IP

27. Apr. 2018

Brot, Freiheit und Gerechtigkeit

Fatalismus ist fehl am Platz. Der nächste Arabische Frühling kommt bestimmt

Sieben Jahre ist es her, dass in der arabischen Welt Millionen gegen Autokratie und Korruption demonstrierten. Die Bilanz ist bedrückend; fast überall herrscht Krieg oder Repression. Und doch gilt es, die Hoffnung zu bewahren. Die Reise zur Demokratie war schon oft durch Rückschläge geprägt, und der Reformdruck ist heute noch größer als 2011.

In Arabien ist auf einen kurzen Frühling ein langer, harter Winter gefolgt. Seit den Massendemonstrationen vor sieben Jahren sind in Syrien, dem Jemen und Libyen eine halbe Million Menschen im Krieg gestorben. Der Islamische Staat ist gekommen und gegangen. Es hat freie (Tunesien, Ägypten 2013) und unfreie (Ägypten 2015, Syrien 2014) Wahlen gegeben und solche, zu denen schon keiner mehr gehen wollte (Libyen 2014, Ägypten 2018).

Tunesien, wo alles anfing, wird von Demonstrationen erschüttert, bei denen es immer wieder zu Toten kommt. In Ägypten wurde Präsident Abd al-Fattah as-Sisi gerade mit 97 Prozent der Stimmen wiedergewählt, der Krieg in Syrien geht offenbar mit einem Sieg des Regimes zu Ende, und in Libyen spielt ein General täglich mit dem Gedanken, die lästigen Zivilisten aus dem Rennen zu putschen. In keinem der Länder, deren Bürger 2011 die Demokratie herbeizudemonstrieren versuchten, ist das Leben heute besser als damals, denken viele. Womöglich wird es die Freiheit nie hierher schaffen.

Doch dieser Fatalismus ist fehl am Platz: Der nächste Arabische Frühling kommt bestimmt. Aus einem einfachen Grund: Bisher ist nichts von dem, was 2011 schlecht war, besser geworden. Im Gegenteil, alles wurde noch schlechter. Stand die Jugendarbeitslosigkeit vor sieben Jahren bei 26 Prozent in Tunesien und 30 Prozent in Ägypten, so ist sie heute auf 35 Prozent und 33 Prozent gestiegen. Damit sind beide Länder in der Zone, in der die Arbeitslosigkeit junger Menschen zwischen 15 und 29 Jahren statistisch mit politischer Instabilität korreliert.1

Gibt Jugendarbeitslosigkeit allein schon genug Grund zur Sorge, trägt sie besonders dann zu politischen Unruhen bei, wenn sie von Korruption und sozialen Ungleichheiten begleitet wird. Auch hier dürfte nicht überraschen, dass sich beides in der Region drastisch verschlimmert hat. Mit der Ausnahme von Tunesien, wo es leicht aufwärts geht, sind alle arabischen Länder unter den weltweiten Korruptionsdurchschnitt gefallen. Von den zehn korruptesten Ländern der Welt gehören nunmehr fast die Hälfte zum arabischen Raum: Syrien, Jemen, Libyen und Irak.2 Auch die soziale Ungleichheit ist größer geworden. Seit den Rufen nach „Brot, Freiheit, sozialer Gerechtigkeit“ hat sich die Schere zwischen extrem arm und extrem reich noch weiter geöffnet. Das oberste Zehntel besitzt hier 61 Prozent des Einkommens – zum Vergleich sind es in Europa 36 Prozent und in den USA 47 Prozent. Damit hält der Nahe Osten den Weltrekord in sozialer Ungleichheit – heute ebenso wie 2011.3

Dazu passt, wie teuer das Brot geworden ist. In Jordanien zum Beispiel hat sich der Brotpreis im Januar fast verdoppelt, nachdem die Regierung Subventionen gestrichen hatte. Einige Wochen zuvor waren nach einer Steuererhöhung bereits die Preise von Gemüse, Salz, Öl und Milch gestiegen.

Und auch bei den politischen Freiheiten haben sich die Dinge in die verkehrte Richtung entwickelt. In Libyen zum Beispiel gibt es heute zwar keinen repressiven Zentralstaat mehr, der Bürger einsperrt und Journalisten den Mund verbietet – dafür aber unkontrollierbare Milizen, die beides tun. Auf dem Pressefreiheitsindex landet Libyen heute auf Platz 163 von 180 Ländern, zwei Plätze hinter Ägypten. Damit ist Libyen seit 2011 um zwei Plätze zurückgefallen – bei Ägypten waren es 34. Nur in Tunesien ist die Presse freier geworden. Das Land hat sich von Platz 164 vor sieben Jahren auf Platz 97 heute vorgearbeitet. Damit befindet es sich nun in der Gesellschaft von Ländern wie Liberia, Panama und Nepal.4 Arabische Bürger haben also Grund genug, 2018 als einen „Superlativ“ von 2011 zu sehen.

Eine herkulische Aufgabe

Wenn ein Volk unruhig wird – oder zumindest das Potenzial dazu hat –, hat der Staat zwei Optionen, damit umzugehen: Er kann versuchen, auf die Forderungen einzugehen. Doch in den meisten arabischen Staaten dürfte sich das als unmöglich erweisen. Jobs zu schaffen und Brotpreise niedrig zu halten, erfordert Liquidität und Reformfähigkeit. Wirtschaftlich haben sich aber die arabischen Staaten, die kein Öl fördern, schon vor Jahren in die Ecke manövriert.

Früher einmal hätten sie mit massiven Infrastrukturprojekten wie dem Bau eines zweiten Suez-Kanals genug Arbeitsplätze schaffen können, um die Situation stabil zu halten. Aus einem einfachen Grund geht das ­heute nicht mehr: Die Zahl der arbeitssuchenden jungen Menschen ist explodiert. Waren vor 30 Jahren 13 Millionen Ägypter in dem politisch unruhigen Alter zwischen 15 und 29, hat sich diese Zahl auf 22 Millionen fast verdoppelt – und sie wächst weiter, nicht nur in Ägypten. Um die Jugendarbeitslosigkeit stabil zu halten, müssen in den nächsten zehn Jahren im arabischen Raum zehn Millionen Jobs geschaffen werden. Sollte das Ziel sein, die Jugendarbeitslosigkeit auf ein sozial akzeptables Niveau zu drücken, nämlich unter 25 Prozent, braucht es vier Mal so viele neue Stellen. Dies ist eine herkulische Aufgabe, die auch unter wirtschaftlich günstigeren Bedingungen schwierig zu bewältigen wäre.

Damit bleibt den Staaten in der Region nur die zweite Option, nämlich die Proteste zu ersticken. Die üblichen Methoden dafür sind repressive Gesetze, die es verbieten, Dissens zu artikulieren, sowie ein Sicherheitsapparat, der das Verbot durchsetzt – weswegen Ägyptens Präsident Sisi vollmundig behaupten kann, es gäbe keine politischen Gefangenen in seinem Land; alle seien rechtmäßig verurteilt.

In Ägypten wurden seit dem Arabischen Frühling 19 neue Gefängnisse gebaut. Jede Form von Vereinigung wird staatlich überwacht – sogar der Apothekerverband und Fußball-Fanclubs gelten als politisch suspekt. In Jordanien wurden Bürger, die gegen die Brotpreise demonstrierten, direkt zum Staatssicherheitsgericht überstellt, welches normalerweise für Terrorismus und Hochverrat zuständig ist. Auch in Tunesien haben die Gefängnisse eine Belegung von 138 Prozent, seit der Ausnahmezustand Massenverhaftungen möglich gemacht hat. Fast die Hälfte der Häftlinge wartet noch auf ihr Verfahren.

Syriens Krieg ist die extremste Form dieser Methode. Doch selbst dieser brutale Ansatz löst nicht das Problem. So zynisch es klingt: Krieg beseitigt schon deswegen das Problem nicht, weil nie alle Oppositionellen ausgelöscht werden können. Er mag bisweilen eine Lösung für Konflikte zwischen Staaten sein, aber niemals für Probleme zwischen einer Regierung und Teilen seiner Bevölkerung.

Alte Besen kehren schlechter

In Ägypten zeigt sich besonders deutlich, dass diese alte Methode einfach nicht mehr funktioniert. Seit das ägyptische Militär Präsident Mohammed Mursi aus dem Amt putschte, hat sich die Zahl der Terrorattentate fast verzehnfacht: von 44 Anschlägen im Jahr 2012 auf inzwischen 390 pro Jahr. Dabei sitzen schon rund 100 000 (meist junge) Ägypter in Haft. Die Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt, und im Sinai läuft mittlerweile die vierte Militärkampagne (nach „Adler“, „Sinai“ und „Rechte der Märtyrer“ nun die „Umfassende Operation“). Je härter die Armee zuschlägt, je mehr junge Männer weggesperrt werden, desto stärker wird der Widerstand. Wie schon die USA in Afghanistan und Irak muss auch Kairo erkennen, wie schwierig Aufstandsniederschlagung tatsächlich ist.

Der gleichen Erkenntnis wird sich auch die Regierung in Damaskus früher oder später stellen müssen. Wer denkt, dass das Regime den Krieg gewinnt, vergisst, dass das Land so zerstört ist, dass Syriens Entwicklungsuhr um ganze 30 Jahre zurückgedreht wurde. Zwischen 100 und 300 Milliarden Dollar werden für den Wiederaufbau benötigt – Geld, das weder Russland noch der Iran oder vor allem Syrien selbst hat.

Die syrische Armee hat rund die Hälfte ihrer Soldaten durch Fahnenflucht oder Tod verloren. Sie ist dezimiert, müde und auf keinen Fall imstande, im Nachkriegs-Syrien für Sicherheit zu leisten. Es ist eine Sache, die Opposition zu zerschlagen, doch eine ganz andere, die Bedingungen herzustellen, in denen ein Rückfall in den Konflikt unwahrscheinlich wird. Selbst wenn die Waffen vorerst ruhen sollten – in Syrien sind die Bedingungen für den nächsten Aufstand schon jetzt perfekt, weil keine der politischen Forderungen von 2011 erfüllt wurde.

Auch die Entscheidungsträger der anderen arabischen Länder werden schmerzhafte Konzessionen machen müssen, wenn sie die Lage stabil halten wollen. In Tunesien mag es zwar heute ein demokratisches Wahlverfahren geben. Doch seine Wirtschaft wird noch immer von den Oligarchen des gestürzten Diktators Zine el Abidine Ben Ali kontrolliert. Weite Teile der Wirtschaft sind staatlich reguliert, was Monopole fördert, den Wettbewerb stranguliert, Korruption befeuert und keine Jobs schafft. In Tunesien kostet ein Auslandsgespräch zum Beispiel zehn bis 20 Mal mehr als in Europa und ein Flugticket das doppelte – weil Tunisie Télécom und TunisAir keine Konkurrenten haben.

Erst das Liberalisierungsabkommen mit der EU wird den tunesischen Markt für europäische Charterflüge öffnen, auch wenn die Tunesier auch dann noch von Billigfliegern weit entfernt sind. Junge Tunesier können sich noch nicht einmal selbstständig machen, weil Banken Kredite nur an die großen Unternehmen vergeben. Tunesiens Monopolisten stehen zwischen den Jobs und den jungen Tunesiern – früher oder später werden sie sich zwischen ihrem Status und politischer Stabilität entscheiden müssen. Sicher ist: Wo keine Kompromisse gemacht werden, steuern die Staaten auf weitere gewalttätige Unruhen zu.

Zwischen Rück- und Fortschritt

Wer all dies mit einem weinenden Auge liest, sollte dennoch die Hoffnung nicht aufgeben. Politischer Wandel ist nie linear und oft gewalttätig. Gerade die Reise zur Demokratie folgt immer einem Muster des Vor und Zurück: Ob in Europa oder Lateinamerika, die Demokratie kam stets in kleinen Schritten und nach vielen Rückschlägen. So lagen zwischen der Französischen Revolution 1789 und der Vierten Republik viele Etappen, in denen das Wahlrecht erst nach Stand, später nach Alter, Einkommen und zuletzt Geschlecht erstritten wurde. Jede Konzession wurde durch Demonstrationen und Krisen erzwungen. Nie haben sich die Eliten frei entschieden, Macht abzugeben.

Doch warum Gewalt, und warum dieser Tanz zwischen Rück- und Fortschritt? Schließlich wäre es doch wünschenswert, dass demokratische Systeme wie damals in Osteuropa friedlich das Licht der Welt erblicken. Doch der Fall der Berliner Mauer und die Samtene Revolution waren historische Ausnahmen, weit entfernt von den Umständen, in denen die meisten Demokratien ins Leben gerufen wurden.

Normalerweise funktioniert es so: Eine kleine Gruppe kontrolliert Ressourcen und Macht in einem Staat, bis eines Tages die Mehrheit des Volkes nicht mehr das hat, was sie als Minimum zum Leben erachtet (dieses Minimum muss relativ, nicht absolut gemessen werden – ein bahrainischer Bürger hat mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 22 000 Dollar viel mehr als sein jordanischer Nachbar, aber es ist trotzdem nur ein Bruchteil der Einkünfte der Eliten). Die unzufriedene Mehrheit nutzt dann Massendemonstrationen und andere Methoden des zivilen Ungehorsams, um ihrem Unmut Luft zu machen. Wenn die herrschende Klasse über keine der beiden oben genannten Optionen verfügt und weder wirtschaftliche noch repressive Maßnahmen ergreifen kann, ist sie gezwungen, Macht abzugeben. Meist tut sie dies nach Salamitaktik, und das auch nur, weil sie keine andere Wahl hat. Einsicht, Erleuchtung und Wertewandel der Elite stehen für die Demokratie viel zu selten Pate.

Dieses demokratische Ping-Pong-Spiel lässt sich statistisch belegen. Von den 90 Ländern, die in den vergangenen 50 Jahren den politischen Übergang zur Demokratie versucht haben, sind binnen weniger Jahre 39 Prozent zur Autokratie zurückgekehrt, 46 Prozent wurden Demokratien – und 15 Prozent brauchten etwas länger, aber schließlich landeten auch sie bei der Demokratie.

Grob trifft diese Verteilung auch auf die Staaten der Region zu: Von den sechs arabischen Staaten, die 2011 massive Aufstände erlebten, sind zwei – also 33 Prozent – zu autoritären System zurückgekehrt. Einer befindet sich auf dem Weg in die Demokratie (17 Prozent) und bei dreien (50 Prozent) ist es noch nicht entschieden. Denn wenngleich die Zeichen in Syrien, Jemen und Libyen derzeit nicht auf Demokratie stehen, so haben sich die Verhältnisse in allen drei Ländern bisher auch noch nicht in der Autokratie stabilisiert.

Nicht in allen Fällen muss es erst zu Demonstrationen und Gewalt kommen, damit Eliten Konzessionen machen. Wo sie erkennen, dass Unruhen zu befürchten sind, können Reformen auch schon vorher eingeleitet werden. Ein solcher Versuch ist derzeit in Saudi-Arabien zu beobachten, wo Kronprinz Mohammed Bin Salman begreift, dass auch in seinem Land die Zutaten für einen arabischen Frühling köcheln: Schon jetzt ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre; die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 33,5 Prozent, manche Hochrechnungen sagen 42 Prozent für das Jahr 2030 voraus. Weil die saudische Bevölkerung in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist, wird sich bis dahin die absolute Zahl der Arbeitsuchenden verdoppelt haben – und auch die Zahl derer, die Öl konsumieren anstatt es zu verkaufen. Riads Eisberg liegt noch Jahre in der Zukunft, doch der Kronprinz versucht schon jetzt, den Kurs seiner saudischen Titanic zu ändern. Man mag den Reformaktionismus des Kronzprinzen belächeln, doch seine Überlegung ist richtig. Andere arabische Entscheidungsträger werden unter größeren Schmerzen zum gleichen Schluss kommen.

Brot, Freiheit, Gerechtigkeit

Wann die nächste Revolutionswelle kommt, ist natürlich ungewiss – und wenn es rechtzeitig zu Reformen kommt, wird sie womöglich gar nicht eintreten. Doch sollte es zu einem zweiten Arabischen Frühling kommen, gibt es zwei Bereiche, die wichtig sind, um eine Wiederholung der Fehler von 2011 zu verhindern.

Da ist erstens die Frage des Wahlsystems. In Ägypten führte das Präsidialsystem dazu, dass 51 Prozent der Stimmen zu 100 Prozent der Macht führten. Dies mag demokratisch sein, doch führt es in polarisierten Gesellschaften nur zu noch mehr Entzweiung. Ein System, das Koalitionen fördert (wie etwa das deutsche oder libanesische), ist für eine politische Übergangsphase besser. Umgekehrt entspricht Libyens System einer Parlamentsregierung mit einer zu schwachen ­Exekutive, was die Entscheidungen lähmt. Welches System gewählt wird, sollte vom politischen Kontext abhängen – letztlich ist jedes demokratische System ein Spiegel der Gesellschaft, in der es operiert. Im Arabischen Frühling wurden jedoch die Systeme anderer Staaten einfach über die arabischen Gesellschaften gestülpt, ohne über Konsequenzen nachzudenken.

Zweitens sollte auf Reformen geachtet werden, die die Bevölkerung schnell Verbesserungen spüren lassen. Der Internationale Währungsfonds mag mit seinem Fokus auf die Reduzierung von Haushaltsdefizit und Staatsschulden die besten Absichten haben. Doch das arabische Volk interessieren vor allem drei Dinge: Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Wo es sie nicht bekommt, beginnt das Spiel wieder von vorne –und auf den Frühling folgt erneut ein Winter.

Dr. Florence Gaub ist Senior Analyst am EU Institute for Security Studies in Paris.

  • 1Therese F. Azeng und Thierry U. Yogo: Youth unemployment and political instability in selected developing countries, African Development Bank Group, Working Paper Series, Nr. 171, Mai 2013.
  • 2Transparency International: Middle East and North Africa: A very drastic decline, 25.1.2017.
  • 3Facundo Alvaredo u.a.: Measuring Inequality in the Middle East, 1990–2016: The World’s Most Unequal Region?, World Wealth & Income Database, Working Paper Series 2017/15, September 2017.
  • 4Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2017.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 46 - 51

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren