple Idee, dass man in einer Demokratie nicht unbedingt einer Meinung sein muss – außer über die Grundregel, wie man unterschiedlicher Meinung zu sein hat.

Hindutva und Geschichte

Dieser Konsens war in den letzten zwei Jahrzehnten bedroht durch den Aufstieg des Hindu-Nationalismus, der eine alternative Sichtweise der indischen Identität anbot, eine ausdrücklich enge und scharf umrissene Sichtweise (pro-Hindu und pro-Hindi, sektiererisch und antisäkular). Seine Anhänger machten ihre Idee des Indertums auf sehr spektakuläre Weise deutlich, indem sie 1992 eine unbenutzte Moschee aus dem 16. Jahrhundert, die Babri-Masjid-Moschee, zerstörten, und noch brutaler zehn Jahre später, als sie im Bundesstaat Gujarat an die 2000 Muslime ermordeten.

Für diese Leute hat ein unabhängiges, nach fast einem Jahrtausend der (zuerst muslimischen, dann britischen) Fremdherrschaft befreites und durch die Teilung einer beträchtlichen Zahl seiner muslimischen Bürger verlustig gegangenes Indien die Verpflichtung, eine Identität festzuschreiben, die triumphal und ausschließlich Hindu ist. Sie sind keine Fundamentalisten im eigentlichen Sinne, denn der Hinduismus ist in einzigartiger Weise eine Religion ohne fundamentale Dogmen; es gibt keinen hinduistischen Papst, keinen hinduistischen Sonntag, keine allein gültige hinduistische Heilige Schrift und schon gar nicht so etwas wie hinduistische Häresie. Diese Leute sind Chauvinisten, deren Hinduismus nicht in den ehrgeizigen philosophischen oder spirituellen Grundlagen dieser Religion verankert ist – und, anders als bei ihren islamischen Gegenübern, auch nicht in der Theologie ihres Glaubens, sondern eher in dessen Rolle als Quelle von Identität.

Sie streben nach einem Hinduismus als Unterscheidungsmerkmal, nicht als Doktrin. Für die meisten indischen Muslime stellt diese Identitätsdebatte ihren Platz in der indischen Gesellschaft ganz zentral in Frage. Nach der Unabhängigkeit haben indische Regierungen jahrzehntelang ihre Sicherheit in einem säkularen Staat garantiert, haben die Aufrechterhaltung des muslimischen Personenrechts, das sich vom Zivilrecht des Staates unterscheidet, gestattet und haben sogar Hadsch-Pilgerreisen nach Mekka finanziert. Drei indische Präsidenten waren Muslime, außerdem unzählige Kabinettsminister, Botschafter, Generäle und Richter. Bis in die neunziger Jahre lebten in Indien mehr Muslime als in Pakistan. Die Zerstörung der Moschee und die Morde in Gujarat waren ein abstoßender Verrat an dem Gesellschaftsvertrag, der die muslimische Gemeinschaft zum wichtigen Teil der pluralistischen Demokratie Indiens gemacht hatte.

Ironischerweise verhalten sich die Vertreter der „Hindutva“ absolut illoyal zu der Religion, für die sie eintreten, denn diese zeichnet sich nicht nur durch eine vielgestaltige Verkörperung von Toleranz aus, sondern sie ist vielleicht die einzige größere Religion der Welt, die nicht für sich in Anspruch nimmt, die einzig wahre Religion zu sein. Der Hinduismus sieht alle Formen der Frömmigkeit als gleichermaßen gültig an, und Religion ist eine intensive Privatangelegenheit, die in Beziehung steht zur Selbstverwirklichung des Individuums im Umgang mit Gott.

Indiens nationale Identität war lange auf den Slogan „Einheit in der Verschiedenheit“ gegründet. Den „Inder“ gibt es in derart unterschiedlichen Ausführungen, dass eine hellhäutige, Sari tragende, Italienisch sprechende Frau wie Sonia Gandhi für meine Großmutter in Kerala nicht fremdartiger ist als eine, die „weizenfarbene Haut“ hat, einen Salwar Kameez trägt und Urdu spricht. Unsere Nation absorbiert beide Typen; beide sind gleichermaßen „ausländisch“ für einige von uns, aber dennoch indisch für uns alle.

Derzeit haben die Hindu-Chauvinisten die Schlacht um Indiens Identität verloren. Als im Mai 2004 eine römisch-katholische Politikerin (Sonia Gandhi) Platz machte für einen Sikh (Manmohan Singh) als Premierminister, und dieser wiederum seinen Amtseid ablegte vor einem Muslim (Präsident Abdul Kalam) in einem Land mit 82 Prozent Hindus, faszinierte das die Weltöffentlichkeit. Indiens Gründerväter haben eine Verfassung für ihre Träume geschrieben; wir haben ihren Idealen Pässe verliehen. Dieser einzige, simple Augenblick eines politischen Machtwechsels hat viele Argumente über Indiens Identität zum Schweigen gebracht. Indien war sich selbst nie treuer als in diesem Moment, als es seine eigene Verschiedenheit feierte.

Dr. SHASHI THAROOR, geb. 1956 in London, studierte in Bombay, Kalkutta und Delhi Geschichte und Jura in den USA. Der Autor zahlreicher Bücher ist seit 2002 Untergeneralsekretär für Öffentlichkeitsarbeit der Vereinten Nationen. Er gilt als ein möglicher Nachfolger für UN-Generalsekretär Kofi Annan.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2006, S. 46‑50

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