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01. Juni 2008

Das Gestern im Heute

Buchkritik

Wer den Balkan verstehen will, muss seine Vergangenheit kennen: Neues zur Geschichte Südosteuropas

Die jungen Staaten auf dem Balkan haben es nicht leicht mit ihrer Geschichte. Der Weg zu einem distanzierten Umgang mit der nationalen Geschichte ist weit – kein unbekanntes Phänomen in Westeuropa. Drei Neuerscheinungen von Wissenschaftlern aus Ost und West zeigen, wie viel die Vergangenheit für die Gegenwart bedeutet.

Durch die Diskussion über das Kosovo steht Serbien derzeit wiede im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Passend dazu ist ein neues Buch erschienen, in dem die serbische Nationsbildung nachgezeichnet wird. Holm Sundhaussen, emeritierter Professor für südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin, führt zunächst in die für das kollektive Gedächtnis entscheidenden Ereignisse ein.

Damit kratzt er – wie könnte es anders sein – an den serbischen Nationalmythen. So ist der Ausgang der berühmten Schlacht auf dem Amselfeld nicht bekannt; viel entscheidender war eine spätere Schlacht am selben Ort. Das Osmanische Reich bedeutete aus Sicht der serbischen Bauern zunächst keine Fremdherrschaft, wie es die verbreitete Lesart will, sondern steuerliche Erleichterungen. Und die berüchtigten Hajducken waren keine nationalen Befreier, sondern antimoderne Sozialrebellen. Allein diese 30 Seiten sind eine lohnende Lektüre.

Sundhaussen erzählt vor allem Sozial- und Kulturgeschichte. Überzeugend erklärt er die Entwicklungsblockade Serbiens im 19. Jahrhundert. Erstens versäumte die Regierung notwendige Reformen. Sie vernachlässigte die Elementarbildung zugunsten der Elitenförderung und konservierte überholte Strukturen wie die kleinbäuerliche Landwirtschaft und die Zunftordnung. Zweitens traf das vorkapitalistische Bedarfsdeckungsprinzip in Serbien auf eine stark patriarchal geprägte Gesellschaftsordnung. Dieser Bund hielt „die ‚Selbstausbeutung‘ der Männer auf einem angenehm niedrigen Niveau“. Der Erste Weltkrieg setzte dem zaghaften industriellen Aufschwung ein Ende.

Sundhaussen führt souverän durch das erste, zweite und dritte Jugoslawien, dessen gewaltsamer Zerfall nun im Mittelpunkt jeder Geschichte Serbiens stehen muss. Den Zerfall erklärt Sundhaussen mit der Krise des Sozialismus, die vor allem eine ökonomische war. In einem multinationalen Staat mit regionalem Wohlstandsgefälle trug diese Krise entscheidend dazu bei, dass die Verteilungskämpfe zwischen den nationalen Eliten sich zuspitzten. In der Wirtschaftspolitik war zwischen den Alternativen „zurück zum Staat“ und „hin zur Marktwirtschaft“ kein Kompromiss mehr möglich. Ein friedliches Auseinandergehen verhinderten die Maximalforderungen kroatischer wie serbischer Politiker. Die Signale der internationalen Gemeinschaft, Jugoslawien erhalten zu wollen, trugen wenig zu einer Verhandlungslösung bei. Die spätere Gewalt entstand nicht aus einem Stadt-Land-Konflikt, sondern aus dem inneren Zwist der Städte heraus und war Produkt bewusst gesteuerter Politik.

Die Analyse ist nicht neu, aber zutreffend. Doch interessanter ist die kulturgeschichtliche Analyse der serbischen Entwicklung vor dem Krieg. Diese beschreibt Sundhaussen als „epistemologische Katastrophe“ und als Weg in die Selbstisolation. Die Elite erklärte die allgemeine Krise mit dem Diskurs von Serbien als dem ewigen Opfer. Den Anfang machten Vertreter der Orthodoxen Kirche und Schriftsteller, die von einer „Bedrohung der Serben“ sprachen. Ihr folgten Politiker, Intellektuelle, Journalisten, und zuletzt „ereignete sich das Volk“. Die serbische Selbstviktimisierung ging dabei der kroatischen voraus.

Dem „Verrat der Intellektuellen“ widmet Sundhaussen viel Aufmerksamkeit, und die Auseinandersetzung mit serbischen Kollegen kann man zwischen den Zeilen mitlesen – wenn man will. Die persönliche Note drängt sich nicht auf, drückt sich in leichtem Sarkasmus und meist wohltuend klarer Positionierung aus. Geschickt streut der Autor Zitate in die Erzählung ein. Und in der Tat, die Kosovo-Rhetorik muss man im Original gelesen haben: „Kosovo, eine Gruft, die Gruft, in der alles begraben ist. Die Auferstehung geht durch die Gruft hindurch, denn es gibt keine Auferstehung ohne Tod.“ Hier wird klar, was „Poetisierung“ der politischen Rede, der „Jargon der Eigentlichkeit“ in der serbischen Politik bedeutet.

Sundhaussen schreibt keine Geschichte „großer Männer“. Den Eliten aber misst er eine entscheidende Bedeutung zu. Die Geschichte Serbiens hätte glücklicher verlaufen können, hätte sich die Elite nur mehr der inneren Konsolidierung und nicht der Expansion verschrieben. Dahinter steht letztendlich eine Idee, die Idee Großserbiens. Diese über zwei Jahrhunderte hinweg zu verfolgen, ist eines der Verdienste des Buches. Konsequenterweise folgt ein Plädoyer für „Kleinserbien“. Mit dem Verlust Montenegros und des Kosovo ist Kleinserbien Realität. Bleibt zu hoffen, das diese (an-)erkannt wird. Dem Buch ist vor allem eines zu wünschen: eine Übersetzung ins Serbokroatische.

Pünktlich zur montenegrinischen Unabhängigkeit ist eine Geschichte des winzigen Adria-Staats erschienen. Die Australierin Elizabeth Roberts erzählt in „Realm of the Black Mountain“ Nationalgeschichte im „traditionellen“ Sinne: Sie beginnt mit der Eisenzeit, beschreibt die staatliche Tradition der „Montenegriner“ im Mittelalter und die geringe Macht des Osmanischen Reiches in dem Gebiet, das auf dem Berliner Kongress 1878 als unabhängig anerkannt wurde. Mit dem Verlust der Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg beginnt die „jugoslawische“ Phase, die bis zur Unabhängigkeit 2006 andauerte.

Roberts leistet eine Zusammenfassung des internationalen Forschungsstands. Für den Laien stellenweise zu ausführlich, bietet das Buch dem Experten wenig Neues, eignet sich mit umfassendem Index und Bibliografie jedoch hervorragend als Nachschlagewerk. Unverständlich ist allerdings, warum Roberts einige dunkle Flecken der montenegrinischen Geschichte vergisst. Im ersten Balkan-Krieg etwa verdoppelte nicht nur Serbien sein Gebiet, auch Montenegro vergrößerte sich erheblich. Mit der Kehrseite, dass die Integration der unterschiedlichen Bevölkerungsteile zunehmend schwierig wurde. Die Zwangstaufen im neuen Montenegro und die Massenauswanderung von Muslimen erwähnt Roberts nicht. Ebenso wenig wie die Menschenrechtsverletzungen in den neunziger Jahren: 1992 wurden bosnische Flüchtlinge in serbische Lager abgeschoben und dort ermordet. Im Grenzgebiet zu Bosnien und Serbien kam es wiederholt zu Übergriffen auf muslimische Dörfer von serbischen paramilitärischen Einheiten. Um darüber mehr zu erfahren, lohnt es sich, ergänzend dazu weitere Darstellungen wie etwa Serbo Rastoders „Twentieth Century Montenegro“ zu lesen.

Eine Ausstellung und Konferenz, die nicht stattfanden, sollte der Sammelband „Batak als bulgarischer Erinnerungsort“ begleiten. Für den Sommer 2007 in Sofia geplant, wurde die Ausstellung von den Behörden abgesagt. Die Boulevardpresse bezeichnete das Projekt als „Holocaustleugnung“, der bulgarische Präsident Georgi Parvanov sprach von einer „Provokation der Nationalgeschichte“. Die Berliner Organisatoren, die Historiker Martina Baleva und Ulf Brunnbauer, erhielten Morddrohungen.

Wie kam es zu der Aufregung? Das Historikerteam stellte sich die Frage, wie ein historisches Ereignis die bulgarische Identität und die Beziehungen zur muslimischen Minderheit geprägt hat. Im Zentrum steht ein Massaker im westbulgarischen Dorf Batak, genauer: die Mythen in Kunst und Wissenschaft um den Erinnerungsort. Gesichert ist nur, dass im Jahr 1876 die christliche Bevölkerung gegen die osmanische Obrigkeit rebellierte – vielleicht auch in Batak. Sicher ist auch, dass ein Massaker an den Christen Bataks stattfand – allerdings nicht angerichtet von osmanischen Truppen, sondern von muslimischen Banden aus umliegenden Dörfern.

In der Geschichtsschreibung hingegen ist Batak ein Symbol des Widerstands. Dort – so der Mythos – harrten Freiheitskämpfer in der Kirche aus, bis sie während einer Feuerpause von den „Türken“ niedergemetzelt wurden. 5000 Männer, Frauen und Kinder sollen gestorben sein. Der Sammelband geht diesen Erzählungen auf den Grund. Dabei ist sein Erkenntnisinteresse nicht, was genau damals geschah. Doch schon eine Aussage wie die, dass sich die Dorfbewohner damals nicht als Bulgaren empfanden und keineswegs für die bulgarische Nation kämpften, bricht Tabus. Dasselbe gilt für die Analyse, wie Nationalideologen Batak zum Musterbeispiel des Freiheitskampfs umdeuteten.

Den Prozess dieser Umdeutung erzählt der zweisprachige Sammelband spannend und anschaulich. So kennt jeder Bulgare das Gemälde „Das Massaker von Batak“ von Antoni Piotrowski. Ähnliche Berühmtheit erlangten die Fotografien, die mutmaßliche Überlebende zusammengedrängt in einer Kirche zeigen. Die Fotografien sind allerdings kein historisches Dokument, sondern wurden als Bildvorlage für den Maler Antoni Piotrowski inszeniert. Bis heute findet man sie in Schulbüchern.

Die herrschende Deutung von Batak, so die Autoren, belaste das Verhältnis der ethnischen Bulgaren zu nichtchristlichen bulgarischen Staatsbürgern. „Dort, wo viele unterschiedliche Ethnien und Religionen über Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger friedlich miteinander gelebt hatten, sollten sie sich – dank solcher stereotypischer Darstellungen – von nun her als jahrhundertealte Feinde erinnern.“ Zu einem distanzierten Blick auf die Vergangenheit ist es ein weiter Weg, der von jeder Nation selbst gegangen werden muss. Das Projekt ist ein Schritt in diese Richtung.

Holm Sundhaussen: Geschichte Serbiens: 19.–21. Jahrhundert. Wien: Böhlau 2007, 514 Seiten, 59,00 €

Elizabeth Roberts: Realm of the Black Mountain. A History of Montenegro. Ithaca, NY: Cornell University Press 2007, 556 Seiten, 37,50 $

Martina Baleva und Ulf Brunnbauer (Hrsg.): Batak als bulgarischer Erinnerungsort. Sofia: Iztok-Zapad 2007, 158 Seiten, 5,00 €

PAUL HOCKENOS, geb. 1963, ist Global Editor der IP und Autor von „Joschka Fischer and the Berlin Republic: An Alternative History of Postwar Germany“ (2007).

JENNI WINTERHAGEN, geb. 1979, promoviert an der Bremen International Graduate School of Social Sciences.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 132 - 135

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