China: Selbstverzwergung einer Großmacht
Wer Pekings Position zu Moskaus Angriffskrieg verstehen will, muss die wachsende Ideologisierung Chinas unter Xi Jinping in Rechnung stellen. Anstatt Verantwortung zu übernehmen, übt man sich im diplomatischen Eiertanz. Wenn Xi jetzt nicht die Kehrtwende wagt und sich aktiv für ein Ende des Krieges einsetzt, ist auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in Gefahr.
Während die internationale Gemeinschaft in ihrer Unterstützung der Ukraine zu einer Einigkeit findet, die noch bis vor Kurzem unvorstellbar war, gibt die bedeutendste aufstrebende Großmacht vor, über den Dingen zu schweben. Chinas Regierung ist nicht dazu bereit, Pekings strategische Partnerschaft mit Moskau zu gefährden. Sie weigert sich, Russlands Aggression als Invasion zu bezeichnen und Wladimir Putin mit Sanktionen zum Rückzug aus der Ukraine zu bewegen. Zwar versucht man in Peking, sich als neutrale Partei darzustellen, doch ist der Schulterschluss mit Moskau unübersehbar.
China hat sich gegen eine Beschäftigung der G20 mit Russlands Angriffskrieg ausgesprochen; es hat die westlichen Sanktionen gegen Russland als ineffektiv und „empörend“ dargestellt und Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert. Gleichzeitig leistet Peking rhetorische Unterstützung für Moskau, indem es die NATO für den Krieg verantwortlich macht und dem Kreml bei der Verbreitung von Fake News über vermeintliche amerikanische Labore zur Entwicklung von biologischen Waffen in der Ukraine assistiert.
Im Block mit Russland und anderen Pariastaaten?
Pekings Loyalität gegenüber Moskau ist nicht überraschend. Schließlich hatten Xi und Putin nur wenige Wochen vor Beginn der russischen Invasion am Rande der Olympischen Winterspiele die „grenzenlose“ Freundschaft zwischen China und Russland betont und sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen eine NATO-Erweiterung ausgesprochen.
In wirtschaftlicher Hinsicht wird China allerdings kaum von seinem Verhalten profitieren. Zwar könnte eine Vertiefung der Partnerschaft mit Moskau Chinas Verhandlungsposition im Blick auf Energieimporte aus Russland stärken. Doch verblasst dieser Nutzen angesichts der zu erwartenden Reaktionen des Westens.
Mit seiner stillschweigenden Unterstützung Moskaus droht Peking nicht nur seine wirtschaftlichen Beziehungen zur Ukraine und zu anderen Ländern in Osteuropa zu zerstören, um die es gerade im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative jahrelang geworben hat. Auch Chinas engste europäische Partner werden auf Distanz gehen, nachdem selbst Deutschland aus seiner Naivität erwacht ist und die Gefahren einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von aggressiven autoritären Mächten erkannt hat.
Gleichzeitig werden die USA ihre Anstrengungen verdoppeln, den Aufstieg Chinas durch Zugangsbeschränkungen zu westlicher Hochtechnologie auszubremsen. Peking könnte somit von weiten Teilen der demokratischen Welt isoliert werden und in einem Block mit Russland und anderen Pariastaaten wie Belarus und Nordkorea enden, was der nach wie vor von westlicher Technologie abhängigen chinesischen Wirtschaft erheblichen Schaden zufügen würde.
Ideologie statt Wirtschaftswachstum
Dass Peking dennoch weiterhin zu Putin steht, zeigt, wie sehr sich Chinas Prioritäten unter Xis Führung verändert haben. Drei Jahrzehnte lang lag das Hauptaugenmerk der Kommunistischen Partei darauf, Chinas wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, um die Legitimität der Partei zu stärken und die Stabilität des Regimes zu sichern.
Doch seit Xis Machtübernahme ist Pekings Fokussierung auf Wirtschaftswachstum der Priorisierung von Ideologie, politischer Kontrolle und nationaler Sicherheit gewichen. Das zeigt sich nicht nur in der Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang, der Aufhebung der Rechtsstaatlichkeit in Hongkong und im wachsenden Streben nach technologischer Autarkie, sondern auch in der politischen Maßregelung einflussreicher chinesischer Technologieunternehmen und im Einfordern ideologischer Linientreue von ausländischen Firmen.
Xis Komplizenschaft mit Putin bestätigt diesen Trend. Denn sie zielt nicht auf wirtschaftliche Vorteile ab, sondern ist vielmehr in Xis Verachtung für die liberale Weltordnung und seiner Überzeugung begründet, dass der Osten im Aufstieg begriffen und der Westen dem Untergang geweiht sei. Xi bleibt Putin somit nicht zuletzt mit dem Ziel treu, in nicht allzu ferner Zukunft gemeinsam mit Moskau eine neue Weltordnung nach den Vorstellungen autoritärer Mächte ins Leben rufen zu können.
Zudem stellt Xi sich Putins Angriffskrieg nicht in den Weg, da er sich für den Fall einer chinesischen Invasion Taiwans russische Unterstützung erhofft. Schließlich hat Xi deutlich gemacht, dass er die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan will, um die „Große Wiedergeburt der chinesischen Nation“ zu vollenden.
Kurswechsel unwahrscheinlich
Nichtsdestotrotz bleibt es bemerkenswert, dass China seiner wiederholt geäußerten Bereitschaft, sich als Friedensvermittler zwischen Russland und der Ukraine zu engagieren, bisher keine Taten hat folgen lassen. Denn mit dieser Rolle würde Peking seinem eigenen Anspruch gerecht, als Großmacht ernst genommen zu werden, ohne dabei mit Moskau brechen zu müssen.
Doch anstatt Verantwortung zu übernehmen, übt sich Peking im diplomatischen Eiertanz und lebt seine Großmachtfantasien durch die Bedienung antiamerikanischer Ressentiments in der heimischen Presse aus. Und so gesellen sich zur moralischen Entrüstung westlicher Beobachter angesichts der chinesischen Pseudo-Neutralität zunehmend Zweifel am Willen und an der Fähigkeit der chinesischen Führung, gestaltend auf internationaler Bühne tätig zu werden.
Einen Monat nach Kriegsbeginn erscheint ein chinesischer Kurswechsel immer weniger wahrscheinlich. Bleibt Xi bei seiner Position, riskiert er es, China in einen Außenseiter zu verwandeln und die Entwicklungschancen des Landes durch seine drohende wirtschaftliche Isolation zu schmälern. Der Ideologisierung der chinesischen Politik würde das weiteren Vorschub leisten. Denn die wirtschaftlichen Probleme könnten Peking dazu veranlassen, sich noch stärker auf das Schüren nationalistischer Gefühle zur Legitimierung des Regimes zu verlegen.
Ein in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gehemmtes und außenpolitisch immer aggressiver werdendes China könnte so in die Fußstapfen Russlands treten. Sollte Xi aber eine Kehrtwende wagen und sich dazu entscheiden, sich aktiv für ein Ende des Krieges einzusetzen, könnte er auch zum jetzigen Zeitpunkt noch eine Verbesserung der chinesischen Beziehungen zum Westen einleiten, den Respekt der internationalen Gemeinschaft gewinnen und seinen eigenen Großmachtansprüchen gerecht werden.
Prof. Dr. Sandra Heep lehrt Wirtschaft und Gesellschaft Chinas an der Hochschule Bremen.
Internationale Politik, online exclusive, 25. März 2022