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01. Mai 2013

Gehen oder bleiben?

Ungarns Intellektuelle sitzen auf gepackten Koffern

Kurz vor den Osterfeiertagen erklärte der ungarisch-jüdische Komponist und Bühnenkünstler Péter Gerendás, dass er Ungarn verlassen und seinen Beruf ab jetzt im Ausland ausüben würde. Seine Entscheidung begründete er mit der „Faschisierung des Landes“, beruflichen Misserfolgen und finanziellen Problemen.

Unter „Faschisierung“ verstand er die Tatsache, dass man heute in Ungarn ungestraft gegen Juden und Roma hetzen kann; er selbst wurde auf offener Straße angepöbelt. Gerendás verfügt über eine beachtliche Diskografie, erhielt zahlreiche Kulturpreise und wird von einer großen Fangemeinde gefeiert.

Seine Geldprobleme sind nachvollziehbar: Offensichtlich geriet er, ähnlich wie zigtausende ungarische Bürger, aufgrund von Kreditaufnahmen auf Westwährungsbasis immer tiefer in eine Verschuldung, aus der er sich nicht befreien kann. Zudem sitzt ihm das Finanzamt im Nacken. Die Lage ist wohl ernst, denn wenn ein 75-Jähriger mit Ehefrau und immerhin sechs noch kleinen Kindern in die große, weite Welt aufbricht, dann ist das ein haarsträubend gewagtes Unternehmen. 

Bald nach Gerendás’ Erklärung schrieb dessen Schwiegervater Károly Herényi, ein konservativer Politiker und Mitbegründer der ehemaligen Regierungspartei „Ungarisches Demokratisches Forum“, in einem Leserbrief in der Tageszeitung Népszabadság, dass das von seinem Schwiegersohn gezeichnete Bild nun doch zu dunkel sei: „Der ungarische Mensch war niemals Faschist. Kein normaler Mensch kann Faschist sein. Das ist eine kleine Minderheit, eine ungebildete, ungläubige, talentlose Minderheit, die den Nazi spielt und mit ihrer Stimmkraft die Durchschnittsmehrheit übertönt.“ Für einen Politiker hört sich eine solch eher schlichte Einschätzung ziemlich hilflos an. Akzeptieren kann man sie eigentlich nur, wenn man dahinter den Großvater sieht, der um seine sechs Enkel und seinen als glücklich erträumten Lebensabend trauert. 

Die Öffentlichkeit – Freunde wie Feinde des Musikers – sieht in diesem Fall aber mehr: Die dramatische Selbstaufgabe des „Celebs“ symbolisiert das Schicksal von ungefähr einer halben Million Ungarn, die in den vergangenen Jahren das Land verlassen haben. Echte, tiefe Ängste und kollektive Hysterie vermengen sich in der neuen Auswanderungswelle, die eine alte, beinahe vergessene Frage aus den siebziger Jahren wieder aktuell werden lässt: Gehen oder bleiben?

Auch ich werde mit dieser tragischen Entwicklung konfrontiert: -Bekannte aus Intellektuellenkreisen, Schriftstellerkollegen wollen in den Westen und bitten mich um Rat und Hilfe. Sie sind zwischen 45 und 55 Jahre alt, handeln also nicht aus jugendlicher Abenteuerlust. „Wir leben in einem ekelhaften Land“, sagt mir A., Vater von zwei Kindern, im Budapester Café „Europa“. Er möchte nicht, dass seine Kinder in Ungarn aufwachsen und ist dafür bereit, seine Stelle als Hochschullehrer aufzugeben. B., Literat und Übersetzer, formuliert es noch härter. Er ist arbeitslos und will lieber in einer Wiener Wurstbude arbeiten, denn „selbst das ist besser als Sklave eines diktatorischen Staates“ zu sein. C. ist Frührentner und erholt sich gerade von einem Herzinfarkt. D., Autor von klugen Essays, würde mit der Hoffnung auf ein Stipendium gerne nach Deutschland kommen, seine Ersparnisse betrachtet er als Startkapital; seine Ex-Frau, die ihren Job verlor, nachdem ihr Verlag pleite ging, hofft auf einen Job als Babysitterin in England. 

Während ich mir die tristen Zukunftspläne meiner Kollegen anhöre, verspüre ich die Zweideutigkeit der eigenen Situation. Als ich im Mai 1987 mit nur einer Reisetasche und der Schreibmaschine meines verstorbenen Vaters das Donauschiff in Richtung Wien bestieg, dachte ich nicht ans Auswandern. Ich hatte dazu auch viel weniger Gründe als diejenigen, die heutzutage auf gepackten Koffern sitzen. Damals begann der Druck der Diktatur nachzulassen – nach 19 Jahren Schreibverbot konnte ich wieder ein Buch veröffentlichen und bekam Aufträge als Übersetzer. 

Trotzdem bin ich weggegangen. Als ich nach zwei Jahren im Westen nach Ungarn zurückkehrte, verweigerte mir die Behörde im Herbst 1989 eine Ausreise. Da erst riss mir der Geduldsfaden. Ich hatte keine Lust mehr, in einem Land zu leben, das ich nicht jederzeit auch verlassen konnte. Über Freunde in Wien erhielt ich einen  (gar nicht existierenden) Arbeitsplatz und mit viel Mühe auch eine Ausreisegenehmigung für ein Jahr. So konnte ich ins westliche Ausland reisen, ohne das Exil wählen zu müssen. Einige Monate später erhielt jeder ungarische Staatsbürger das verbriefte Recht der freien Reise und ungehinderten Rückkehr in seine Heimat.

Aus diesem einen Jahr sind mittlerweile 26 geworden. Ich bin zwar ungarischer Staatsbürger, aber doch eher Gast im eigenen Land. Hätte mir die ungarische Passbehörde damals ein 30-tägiges Touristenvisum gegeben, wäre ich wohl nicht auf Dauer in den Westen gegangen. Heute bin ich froh darüber, denn so muss ich nicht von einer ungarischen Minirente leben. 

György Dalos ist ungarischer Schriftsteller und Historiker mit Wohnsitz Berlin. 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2013, S. 124-125

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