Von Konflikterben und Kampfsüchtigen
Den Ruf, eine kriegsträchtige Region zu sein, hat die arabische Welt nicht umsonst: Seit 1945 hat es acht „klassische“ Kriege zwischen Staaten gegeben und über 25 asymmetrische Konflikte wie Bürgerkriege, Aufstände und Terrorwellen. 2,3 Millionen Menschen sind dabei ums Leben gekommen; die finanziellen Kosten dieser Konflikte sind mittlerweile kaum mehr zu beziffern, weil es nicht allein um physische Zerstörung, sondern auch um indirekte Kosten wie psychische Folgen, Umweltzerstörung, unverhältnismäßige Militärausgaben und nicht genutzte wirtschaftliche Chancen geht.
Gerade die Entwicklung der vergangenen Jahre hat diese jahrzehntelange Tendenz noch einmal verdeutlicht: Obwohl die Region gerade einmal 5 Prozent der Weltbevölkerung umfasst, steht sie für 40 Prozent der Konfliktopfer. 38 577 Menschen sind 2017 durch politische Gewalt ums Leben gekommen – dies ist zwar eine positive Tendenz verglichen mit dem Vorjahr, doch nach wie vor weit über dem Niveau der vergleichsweise friedlichen frühen 2000er Jahre. Neben Lateinamerika ist der arabische Raum damit die gewalttätigste Region der Welt. Aktuell hat fast jeder Mitgliedstaat der Arabischen Liga ein Problem mit politischer Gewalt; in Führung liegen Syrien, Jemen, Irak, Libyen und Ägypten – doch auch in Algerien, das als vergleichsweise sicher gilt, sterben 60 Menschen pro Jahr bei Terrorattentaten. Konflikte sind dabei nicht nur militärischer Natur: Kalte Kriege existieren zwischen Katar und seinen Nachbarn, aber auch zwischen Algerien und Marokko. Israel hat gerade mal mit zwei Nachbarstaaten diplomatische Beziehungen. Mit zwei weiteren, Libanon und Syrien, ist es nach wie vor im Kriegszustand.
Hohe Rückfallquote
Warum und wie innenpolitische Konflikte entstehen, ist wissenschaftlich noch nicht ganz entschlüsselt. Es gibt aber Elemente, die stark mit Konflikten korrelieren: Politische Repression und ungleich verteiltes Einkommen etwa sind die bekanntesten, doch auch Drittstaaten spielen eine Rolle. Dazu kommen Themen wie nationale Identität, geografische Lage, Militärausgaben, Zugang zu Finanzmitteln (etwa durch Drogen oder Diamanten) und ein hoher Anteil von jungen Männern an der Bevölkerung – vor allem, wenn sie arbeitslos sind. Das Problem mit dieser Liste: Eine ganze Reihe von Staaten erfüllt zwar diese Kriterien, erlebt aber weder Bürgerkriege noch Terrorwellen. Einige Fragen der Konfliktforschung bleiben daher noch unbeantwortet. Eines jedoch ist erwiesen: Wenn ein Staat erstmal einen Konflikt erlebt hat, sind seine Chancen, einen weiteren zu erleben, dramatisch hoch: 57 Prozent aller Länder, die einen Konflikt durchlebten, erlebten mindestens noch einen. Die Rückfallquote ist besonders hoch in den ersten zehn Jahren nach einem Konfliktende und wird progressiv weniger – aber sie bleibt hoch. Der Grund dafür ist, dass viele Konflikte unsauber gelöst werden: Auch wenn die Waffen schweigen, sind die Hauptursachen nicht beseitigt.
Die arabische Welt ist keine Ausnahme von dieser Regel. Auch wenn die vergangenen Jahre besonders blutig waren, hat sie schon vorher Wellen von Gewalt erlebt, etwa in den 1980er und den frühen 1990er Jahren. Die Mehrheit dieser Konflikte dürfen nicht als unabhängig voneinander auftretende Phänomene verstanden werden, sondern als „Konflikterben“: aktuelle Konflikte, die mit einem anderen, nicht richtig gelösten Konflikt verwandt sind. Beispiele solcher Nachfahren anderer Konflikte gibt es in der Region zahllose: So steht der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006 im Zusammenhang mit dem libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990), der zur Entstehung der Miliz führte. Der Bürgerkrieg selbst wiederum hängt direkt mit dem Nahost-Konflikt (seit 1948) zusammen, weil er sich unter anderem an der Präsenz der palästinensischen Flüchtlinge im Land entzündete. Heute kämpft die Hisbollah in einem ganz anderen Krieg, in Syrien, und trägt so zu einem neuen Konflikterben bei. Oder im Jemen: Der Krieg dort ist nicht nur ein Echo des Arabischen Frühlings, sondern auch des Bürgerkriegs der 1960er Jahre, welcher schon einmal Zaiditen mit Waffen sah. In kleinen Teilen spiegelt er auch den Bürgerkrieg von 1994, als der Südjemen sich wieder unabhängig machen wollte. Auch der algerische Bürgerkrieg der 1990er Jahre war, unter anderem, eine Revolte gegen die Dominanz der Veteranen des Befreiungskriegs gegen Frankreich in den 1960er Jahren.
Besonders deutlich sieht man die Verbindung zwischen den Kriegen an den „Konflikttouristen“: Kämpfer, die von einer Kriegszone zur nächsten ziehen. Bestes Beispiel hierfür sind diejenigen, die erst gegen die Sowjetunion in Afghanistan oder in Bosnien kämpften, Al-Kaida nach dem ersten Irak-Krieg gründeten und in Tschetschenien gegen Russland kämpften, später zum Islamischen Staat wurden und dann in Syrien und im Irak ein Terrorregime führten. Diese Handlungsreisenden in Sachen Terror sind nicht Ursache des Konflikts selbst, aber sie tauchen vornehmlich dort auf, wo andere Probleme nicht gelöst wurden.
Der Arabische Frühling brach aus in Staaten, die streng genommen keinen direkten Konfliktvorfahren vorweisen konnten – doch auch hier war Gewalt Teil der politischen Sprache. In Syrien wurden 1982 mehrere Zehntausend Menschen in Hama von der Armee massakriert; Libyen hatte eine institutionalisierte Mordkampagne gegen „streunende Hunde“, wie es Oppositionelle nannten, und auch Ägypten unter Nasser, Sadat und Mubarak war nicht gewaltfrei: Sadat selbst wurde während einer Militärparade ermordet, Terrorattentate in den 1990er Jahren kulminierten 1997 in 67 Todesopfer, die meisten davon aus Europa. Auch dies waren Indizien für einen größeren Konflikt, der unter der Oberfläche schwelte. Bei fast allen Konflikten in der Region findet man solche „Vorfahren“ – was manche zu dem Schluss kommen ließ, diese Staaten hätten einfach eine größere Tendenz zu Konflikten und seien demnach „fightaholics“, süchtig nach dem bewaffneten Kampf.
Wie entstehen Konflikterben?
Wiederkehrende Konflikte sagen vor allem eines aus: Der Urkonflikt wurde nicht gelöst. Doch oft ist es nicht einfach, diesen zu identifizieren, weil ein Konflikt ständig neue Nebenkonflikte generiert. Nur ein Beispiel: Der libysche Krieg von 2011 ging im Kern um die Frage, wer das Land wie regiert. Der Sturz des Gaddafi-Regimes beantwortete nur einen Teil dieser Frage. In der Nachkriegsordnung kam es zum Gerangel, das 2013 in einer Belagerung des Parlaments durch Milizen gipfelte: Die Abgeordneten wurden gezwungen, ein weitreichendes „Entgaddafizierungsgesetz“ zu verabschieden. In seiner Bandbreite war dieses Gesetz wesentlich extremer als die Entnazifizierung oder Debaathifizierung im Irak. Es machte keinen Unterschied zwischen einfachen Angestellten oder den Schergen des Regimes. Daran entzündete sich ein Jahr darauf der bis heute schwelende Konflikt zwischen den früheren Offiziellen und den „Revolutionären“. Der Islamische Staat hat mit diesem Konflikt nichts zu tun. Aber: Wie oben erwähnt, tauchen „Konflikttouristen“ oft in genau solchen Situationen auf – wie auch im Irak.
Dort ging und geht es um viel mehr als um den Islamischen Staat – es geht um die politische Ordnung, die seit 2003 existiert und mit der sich vor allem die sunnitische Gemeinschaft, zunehmend aber auch viele schiitische Iraker nicht identifizieren können. Auch die Verträge von Oslo sind deshalb gescheitert, weil sie eine bürokratische Antwort auf eine tiefergehende Frage waren. Die Verträge wollten die Post-1967-Situation in den palästinensischen Gebieten regeln, dabei geht der Konflikt auf 1948 zurück, als die Vertreibung der Palästinenser den Grundstein für das Problem von heute legte.
Weil nachhaltige Konfliktlösung und Kriegsende bei weitem nicht identisch sind, bleibt die Situation in der Region nach wie vor höchst heikel: In Syrien mögen die Kampfhandlungen sich dem Ende nähern, der Grund für den Krieg – Präsident Assad und wie er das Land regiert – hat sich nicht verändert. Dies bedeutet, dass der Konflikt sehr wahrscheinlich in eine Guerillaform übergeht, die nachhaltigen Frieden und Wiederaufbau unmöglich macht. Denn militärische Gewalt kann einen Konflikt nicht einfach ersticken: Erstens ist sie nicht so tödlich, wie man denkt (im Schnitt sterben 15 Prozent der Beteiligten in einer Kampfhandlung), und zweitens stirbt die Frustration nicht mit ihnen. Für jeden syrischen, irakischen, ägyptischen, libyschen oder jemenitischen Gefallenen bleibt eine mehrköpfige Familie, die den Konflikt „erbt“ und weiterträgt.
Die Aussichten sind daher auch für die anderen Länder der Region nicht besser, wenn sie sich nicht der Tatsache stellen, dass Reformen unumgänglich sind. Solange der Irak etwa kein politisches Zuhause für alle Iraker bietet und sie weiterhin in ethno-religiöse Gruppen einteilt anstatt in Bürger, wird das Land ein Konfliktherd bleiben. Gleiches gilt für Libyen. Und auch für Ägypten, wo mittlerweile fast jeden Tag ein Terrorattentat stattfindet.
Und der Islamische Staat? 25 000 seiner Kämpfer sind nach wie vor auf freiem Fuß; der „Konflikttourismus“ wird weitergehen – nach Europa oder anderswo –, solange Staaten um ein Problem herum reformieren, statt es zu lösen.
Dr. Florence Gaub ist stellv. Direktorin des EU Institute for Security Studies (EUISS) in Paris.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 20-23