Das dritte Jahr
Rückblick auf den utopischen Soll-Zustand einer Region
In mitteleuropäischen Dissidentenkreisen wurde der Zusammenbruch des Ostblocks und das, was dann kommen würde – McDonalds, Arbeitslosigkeit, Peep-Shows – recht prophetisch vorhergesehen. Nicht vorhersehbar waren: die rasende Geschwindigkeit der Entwicklung, die neuen Nationalismen, das Desinteresse an der Union – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Lage der EU dramatisch zuspitzt. Im dritten Jahr der Wiedervereinigung ist der Osten ebenso ratlos wie der Westen.
Unbescheidenerweise möchte ich mit einem Zitat aus dem eigenen Werk beginnen. Es ist 21 Jahre her, als ich, kurz vor Michail Gorbatschows Amtsantritt, im Frühjahr 1985 in einem Aufsatz für die Berliner Kulturzeitschrift Kursbuch die folgende Utopie skizzierte: „Stellen wir uns das Unwahrscheinliche vor: Ein verjüngtes Zentralkomitee in Moskau entscheidet sich für die Befreiung der Sowjetunion von ihren immer lästiger werdenden Verbündeten: ,Sehen Sie doch ein, Genossen‘, sagt der erst 33-jährige Erste Sekretär, dass diese kleinen osteuropäischen Staaten mit ihrer chaotischen ökonomischen Situation, mit ihren unbegreiflichen inneren Widersprüchen und schädlichen Ideologien nur unseren kommunistischen Aufbau erschweren. Viel richtiger wäre es meines Erachtens, diese Gesellschaften – unter Wahrung unserer militärischen Interessen – ihrer eigenen Entwicklungsdynamik zu überlassen. Vom propagandistischen Standpunkt aus würde uns dies nur Vorteile bringen. Einerseits könnten wir dann wieder als Befreier dieser Länder gefeiert werden, andererseits waren unsere Ideale, wie die Erfahrung zeigt, stets viel erfolgreicher in Gesellschaften, in denen nichts oder nur sehr wenig von ihnen verwirklicht worden ist.‘
Die Worte des Ersten Sekretärs werden einstimmig zum Gesetz erhoben, der Warschauer Vertrag wird gekündigt, die in der osteuropäischen Region stationierten sowjetischen Truppen werden mit Militärmusik und Blumen verabschiedet und die Länder des ehemaligen Ostblocks beginnen mit der Regelung ihrer eigenen Probleme. Durch freie Wahlen, an denen mehrere Parteien teilnehmen dürfen, schaffen sie ihre parlamentarischen Institutionen, sie öffnen die Grenzen und garantieren die Freiheitsrechte, einschließlich eines vernünftig beschränkten Privatbesitzes. Alles andere – das McDonalds-Netz, die Arbeitslosigkeit, die Peep-Shows – kommen von selbst.“
Vom Stillen Ozean bis Wladiwostok?
Diese damals eher ironisch als prophetisch gemeinte Vision, die sich sehr bald bewahrheitet hat, gehörte keineswegs zu meinem alleinigen geistigen Eigentum. An den Küchentischen der Budapester Dissidenten war die wachsende Krise des Systems bereits am Anfang der achtziger Jahre ein viel diskutiertes Thema. 1982 schilderte der Historiker Miklós Szabó in der illegalen Zeitschrift der Opposition die Ursachen eines möglichen Zerfalls der Sowjetunion und György Konrád wagte sich in seiner „Antipolitik“ 1983 mit seiner Europa-Vision noch weiter voran: „Ich halte nicht nur Budapest, Pressburg, Prag, Krakau, Warschau und Berlin für Europa. Doch wenn ich schon Leningrad und sogar Moskau zu Europa rechne, warum sollte ich dann eigentlich bei Wladiwostok stehen bleiben? Es handelt sich um Eurasien. Dazwischen gibt es keine Staatsgrenze. Man kann auch im Maßstab Eurasiens denken. Das ist eine Perspektive, die besser zur zweiten Jahrtausendwende passt als die Perspektive des kleinen Westeuropas. Ich möchte mich für den Sohn eines utopischen Europas halten, der mit seinen Armen den Stillen Ozean sowohl bei San Francisco als auch bei Wladiwostok erreicht und das Umarmte in Frieden hält.“
Einige Jahre später, im Frühjahr 1989, gab ein ungarischer Rechtswissenschaftler auf die Frage eines Journalisten, was in der damals vorbereiteten neuen Verfassung aus der alten von 1949 erhalten bleibe, die knappe Antwort: „Die Hauptstadt des Landes ist Budapest.“ In den Flitterwochen Ungarns mit der jungen Demokratie war Europa ein Schlüsselbegriff. Die Erwähnung des Kontinents in den Medien erreichte ein Ausmaß, das den Autor Peter Esterházy auf die Idee brachte, dass jeder, der das Wort „Europa“ in den Mund nehme, automatisch einen Forint in die Staatskasse einzahlen solle (was angesichts des ungarischen Schuldenbergs und der beginnenden Rezession allerdings auch keine wirkliche Sanierung herbeigeführt hätte). Die Erwartungen waren wohlgemeint, aber naiv. Von der Übernahme der europäischen Normen von Politik und Moral erwartete man sich einen durchschlagenden ökonomischen und sozialen Aufstieg – eine Demokratie mit allen Vorteilen, jedoch ohne die Nachteile der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Selbstverständlich verlief die Entwicklung viel schwieriger. Allein das Klopfen am Tor der EU dauerte 15 Jahre lang.
Nun ist es so weit: Wir schreiben das dritte Jahr unserer neuen europäischen Zeitrechnung. Die Wende oder, wie sie bei uns genannt wird, der Systemwechsel, forderte enorme Anstrengungen vom Zehn-Millionen-Einwohner-Land Ungarn; die Marktwirtschaft erwies sich, milde gesagt, keineswegs als automatisch sozial, die Vergangenheit holte uns auf Schritt und Tritt in Gestalt von falschen Nostalgien und menschenverachtenden Ideologien ein. Ohnehin erging es der Generation der ungarischen Andersdenkenden gewissermaßen ähnlich wie Christoph Columbus, der nach Indien suchte und in Amerika landete. Die Republik errang ihre nationale Unabhängigkeit ausgerechnet in einer Zeit, da globale Kräfte den Spielraum einzelner Länder immer mehr einengten und die alten Konfrontationen durch neuere, vielleicht noch gefährlichere „ersetzt“ wurden. Große Visionen sind zu vorsichtiger Agenda zusammengeschrumpft, die Rezession bedroht ganze soziale Schichten und Bereiche des öffentlichen Lebens. Gesundheitswesen und Kultur etwa degradieren allmählich zum Sozialfall. Es ist schlimm genug. Noch schlimmer erscheint mir allerdings die Tatsache, dass uns mittlerweile etwas abhanden gekommen ist, was wir damals gegenüber den westlichen „Realpolitikern“ eindeutig besaßen: die historische Vorstellungskraft. Es sieht so aus, dass wir zu Zeiten, als es unsere Redefreiheit offiziell gar nicht gab, freier und mutiger dachten als heute, wo zum freien Reden kein Mut mehr gehört. Und dies haben wir gemeinsam mit unserem wieder gewonnenen Kontinent.
Zur Entschuldigung sei gesagt, dass man am Ende der sowjetischen Ära manche Phänomene gar nicht vorausahnen konnte. Erstens war niemand in der Lage, sich das wahnwitzige Tempo der Veränderungen vorzustellen, zweitens unterschätzten selbst viele Ökonomen die Schwierigkeiten des Übergangs zur Marktwirtschaft, und drittens rechnete man nicht mit der Wiedergeburt der osteuropäischen Nationalismen in dem heutigen Ausmaß. Auf der Landkarte der achtziger Jahre fehlten die folgenden europäischen Staaten: Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, Bosnien, Deutschland (als einheitliches Land), Estland, Georgien, Kroatien, Lettland, Litauen, Moldau, Montenegro, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ukraine.
Desintegration mit apokalyptischen Zügen
Einerseits war die Bildung dieser modernen Nationalstaaten das Allernatürlichste nach so vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten der Fremdbestimmung. Geschulte Marxisten hätten diesen Prozess – wie seinerzeit die deutsche Reichsgründung – zähneknirschend als „objektiv fortschrittlich“ bezeichnet. Andererseits bedeutete der Zerfall des Riesenreichs eine enorme Desintegration, die mitunter apokalyptische Züge trug, besonders in den Fällen mancher Völkerschaften oder Minderheiten, denen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert worden war. Wer – außer ein paar Historikern oder besonders gewissenhaften Journalisten – hatte im Jahr 1985 von den Tschetschenen, Gagausen oder gar den Kosovaren je gehört?
Vieles, was wir nicht vorausahnen konnten, gehört heute zu der für uns natürlich erscheinenden, für den Westen jedoch absurd anmutenden Realität. Während zwischen den EU-Staaten die Grenz- und Zollbeamten langsam zur Arbeitslosigkeit verurteilt werden, sind seit 1989 ungefähr 40 neue zwischenstaatliche Grenzen entstanden; zu Zeiten des Euro-Triumphs wurden mehr als 20 neue nationale Währungen, von der estnischen bis zur slowakischen Krone eingeführt, und während die NATO, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, die Straffung und Vereinheitlichung der Verteidigungssysteme des Kontinents betreibt, werden in Europas Osten neue nationale Armeen gegründet. Die Tatsache, dass etwa moldawische oder ukrainische Papiergeldscheine inzwischen in Paris gedruckt werden, unterstreicht nur die Absurdität des Gesamtprozesses und lässt die Kluft zwischen Ost und West drastisch sichtbar werden.
Ohnehin wirken die Veränderungen der neunziger Jahre aus der Sicht der Achtziger wie reine Science Fiction. Um nur zwei Beispiele der Absurdität des historischen Prozesses zu nennen: Wer hätte je gedacht, dass Erich Honecker einmal im Lande Augusto Pinochets politisches Asyl erbitten und finden würde, während dieser wegen der Grausamkeiten seines Regimes einige Jahre später als „englischer Patient“ in London festgehalten werden würde? Oder: Welche fiebrige Phantasie hätte sich eine Konstellation ausmalen können, in der die Streitkräfte der USA zum Schutz der Albaner im Kosovo irrtümlicherweise ausgerechnet die chinesische Botschaft in Belgrad bombardieren würden?
Keine Frage: Unser Weltbild von gestern ist weitgehend zerstört. Die von György Konrád, Milan Kundera, Karl Schlögel und anderen erträumte Region Mitteleuropa ist nicht zustande gekommen. Von den ökonomischen Sachzwängen eingeholt, driften die neuen Staaten immer mehr auseinander. Die eine Hälfte von ihnen unternimmt enorme Anstrengungen, um die Aufnahmeprüfung in die Europäische Union zu bestehen, die andere klammert sich, ebenso verkrampft, an ihre gestörte nationale Identität, die sie nun auf Kosten der kleineren Länder und der Minderheiten zu behaupten sucht. Aber selbst in dem EU-konformen Teil des ehemaligen Ostblocks gewinnen zunehmend antieuropäische Strömungen an Boden. Die sprungbereite Enttäuschung der Gesellschaft schafft neue Feindbilder, vor allem diejenigen der Globalisierung und der Multikulturalität. Sowohl links- als auch rechtsradikale Außenseiter der politischen Szene profitieren davon und kommen immer mehr aus ihrer Isolierung heraus.
Sie operieren mit dem mentalitätsbedingten Widerstand erheblicher Teile der Bevölkerung gegen jede Neuerung; sie nutzen die Schwäche der demokratischen Institutionen und die inneren Konflikte der neuen Eliten aus. Wenn ein Bürgermeister in Nordböhmen eine Mauer zwischen den tschechischen und den Roma-Einwohnern seiner Kleinstadt errichtet, dann lässt sich dieses Problem im Rahmen der Political Correctness nicht mehr lösen: Es ist ein realer sozialer Konflikt, dessen erfolgreiche Lösung lebensnotwendig für die Demokratie ist, der aber in dieser Form von den Extremisten beider Seiten als Argument entweder für die Wiederherstellung des Ancien Régime oder für ethnische Säuberungen verwendet wird. Und wenn sich eine Partei die Verweigerung der Rückzahlung von Westkrediten auf ihre Fahnen schreibt, dann kann sie – unabhängig von der ökonomischen Absurdität dieser Forderung – einfach durch die Tatsache Stimmen gewinnen, dass die alltägliche Erfahrung vieler Menschen nicht durch die Wachstumserfolge ihrer Länder, sondern durch die sozialen Kosten dieser Umstrukturierungsprozesse geprägt ist. Die Linke spricht dabei vom Kreditgefälle, in das die bösen Imperialisten die ahnungslosen sozialistischen Regierungen gelockt haben; die Rechte operiert mit Losungen wie „früher die Panzer, jetzt die Banken“ und präsentiert den augenblicklichen Schlamassel als das Ergebnis einer jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung.
Gefährlich wird diese Situation vor allem deswegen, weil seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht nur die europäischen, sondern auch die europafeindlichen Strömungen paradoxerweise grenzübergreifend geworden sind. István Csurka und seine rechtsradikale Partei „Ungarisches Leben und Gerechtigkeit“ zeigten sich mit Österreichs Jörg Haider offen solidarisch, Le Pens „Nationale Front“ verbündete sich mit dem slowakischen Nationalisten Ján Slota. Dies war nicht einmal eine Verschwörung, sondern vielmehr ein produktives Missverständnis und vorübergehender politischer Flirt: Die osteuropäischen Populisten wollen ihren Ländern um jeden Preis die Modernisierung ersparen, und ihre westlichen Partner streben danach, das Gesindel vom Balkan vom goldenen Westen fern zu halten. Nichtsdestoweniger erscheinen diese mal demonstrativen, mal klandestinen Kontakte der Protagonisten scheinbar wichtiger als sie tatsächlich sind.
Ich muss gestehen, dass mich seinerzeit die ganze Mitteleuropa-Diskussion etwas irritiert hat. Meinem Verständnis nach gehörte Ungarn ebenso wie Polen oder die Tschechoslowakei damals dem (politischen, ökonomischen und militärischen) Osten an, obwohl es eine eindeutig westlich orientierte kulturelle Tradition besaß und zivilisatorisch selbst unter den Bedingungen des „real existierenden Sozialismus“ unvergleichbar weiter gekommen war als Rumänien, Bulgarien oder das Vorbild, die große Sowjetunion. Ich war fest davon überzeugt, dass die Jahrzehnte der Spaltung des Kontinents samt der vorangegangenen beiden Weltkriege ausgerechnet jene Inhalte in diesen Ländern ausgehöhlt hatten, die sie zu Vermittlern zwischen den beiden Hälften Europas hätte machen können. Als Tatsache galt für mich, dass wir arm, unfrei und provinziell waren, und der Budapest von westlichen Besuchern häufig bescheinigte Status als „Paris des Ostens“ war ein schwaches Trostpflaster für unsere zwischen Eisenhüttenstadt und Wladiwostok eingekeilte großstädtische Existenz. Die Suche nach der verlorenen Zeit des sonnigen Jahrhundertbeginns mit seinen Cafés und Theaterzügen nach Wien erschien mir als eine Art schöngeistige Archäologie.
Heute sehe ich die Sache anders. Die Mitteleuropa-Debatte war eine seismische Reaktion auf die Schwächung des sowjetischen Imperiums, eine innere Trennung von dessen Erbe, die stattfand, lange bevor die Sowjetologen und die Staatsmänner ihre Theorien an die spätkommunistische Realität anzupassen begannen. Sie beinhaltete die explizite Forderung nach Auflösung des Jalta-Systems und der Militärblöcke, die damals den meisten Zeitgenossen völlig unrealistisch, wenn nicht geradezu gefährlich erschien. Mitteleuropa stand damals für den utopischen Soll-Zustand der Region, es war ein Stück in tiefe Vergangenheit verhüllter Zukunft. Wenn heute über dieses Thema kaum noch gesprochen wird, so nur deshalb, weil es seine historische Rolle erfüllt hat.
Die weitere Quadratur des Kreises
Als bleibend von dieser Konstruktion erwies sich allerdings die Kraft der Phantasie. Ein eigenständiges Europa ohne Blockgrenzen, wie es in György Konráds „Antipolitik“ gefordert wurde, erschien seinerzeit den Verantwortlichen im Osten als staatsfeindliche Hetze, denen im Westen als Hirngespinst. Auch heute stellen sich Probleme, deren Lösung der Quadratur des Kreises ähnelt. So zum Beispiel die Sache mit der Türkei. Es ist offensichtlich, dass die Einbeziehung des ehemaligen „kranken Mannes“ von Europa in die Europäische Union einschneidende strukturelle Änderungen notwendig machen und den bisherigen Rahmen der Gemeinschaft sprengen würde. War dies aber nicht der Fall bereits vor dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums? War etwa der Fall der Mauer von jemandem eingeplant?
Außerdem zeigt die Türkei nur die bereits vorhandenen Grenzen der westlich geprägten EU-Auffassung auf. Ich glaube nämlich, dass die Integration von Georgien oder der Ukraine mindestens ebenso enorme Probleme mit sich bringen würde – und diese könnten nicht einmal durch eine privilegierte Partnerschaft provisorisch gelöst werden. Hinter den ökonomischen, politischen und militärischen Schwierigkeiten, die jede zu erwartende Erweiterung in sich birgt, lauert aber das eigentliche Dilemma: dasjenige der Erweiterung des europäischen Wertesystems. In den Jahrzehnten der Blockkonfrontation existierte dieses in der Form des Zwiespalts zwischen Entspannungspraxis und Menschenrechtsethik. Damals dienten staatlich garantierte Kredite als bescheidene pädagogische Mittel, um die Diktaturen des Ostblocks zu Minimalzugeständnissen im Sinne der äußerst vage formulierten Forderungen des „Dritten Korbes“ der KSZE zu bewegen. Allerdings stand zu der Zeit ein selbstsicheres Westeuropa einem moralisch und wirtschaftlich völlig geschwächten Osteuropa gegenüber. Wie anders diese Konstellation heute aussieht, demonstrieren einerseits die blutige Bilanz der Balkan-Kriege und die Unfähigkeit, die Entwicklung in den ehemaligen Sowjetrepubliken maßgeblich mit zu beeinflussen, andererseits die relative Gleichgültigkeit der kontinentalen Öffentlichkeit gegenüber dem gemeinsamen Schicksal der Europäischen Union, wie sie sich zuletzt 2004 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gezeigt hat.
Die Beteiligung der Ungarn an diesem Ereignis – ein Jahr nach dem offiziellen Beitritt Ungarns zur Gemeinschaft – lag mit 38,5 Prozent, ähnlich wie in anderen Beitrittsländern, weit unter dem ebenfalls wenig ruhmreichen europäischen Durchschnitt. Bei dem Referendum ein Jahr zuvor wurde eine 45-prozentige Teilnahme erzielt. Diese Daten erlauben eine günstige und eine weniger vorteilhafte Deutung. Die günstige lautet: Unser Land betrachtete seine EU-Agenda mit dem Beitritt vor zwei Jahren als positiv erledigt. Die andere lässt eher darauf schließen, dass die zur Wahl aufgeforderten Bürger mehrheitlich nicht das Gefühl hatten, auf die europäische Politik Einfluss nehmen zu können oder zu müssen. Die Proporze der unterschiedlichen ungarischen Fraktionen in Brüssel interessieren die Leute eher aus innenpolitischen Gründen, etwa als Faktoren, die auf das Kräftemessen bei den Parlamentswahlen in Ungarn selbst bezogen werden können.
Ich sehe jedoch noch eine unangenehmere Möglichkeit, und diese in gesamteuropäischer Perspektive: Die Kommunikation zwischen der Europäischen Union und ihrer Bevölkerung weist gewisse Lücken auf. So etwas geschieht manchmal in Theatern, wenn die Regie ihren Stoff nicht wirklich gut beherrscht. In den Augen des Publikums beginnt das Bühnenstück ausgerechnet in dem Moment langweilig zu wirken, wenn die Szenen selbst dramatisch zu werden versprechen.
GYÖRGY DALOS, geb. 1943 in Budapest, studierte 1962-67 in Moskau und war Mitglied der Ungarischen KP bis 1968, als er wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ Berufsverbot erhielt. Der Autor zahlreicher Bücher, für die er u.a. den Adalbert-von-Chamisso-Preis erhielt, lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 17 - 22