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01. Jan. 2006

Brüchige Fundamente, neue Chancen

Eine deutsch-polnische Standortbestimmung

Die Wahlen in Polen und Deutschland sorgten beidseits der Oder-Neiße für Unruhe: In Warschau missfiel die weitere Regierungsbeteiligung der ungeliebten Schröder-SPD, Berlin ärgerte sich über deutschfeindliche Töne der neuen polnischen Staatsführung. Doch im politischen Alltag wird wenig so heiß gegessen, wie es im Wahlkampf gekocht wurde.

In einer Hinsicht waren sich polnische und deutsche Publizisten im Herbst 2005 einig: Sie zeigten sich besorgt über die außenpolitischen Konsequenzen der Wahlen im Nachbarland. An der Weichsel können die meisten politischen Beobachter ihre Enttäuschung darüber nicht verbergen, dass Gerhard Schröders Sozialdemokraten an der Macht geblieben sind und mit Frank-Walter Steinmeier ein enger Vertrauter des in Polen ungeliebten Exkanzlers die Wahrung seines außenpolitischen Erbes sichern soll. Auf deutscher Seite weckt der Doppelsieg der Kaczynski-Zwillinge, die sich im polnischen Wahlmarathon mit EU- und deutschlandkritischen Tönen zu profilieren versuchten, die Sorge, die deutsch-polnischen Beziehungen könnten sich zu einer Dauerbelastung für Europa erweisen.

Versuchen wir uns jedoch von den alarmierenden Analysen zu befreien und etwas nüchterner auf den Wahlausgang in beiden Ländern zu blicken. Wird sich Polen unter der Kaczynski-Regierung weiter von Berlin und Brüssel entfernen? Gefährdet der Erfolg der Zwillinge tatsächlich die polnische Demokratie? Ist ein neues Tief in den deutsch-polnischen Beziehungen zu erwarten?

Das Ende der Schröder-Ära haben die meisten Kommentatoren in Polen mit Erleichterung aufgenommen. Vor allem der außenpolitische Kurs Gerhard Schröders, die Pflege exklusiver Freundschaften mit Chirac und Putin sowie die gegenüber den amerikanischen Verbündeten distanzierte Politik haben dazu beigetragen, dass der rot-grünen Bundesregierung in Warschau keine Träne nachgeweint wurde. Im letzten Bundestagswahlkampf hatte Schröder das Misstrauen des polnischen Nachbarn vertieft, als er im Zusammenhang mit dem deutsch-russischen Pipelineprojekt seinen Duzfreund, Staatspräsident Aleksander Kwacniewski, auf einer Wahlveranstaltung in Dortmund brüsk zurechtwies; dieser solle sich nicht in Fragen der deutschen Energiesicherheit einmischen. Warschau hatte mehrere Gründe, sensibel auf das Pipelineprojekt zu reagieren. Bekanntlich haben Polen ein langes Gedächtnis, und das Ostsee-Projekt weckt unangenehme Erinnerungen: Schon Anfang der achtziger Jahre plante die Sowjetunion, als Reaktion auf die Entstehung der Solidarnosc im unliebsamen polnischen Bruderland, eine Ostseeleitung in die DDR. Das teure Projekt wurde ad acta gelegt, die Umgehung Polens über die damals berechenbare Tschechoslowakei beruhigte den Kreml. Auf das aktuelle deutsch-russische Projekt reagiert man in Polen nicht nur mit historischen Reflexen. Man ist sich in Warschau bewusst, dass die Energielieferungen Putin als einziges effektives Instrument für die Großmachtpolitik verblieben sind. Polens Wunsch nach energiepolitischer Abstimmung zwischen den EU-Mitgliedsländern, um einem denkbaren politischen Missbrauch der Energielieferungen durch den Kreml vorzubeugen, müsste daher eigentlich ein gemeinsames deutsch-polnisches Ziel sein.

Sehnsucht nach der Ära Kohl

Schröders Verhältnis zu Putins Russland hat wesentlich dazu beigetragen, dass die rot-grüne Außenpolitik von den meisten polnischen Journalisten zuletzt sehr einseitig abgelehnt und die Kohl-Ära idealisiert wurde. Dabei ist die Bilanz von Schröders Polen-Politik zwar sehr widersprüchlich, in manchen Bereichen aber dennoch positiv. In der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün konnte man den Eindruck gewinnen,  das Tandem Schröder-Fischer messe den deutsch-polnischen Beziehungen und den Interessen der EU-Beitrittskandidaten einen hohen Stellenwert bei.

Eine seiner ersten Auslandsreisen führte Schröder Ende 1998 nach Warschau. Der Kanzler reiste damals gut vorbereitet nach Polen: Er wusste, dass vor allem viele Politiker des SolidarnocT-Lagers den deutschen Sozialdemokraten anlasten, sie hätten in den achtziger Jahren den Dialog mit den realsozialistischen Machthabern gesucht und seien der antikommunistischen Opposition aus dem Weg gegangen. Schröder ging gekonnt mit den Befindlichkeiten der Nachbarn um und verschaffte sich schnell Vertrauen. Gute Figur machte auf dem deutsch-polnischen Parkett anfangs auch Joschka Fischer. Polnische Partner beeindruckte Fischer mit kritischen Überlegungen zu den Traditionen deutscher Außenpolitik, in denen er vor den Gefahren einer einseitigen, exklusiven Partnerschaft mit Frankreich warnte. Mit Blick auf Gustav Stresemann betonte er noch im Jahr 2000 die Notwendigkeit einer gleichgewichtigen Nachbarschaftspolitik zwischen Frankreich und Polen. In den ersten Amtsjahren war in den Augen vieler Polen die Glaubwürdigkeit dieser Worte sehr hoch. Berlin agierte konsequent als Anwalt polnischer EU- und NATO-Ambitionen. Dank Schröders Fürsprache erreichte Polen finanziell günstige Beitrittsbedingungen und eine herausgehobene Stellung im Abstimmungsmodus des Nizza-Vertrags. Zudem trug Schröder wesentlich zur Lösung des Rechtsstreits zwischen deutschen Unternehmen und Opferverbänden um die symbolische Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter bei.

Noch Anfang dieses Jahrzehnts wurde das Tandem Schröder und Fischer in Warschau für die Fähigkeit gelobt, an deutsche Interessen zu denken und gleichzeitig das europäische Mannschaftsspiel zu pflegen. Die EU-Erweiterungsverhandlungen waren ein gutes Beispiel für diese Strategie. Die rot-grüne Regierung trat einerseits effektiv als Anwalt polnischer Beitrittsinteressen auf, andererseits gelang es ihr, den deutschen Arbeitsmarkt für polnische Arbeitnehmer in einer Übergangsphase zu schließen.

Doch zur schwersten Belastungsprobe für das deutsch-polnische Verhältnis entwickelte sich dann der Irak-Krieg. In Warschau breitete sich in den letzten zwei Jahren die Sorge aus, die rot-grüne Bundesregierung suche neue strategische Partner außerhalb der NATO und EU. Schröders Kritik an der Außenpolitik Wa-shingtons hatte zwei grundlegende Folgen: Sie kühlte das Verhältnis zur Bush-Regierung und vielen Partnern der westlichen Gemeinschaft ab; gleichzeitig aber sicherte sie dem Kanzler in der Heimat und in vielen Ländern der Welt einen sehr hohen Ansehenszuwachs. Die Bundesregierung empfand die von den Partnern geforderte neue internationale Verantwortung des vereinigten Deutschlands nicht mehr nur als Last, sondern entdeckte die Rolle einer „mittleren Friedensmacht“ auf der weltpolitischen Bühne. Nach vollzogener EU-Osterweiterung wandten sich Schröder und Fischer immer mehr von den amerikatreuen Mitteleuropäern ab. Die Beziehungen zu den Großmächten Russland und China bekamen eine neue, noch höhere Priorität. In beiden Ländern sah Schröder nicht nur einflussreiche Partner, sondern auch Zukunftsmärkte für die deutsche Exportwirtschaft. Deutsch-polnische Meinungsunterschiede in der Russland- oder der europäischen Verfassungspolitik haben diesen Perspektivwechsel der rot-grünen Außenpolitik vertieft. Schröders und Fischers zunehmende Distanz zu Polen und den neuen EU-Europäern allerdings mit gewachsenen weltpolitischen Ambitionen der Berliner Republik zu erklären, wäre zu einseitig.

Dieser Perspektivwechsel hat seine Gründe aber auch in der dilettantischen Außenpolitik der polnischen Regierung, vor allem in den Jahren zwischen 2001 und 2004 unter dem Postkommunisten Leszek Miller. Es ist schon oft auf Schröders Enttäuschung über die Unterzeichung des proamerikanischen „Briefes der Acht“ durch Miller und andere europäische Regierungschefs hingewiesen worden. Auch Polens Staatspräsident Kwacniewski hat diesen Schritt im Rückblick scharf kritisiert. Miller verstand es nicht, die von Schröder ausgestreckte Hand zum Dialog über gemeinsame und unterschiedliche Interessen zu nutzen. Viele deutsche Sozialdemokraten waren entsetzt über den Opportunismus ihrer polnischen Parteifreunde. Zu Zeiten der liberal-konservativen Buzek-Regierung nutzten die polnischen Postkommunisten intensiv die Begegnungsmöglichkeiten mit deutschen SPD-Politikern, um im In- und Ausland zu demonstrieren, wie sehr sie sich von ihren autoritären Wurzeln entfernt hatten. Die Kontakte zur SPD waren für Miller und seine Parteifreunde attraktiv, weil sie viele Türen in Europa öffneten. Nach dem Wahlsieg der Postkommunisten 2001 nahm die Intensität der Kontakte zwischen der SPD und der SLD jedoch überraschend ab.

Innenpolitische Misserfolge

Polens Postkommunisten entpuppten sich als eine kurzsichtige und unzuverlässige politische Kraft, die an der schnellen Nutzung der politischen Konjunktur und der Privilegien der Macht interessiert war. Konkret drückte sich dieses Politikverständnis in einer politischen Kultur der feudalen Machtausübung und in zahlreichen Korruptionsskandalen aus, die zu einem enormen Ansehensverlust Millers und seiner SLD führten. Verlässlicher als Miller war ohne Zweifel sein Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz. Seine schon legendäre Introvertiertheit und die Unfähigkeit, intensive Kontakte zu Gesprächspartnern aufzubauen, erwiesen sich jedoch als ein Handikap für die polnische Außenpolitik.

Korruptionsaffären, nicht eingelöste soziale Versprechungen und die Krise auf dem Arbeitsmarkt haben schließlich die Regierungskoalition und die polnischen Sozialdemokraten gespalten. Die innenpolitischen Misserfolge hatten zur Vernachlässigung der Außenpolitik und der Beziehungen zu Deutschland geführt. Zuletzt klammerte sich die SLD in einer Minderheitenregierung an die Macht, ohne substanzielle innen- und außenpolitische Ziele zu verfolgen. In dieser politischen Agonie bildete das kurze Interregnum des Cimoszewicz-Nachfolgers Adam Daniel Rotfeld, eines Holocaust-Überlebenden und erfahrenen Experten für internationale Beziehungen, eine äußerst positive Ausnahme. Innerhalb nur weniger Monate konnte der klug agierende Rotfeld sich das Vertrauen seiner europäischen Amtskollegen erwerben.

Die Wahlniederlage der SLD im Herbst 2005 besiegelte das Ende der postkommunistischen Regierung. Der Erfolg der Kaczynski-Brüder bei diesen Wahlen vertiefte die Sorgenfalten der deutschen Nachbarn. Denn die Kaczynskis waren in den letzten Jahren nicht nur als „Law-and-Order“-Politiker aufgefallen, die sich gegen Homosexuelle und für die Einführung der Todesstrafe eingesetzt hatten, sondern auch als Agitatoren, die die deutsch-polnischen Gegensätze hochspielten, um aus ihnen politisches Kapital zu schlagen. Tatsächlich kritisierten sie und ihre Gefährten aus der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) mit Deutschen kooperierende polnische Politiker und warnten vor einem neuen revisionistischen Geschichtsverständnis in Deutschland. Mit Entschädigungsforderungen für Kriegsschäden bauten sie eine Drohkulisse auf.

Unbemerkt blieb aber in Deutschland, dass die Mehrheit der polnischen Politiker, darunter auch die liberal-konservative Bürgerplattform (PO) um Donald Tusk und Jan Rokita, ähnliche außenpolitische Akzente setzte. Deutlich erkennbar war dies vor allem auf dem Feld der Europa-Politik. Neben den Kaczynskis lehnten auch Tusk und Rokita die EU-Verfassung entschieden ab, vor allem wegen der Änderung des Nizza-Abstimmungsmodus und des Fehlens von Bezügen zur christlichen Wertegemeinschaft. Seit Ende 2004 wurde in den aus dem Solidarnosc-Lager entstandenen konservativen Parteien PiS und PO eine außenpolitische Linie feststellbar, die der Politologe Piotr Buras als „Politik des Zeugnisablegens“ bezeichnet. Statt pragmatischer Ideen und Problemlösungen dominiert in dieser  Denkrichtung die Forderung nach intensiven Debatten über belastende Themen, wie deutsche Entschädigungen für den Krieg gegen Polen, Geschichtspolitik und das Verhältnis zu Russland. Konstruktive Vorschläge zur Zusammenarbeit mit den Deutschen waren eher Mangelware in den Programmen der PiS und PO.

Zwar entfernten sich Tusk und seine Bürgerplattform im Laufe des Wahlkampfs zunehmend von den deutschlandkritischen Tönen, doch dies änderte nichts an der grundsätzlichen Absage auch der PO an die EU-Verfassung und eines (von vielen Unionspolitikern favorisierten) Europäischen Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin. Der Wechsel zum versöhnlicheren Tonfall brachte jedoch der Bürgerplattform keinen Erfolg. Je länger der Wahlkampf dauerte, umso mehr konnten sich die KaczyÄski-Brüder mit europa- und deutschlandkritischen Sprüchen als tapfere Patrioten gegenüber den smarten Liberalkonservativen profilieren.

Ähnlich wie in Deutschland waren die außenpolitischen Themen jedoch nicht wahlentscheidend. Mit dem Versprechen, konsequent gegen Korruption vorzugehen, für mehr öffentliche Sicherheit und neue sozialpolitische Subventionen zu sorgen, überzeugten die Brüder viele vom langen Modernisierungsprozess ernüchterte Bürger. Die Herzen der SolidarnocT-Kombattanten gewannen die Kaczynskis mit einem neuen Säuberungsprogramm, das die alten kommunistischen Eliten aus dem politischen Leben verdrängen soll, um so  die Weiterentwicklung der jungen polnischen Demokratie in eine neue, nun die vierte, Republik zu schaffen.

Die Kaczynskis profitieren von einer tiefen Identitätskrise, die Polen durch die Globalisierung und den europäischen Aufholprozess  erfasst hat. Die Staats- und Wirtschaftsreformen haben nicht nur einen enormen Modernisierungsschub ausgelöst, sondern auch neue Probleme geschaffen. Immer deprimierender wirkt auf die meisten Polen die Erkenntnis, dass das Land zwar längst den Anschluss an die moderne Konsumgesellschaft gefunden hat, diese Welt aber vielen – auch jungen und arbeitenden Menschen – verschlossen bleibt. 

Globalisierungsängste

Am Beispiel eines Gleiwitzer Opel-Facharbeiters lässt sich das gut zeigen: Mit einem Job und etwa 600 Euro Monatsgehalt zählt dieser in seiner Heimatregion zu den Privilegierten. Der EU-Beitrittsprozess hat allerdings die Märkte und ihr Preisniveau angeglichen, so dass es in Polen einer jungen Familie schwer fällt, mit diesem Einkommen über die Runden zu kommen, gar Rücklagen zu bilden. International gesehen zählt der Gleiwitzer Facharbeiter mit seinem Monatsgehalt zu den Besserverdienenden. Ähnlich wie sein Kollege in Deutschland macht er sich aber Sorgen, ob angesichts der internationalen Konkurrenz sein schlesischer Arbeitsplatz dauerhaft gesichert ist und ob er mit spürbaren Lohnsteigerungen in den nächsten Jahren rechnen kann. Sein multinationaler Arbeitsgeber könnte in Zukunft seinen Arbeitsplatz weiter Richtung Osten verlagern.

Nicht nur international agierende Konzerne,  auch polnische Großinvestoren und Mittelständler zieht es in die osteuropäischen und asiatischen Billiglohnländer. Immer mehr Polen fragen sich, ob ihr Traum von einem dauerhaften  Wirtschaftswunder, wie es in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Westeuropäer erleben durften, angesichts neuer globaler Wirtschaftsbedingungen eine Illusion bleiben wird. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Vertiefung regionaler Entwicklungsunterschiede innerhalb Polens. Zwar sehnen sich die meisten Polen  nicht nach einer radikalen Alternative zum eingeschlagenen Weg; der Transformationsprozess hat aber in den letzten Jahren stark an Attraktivität eingebüßt. Das erklärt das Scheitern der polnischen Liberalen. Vor allem auf dem Land und in den abseits der großen Investitionsströme liegenden Städten gelingt es ihnen nicht, verstanden zu werden.

Die Kaczynski-Brüder haben in dieser Stimmungslage am besten Wähler mobilisiert. Mit sozialen Versprechen haben sie sich ein breite politische Basis geschaffen; das Bündnis mit den katholischen Aktivisten um Radio Maryja hat ihnen die Zustimmung der traditionsbewussten ländlichen Bevölkerung gesichert und die von der Moderne geplagten polnischen Katholiken gewonnen. Als Großstädter und renommierte Juristen waren die Kaczynskis jedoch auch für die Eliten der Metropolen wählbar. Mit einem Rückzug vom Pfad der Modernisierung, gar einer neuen „Diktatur konservativer Eliten“ unter einer Kaczynski-Führung rechnet kaum ein ernst zu nehmender politischer Beobachter. Was die PiS jedoch von den modernen konservativen Parteien Westeuropas unterscheidet, ist ihre Distanz zum Liberalismus. Der moderne europäische Konservatismus ist weniger traditionalistisch als vielmehr pragmatisch. Wie Piotr Buras formuliert hat, dominiert in den westeuropäischen Parteien christlicher Prägung die Bereitschaft, sich mit der Wirklichkeit der modernen Welt anzufreunden, statt sie durch eine konservative Revolution nach ihrer Vorstellung zu verändern. Auch im Bereich der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist die Kaczynski-Partei paternalistischer als die meisten europäischen Konservativen. Der westeuropäische Konservatismus geht davon aus, dass der Staat dem Bürger die Grundlagen schaffen soll, damit dieser selbstständig agieren und möglichst viel Eigenverantwortung übernehmen kann. Der Konservatismus von Jaroslaw und Lech Kaczynski ist in seinen Vorstellungen noch stark vom realsozialistischen Erbe geprägt.

Treffend hat der Publizist Adam KrzemiÄski die PiS mit der alten CSU und die Kaczynski-Brüder mit Franz Josef Strauss verglichen: schwer berechenbare Demokraten, die ein breites politisches Spektrum auf der Rechten ausfüllen wollen, ihre Partei autokratisch führen und als machtbewusste Antikommunisten selbst Bündnisse mit Realsozialismus-Nostalgikern schmieden können.

Das große politische Ziel der Kaczynskis ist aber nicht, wie manche westlichen Beobachter fürchten, Polen aus der EU-Staatengemeinschaft herauszuführen, sondern mit der Etablierung einer großen konservativen Volkspartei wollen sie die politische Bühne der polnischen Demokratie dominieren. Insofern passt in diese politische Großstrategie die signalisierte Bereitschaft des neuen polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski und der PiS-Regierung, weiterhin für partnerschaftliche Beziehungen mit dem deutschen Nachbarn einzutreten.

Es ist durchaus vorstellbar, dass es unter der Kaczynski-Regierung auf bislang schwierigen Themenfeldern, wie dem Verhältnis zu Russland oder der Geschichtspolitik, zu einer engeren deutsch-polnischen Kooperation kommt. Neue Chancen für eine Annäherung eröffnen vor allem die Evolution der Wahrnehmung Russlands und der Ukraine in der Bundesrepu-blik sowie die Entwicklung des geschichtspolitischen Diskurses in beiden Ländern. Schon Anfang dieses Jahrzehnts erörterten deutsch-polnische Lobbyisten die Chancen einer Belebung der deutsch-polnischen Beziehungen auf dem Wege gemeinsamer ostpolitischer Initiativen. Die orangene Revolution war 2004 eine Gelegenheit für das deutsch-polnische Tandem, sich international zu profilieren. In Kiew bewiesen die EU-Staaten, dass sie durchaus zu einer gemeinsamen Außenpolitik fähig sind. Polens Diplomaten hätten in Kiew keinen Erfolg erzielt ohne die Unterstützung europäischer Partner. Erst diese europäische Drohkulisse zwang Leonid Kutschma und seinen Kronprinzen Victor Janukowytsch dazu, faire und freie Wahlen zuzulassen. Eine wichtige Rolle spielte in dieser Situation auch die Bundesregierung: Die Solidarität Gerhard Schröders mit der Ukraine-Politik der EU überzeugte Putin, in die Auseinandersetzung zwischen Janukowytsch und Jusch-tschenko nicht mehr einzugreifen.

Die Bedeutung der orangenen Revolution für das deutsch-polnische Verhältnis bestand nicht nur darin, dass beide Länder entdeckten, wie effektiv eine außenpolitische deutsch-polnische Zusammenarbeit sein kann. Viele Polen hatten auch den Eindruck, dass die Kiewer Ereignisse den Erfahrungshorizont politischer Eliten in der Bundesrepublik erweitert haben. Vor der Revolution war die Ukraine im Bewusstsein deutscher Journalisten und Politiker terra incognita. Seither ist ihre Perzeption intensiver geworden; zunehmend wird auch die polnische Osteuropakompetenz geschätzt. Das massive Engagement Putins für das Kutschma- Regime hat in der Bundesrepublik die kritische Berichterstattung über den autoritären Stil der Kremlführung verstärkt. Mit Genugtuung haben polnische Kommentatoren zur Kenntnis genommen, dass auch deutsche Medien und Politiker Schröders Männerfreundschaft mit Putin deutlich kritisierten. Dieser deutsche Lernprozess in Bezug auf Putins Russland und die Ukraine hat im Bereich der europäischen Ostpolitik Deutsche und Polen einander angenähert.

Der ostpolitische Wahrnehmungswechsel könnte auch davon profitieren, dass das politische Leben Deutschlands mehr und mehr von Persönlichkeiten aus der ehemaligen DDR geprägt wird. Viele Polen verbinden mit dem Aufstieg Angela Merkels und Matthias Platzecks die Hoffnung, dass diese ihre Erfahrungen vom Leben in einer autoritären Gesellschaft in die bundesdeutsche Politik einbringen, was den deutsch-polnischen Dialog erleichtern könnte.

Eine ebenso interessante Dynamik ist auf dem Feld der Geschichtspolitik zu beobachten. Zwar stieß die Aufnahme des Projekts eines Berliner Zentrums gegen Vertreibungen in das CDU-Wahlprogramm auf massive Kritik aus Warschau. Die Befürworter eines intensiven historischen Dialogs zwischen beiden Ländern bekamen aber gleichzeitig eine unerwartet deutliche Unterstützung durch die Kirchen in Deutschland. Der Erzbischof von Berlin stoppte den Verkauf einer Berliner Kirche an Erika Steinbachs Stiftung „Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“. Unmittelbar danach sprach sich Kardinal Karl Lehmann in der polnischen Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny für Formen der Erinnerung aus, die beide Nationen annähern und keine neuen Teilungen schaffen würden. Ähnlich äußerten sich Vertreter der evangelischen Kirche.

Das Klima für die Initiierung gemeinsamer geschichtspolitischer Projekte ist zurzeit günstig. Mit der Gründung einer europäischen Stiftung „Erinnerung und Solidarität“ haben die Vorgängerregierungen eine gute Grundlage für gemeinsame Projekte in diesem Bereich geschaffen. Es ist zu hoffen, dass Angela Merkel die große Koalition nutzt, um sich vom Ballast des Steinbach-Projekts zu befreien. Das könnte ein wichtiger Test für die Glaubwürdigkeit ihrer neuen Polen-Politik werden.

Neue Aufgaben für beide

Nicht nur die neue deutsche Regierung ist in dieser Situation gefordert, sondern auch die polnische Seite. Sie muss darlegen, wie sie konkret dazu beitragen will, den historischen Diskurs in den beiden Ländern stärker miteinander zu verzahnen. Sicherlich muss die Geschichtspolitik der polnischen Demokratie Formen finden, die die Erfahrungen des Nachbarn stärker berücksichtigen; sie muss mehr sein als der Versuch, Zeugnis über polnische Opfer und Mythen abzulegen. Dariusz Gawin, ein enger Berater des neuen polnischen Staatspräsidenten, hat in einer polnischen Diskussion zu diesem Thema treffend festgestellt, dass er sich nur eine moderne polnische Geschichtspolitik im Geist des polnischen Mythenzerstörers und Ironikers Witold Gombrowicz vorstellen kann.

Der Verlauf der Präsidentschaftskampagne gibt eher Anlass zur Sorge. Jacek Kurski, der Wahlmanager der PiS, warf Donald Tusk vor, er werde als Staatsoberhaupt polnische Interessen nicht glaubwürdig vertreten können. Seine These versuchte er dadurch zu untermauern, dass er Tusk in Sippenhaft nahm und ihm vorwarf, sein Großvater hätte sich als Volksdeutscher freiwillig zu Wehrmacht gemeldet. Zudem versuchte Kurski Tusks Integrität in Frage zu stellen, indem er auf seine Beteiligung an Danziger Projekten hinwies, die die Erinnerung an das deutsche und multikulturelle Erbe in Tusks Heimatregion bewahren. Kurskis Angriffe trafen auf starke Resonanz im ländlich geprägten Osten Polens sowie unter katholisch-patriotischen Aktivisten. Der Streit um die regionale Identität Tusks und seine Familiengeschichte hat leider die Sorge wachsen lassen, dass ein großer Teil der polnischen Eliten immer noch in den nationalistischen Mythen der Volksrepublik Polen verwurzelt und auch die Bevölkerung weit von einer kritischen Reflektion über die polnische Geschichte entfernt ist. Von Gombrowicz’ Geist ist in der politischen Debatte noch wenig zu spüren.

Dennoch gaben die Präsidentschaftswahlen auch in dieser Frage neuen Anlass zu Hoffnung: Sie zeigten eine Evolution der kollektiven Erinnerung und des Verhältnisses zu Deutschen vor allem in den ehemals deutschen Gebieten, wo sich die Mehrheit von der Kampagne gegen Tusk nicht beeindrucken ließ. Das ist erstaunlich, denn in den ehemals deutschen Gebieten leben heute mehrheitlich Polen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Ostgebieten umgesiedelt worden sind. Diese Menschen haben sich bei den letzten Wahlen ziemlich immun gegenüber antideutschen Stereotypen gezeigt und eine ausgeprägte Identifikation mit der deutsch-polnischen Grenzlandschaft an den Tag gelegt. Für die meisten politischen Beobachter war das eine Überraschung. Die geographische Nähe zu Deutschland allein kann eine solche Haltung nicht erklären. Wahrscheinlich ist in diesen Regionen eine neue, komplexe Sicht auf die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte gewachsen; die komplizierte kaschubische Familiengeschichte von Donald Tusk hat diese Wähler weder überrascht noch abgeschreckt.

Diese positive Entwicklung sollte von der neuen Regierung und dem neuen Staatspräsidenten nicht missachtet werden. Erste Signale sind positiv: Unmittelbar nach den Wahlen hat Lech Kaczynski den Kontakt zu deutschen Medien gesucht, um seine Offenheit gegenüber den Deutschen und seine Verbundenheit mit der Europäischen Union zu unterstreichen. Mit der Ernennung des angesehenen Diplomaten Stefan Meller zum neuen Außenminister haben die KaczyÄski-Brüder diese Botschaft noch unterstrichen. Ein wichtiger Test für die Glaubwürdigkeit dieser Beteuerungen wird aber die weitere Entwicklung des Konservatismus à la PiS sowie der künftigen Regierungspolitik sein. Denn eine konstruktive polnische Europa- und Deutschland-Politik der PiS in engem Bündnis mit Andrzej Leppers populistischer Bauernbewegung und der national-katholischen „Liga polnischer Familien“ ist schwer vorstellbar. Daher sollte die PiS möglichst bald zum Projekt einer Koalition mit der Bürgerplattform zurückkehren. Denn nur eine stabile Mehrheitsregierung eröffnet die Chance zu tiefgreifenden Reformen.

BASIL KERSKI, geb. 1969, ist Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins DIALOG.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2006, S. 76 - 83.

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