IP

01. Sep 2005

Bitte erklären Sie uns die Welt

Deutschlands Wissenschaft und das außereuropäische „Ausland“

Deutschland hat ein schwieriges Verhältnis zur Welt. Auch die Wissenschaft ist belastet durch politische Verstrickungen. Heute liegen die Disziplinen im Streit, und die Organisation der Forschung wird den Herausforderungen nicht gerecht. Darum mündet diese Geschichte und Gegenwartsdiagnose der Regionalwissenschaften in Verbesserungsvorschläge.

In der Januar-Ausgabe der IP hat der Tübinger Ethnologe Thomas Hauschild eine vehemente Kritik der „Auslandswissenschaft nach der Postmoderne“ formuliert.1 Alle bekommen ihr Fett weg: Viele „postmoderne“ Intellektuelle seien angesichts der Aktivitäten von Al-Qaida unfähig, „die Herausforderung in ihrer Tiefe zu begreifen, mit ihren Protagonisten in Dialog zu treten, sie gezielt zu bekämpfen oder auch beides zu versuchen, also Politik zu treiben im wahren Sinne des Wortes.“ Aber auch „jene Politologen, Philosophen, Soziologen usw., die auf ‚harte Tatsachen‘ pochen“, finden vor dem gestrengen Blick Hauschilds keine Gnade. Er schilt sie des „formalistischen Positivismus“, unfähig, „eine Stellungnahme zu dem sich anbahnenden Weltbürgerkrieg ... aus der Tiefe des auslandswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Materials heraus“ zu liefern. Diese weit verbreitete Ignoranz cum Unfähigkeit sei umso bedenklicher, da die Zeit dränge und der Feind nicht ruhen wolle.

Um der Misere abzuhelfen, schlägt Hauschild vor, dass die „Auslandswissenschaftler“ sich alsbald „eine Vielfalt von vergessenen Fähigkeiten“ neu aneignen müssten. Dazu zählt er „Karten lesen ... und ökonomische Statistiken auswerten, Armeestärken und Terrains kalkulieren und die Bekennerschreiben von Al-Qaida Ernst nehmen, mit Sufi-Orden philosophieren.“ Denn, so Hauschilds Warnung: „Wenn der Westen ... überleben will, muss er wissen, wer seine Feinde sind.“ Zwei zentrale Aussagen in seinen Ausführungen möchte ich besonders hervorheben. Zum einen seinen Hinweis auf die fehlende „Auslandskompetenz“ der Kultur- und Sozialwissenschaften hierzulande, zum anderen seinen zumindest impliziten Vorschlag, „Auslandswissenschaften“ als eine Art „Gegnerforschung“ zu konzipieren. Beide Gesichtspunkte berühren wesentliche Aspekte in der Geschichte der Beschäftigung deutscher Wissenschaftler und Institutionen mit dem „Ausland“, um die es im Folgenden gehen soll. Der Schwerpunkt liegt dabei auf jenen Fächergruppen, die sich mit der außereuropäischen Welt befassen, vor allem auf den Afrika-Wissenschaften.

Vorab noch ein begriffliches Problem: Der Terminus „Auslandswissenschaften“ hat mit der Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus zweifellos seine Unschuld verloren.2 Er bedarf zumindest der kritischen begriffsgeschichtlichen Reflektion, die an dieser Stelle jedoch nicht geleistet werden kann. Verbreiteter und gleichsam unbelasteter ist die Bezeichnung „Regionalwissenschaften“, die freilich recht unglückliche deutsche Übersetzung von „area studies“ – unglücklich, weil die darin steckenden Begriffe „Region“ und „regional“ hierzulande gemeinhin mit geographischen Entitäten wie Ostfriesland verknüpft werden. Auf diese Weise entsteht eine Gleichrangigkeit der Bedeutungen von Ostfriesland und, sagen wir, Afrika, die zwar einer weit verbreiteten Wahrnehmung entsprechen mag, dennoch höchst problematisch ist. Bleibt die ebenfalls nicht befriedigende Lösung, einfach das englische „area studies“ zu übernehmen. Nun ist es leider wesentlich leichter, Begrifflichkeiten zu kritisieren, als brillante Gegenvorschläge zu formulieren. Im Folgenden finden daher „area studies“ und Regionalwissenschaften mangels Alternativen Verwendung.

Kolonialismus, Kalter Krieg, Regionalwissenschaften

Um die gegenwärtige Situation der „area studies“ in Deutschland zu verstehen, hilft zunächst ein Blick zurück. Denn Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts prägen bis heute in unterschiedlicher Intensität die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen und Mittleren Osten. So setzte sich im Zeitalter des Hochimperialismus in den akademischen Disziplinen zunehmend die Vorstellung durch, dass es zwischen Europa und der außereuropäischen Welt eine ontologische Differenz zu geben schien.3 In der Geschichtswissenschaft etwa verschwanden die außereuropäischen Kulturen nach und nach aus dem Blickfeld und wurden in Regionalwissenschaften entsorgt. Hatte die Universalgeschichte der Aufklärungszeit zum Beispiel ein beträchtliches Interesse an der chinesischen Gesellschaft, erklärte sich die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts für nicht mehr zuständig. Der Historiker Jürgen Osterhammel hat diesen Vorgang prägnant beschrieben: „Im 18. Jahrhundert verglich sich Europa mit Asien, im 19. hielt es sich für unvergleichlich.“4 In den in dieser Zeit entstehenden Disziplinen der systematischen Sozialwissenschaften, in der Soziologie, der Nationalökonomie und der Politikwissenschaft, schrieb man die gleichsam „imperiale Trennung zwischen Europa als Subjekt und der kolonisierten Welt als Objekt“ (Conrad/Randeria) institutionell fest. Die genannten Fächer waren für die europäische Welt der Moderne zuständig, „vormoderne“ Kulturen hingegen gehörten in den Gegenstandsbereich der Anthropologie und Ethnologie. Für die alten, inzwischen scheinbar stagnierenden asiatischen Hochkulturen zeichneten fortan etwa Indologie, Sinologie und Japanologie verantwortlich, die ebenso wie die sich bald darauf etablierende Afrikanistik stark philologisch orientiert waren.

Bezeichnend für die damals vollzogenen politischen wie fachlichen Grenzziehungen war folglich die, wie Johannes Fabian es nennt, „Versagung der Gleichzeitigkeit.“5 Diese Versagung kulminiert im Begriff „nichtwestlich“, impliziert also eine Sichtweise, der zufolge Gesellschaften und Kulturen negativ durch eine fehlende Moderne definiert sind. Selbst ein für seine Zeit so weitblickender Wissenschaftler wie Max Weber war durch diesen Blickwinkel geprägt. Sein Erkenntnisinteresse an den orientalischen Zivilisationen im Rahmen einer vergleichenden Soziologie war letztlich durch die Frage bestimmt, wie sich deren „Unfähigkeit“, zur Moderne fortzuschreiten, erklären ließe. Die Unterscheidung zwischen Gesellschaften und Kulturen, denen eine Modernität, eine geschichtliche Entwicklung zugebilligt bzw. verwehrt wird, ist zwar seit geraumer Zeit empirisch wie theoretisch als höchst problematisch erkannt. Gleichwohl erfreut sich die darauf basierende Struktur der disziplinären Abgrenzung einer ungebrochenen Vitalität.6

Inwieweit die regionalwissenschaftlichen Fächer in Deutschland sich seither den Vorwurf des „Orientalismus“ gefallen lassen müssen, soll hier nicht zum tausendsten Mal erörtert werden. Hingewiesen sei lediglich auf die Tatsache, dass etwa die Afrikanistik, die jüngste dieser „regionalwissenschaftlichen“ Disziplinen, zum einen personell wie ideell eng mit den christlichen Missionsbewegungen verzahnt war, zum anderen aus einem Praxisbezug heraus entstand. Dieser Praxisbezug ergab sich aus den Anforderungen der jungen Kolonialmacht Deutschland, die Expertise etwa für die – vor allem sprachliche und „landeskundliche“ – Ausbildung von Kolonialbeamten benötigte. Dass die Afrikanistik in diesem Kontext „orientalistisches Wissen“ produzierte, ist das eine; das andere ist ihr Selbstverständnis, auch Ser-viceeinrichtung für politische und ökonomische Interessen sein zu müssen, um ihre Existenz legitimieren zu können. In anderen Worten: „Gesellschaftlich relevant“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Bezug zur kolonialen Praxis. Im übrigen ist das 1908 ins Leben gerufene Hamburger Kolonialinstitut, das als wissenschaftliches Forschungsinstitut das Material für Ausbildung und Praxis in den Kolonien aufbereiten und lehren sollte, der institutionelle Vorläufer der 1919 gegründeten Universität Hamburg.

Den „Verlust“ der deutschen Kolonien im Ersten Weltkrieg konnten die Afrikawissenschaften institutionell recht gut verkraften, wenngleich die Nachfrage aus Politik und Wirtschaft zunächst nachließ. Die Beschäftigung mit Lateinamerika erlebte in dieser Zeit gar einen Boom. Der Hamburger Romanist Rudolf Grossmann verglich die deutsche Begeisterung der zwanziger Jahre für die Länder südlich des Rio Grande gar mit dem Philhellenismus in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts.7 Doch nicht allein kulturelle Interessen, sondern auch handfeste kommerzielle Anliegen förderten die Unterstützung wissenschaftlicher Forschung über den „letzten freien Kontinent“ durch Politik und Wirtschaft, wie sie sich u.a. in der Gründung von Ibero-Amerika-Instituten in Hamburg und Berlin manifestierte. Die Afrikawissenschaften profitierten dann in besonderem Maße von den Bestrebungen der Nationalsozialisten, ein deutsches Kolonialreich in Afrika (wieder) zu errichten. Sie nutzten die Gunst der Stunde, als in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs die Naherwartung eines großen Kolonialreichs auf dem afrikanischen Kontinent zur Planung und partiellen Etablierung megalomaner Forschungsprojekte unter Einbeziehung der Afrikawissenschaften führte.

Die eindeutige „Verstrickung“ und In-Dienst-Stellung der diversen Zweige der „Kolonial- und Auslandskunde“ an Universitäten und anderen Institutionen bedeutete weit über 1945 hinaus eine schwere Belastung für die entsprechenden Fächer. Im Bereich der universitären Lehre etwa hatten sich „auslandswissenschaftliche“ Studiengänge so diskreditiert, dass eine Anknüpfung an sie zunächst undenkbar schien. In den stärker philologisch ausgerichteten Bereichen, etwa der Afrikanistik, war hingegen von einer Zäsur lange kaum etwas zu spüren. Der Westen insgesamt sah sich jedoch im Zuge der rasch nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Entkolonialisierungswelle gezwungen, sein Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien neu zu bestimmen. Da sich die nachkolonialen Länder ihrerseits bemühten, Nationalstaaten nach europäischem Vorbild zu werden, wurden sie sukzessive als Gegenstand der unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen der Moderne anerkannt. Gleichwohl blieben sie etwa in der Soziologie, Politologie, Geschichtswissenschaft und Ökonomie auf jeweils marginalisierte Disziplinränder begrenzt. Mit der wissenschaftlich wie politisch höchst einflussreichen Idee der Modernisierung wurde sodann die räumliche Differenz auf eine zeitliche Achse transponiert. Fortan unterschied man zwischen „entwickelten“ und „unterentwickelten“ Ländern. So wurden beispielsweise in der Soziologie vier Fünftel der Menschheit zum Gegenstand einer Subdisziplin, der Entwicklungssoziologie.8

Parallel kam es zur Institutionalisierung der „area studies“; die Vorreiterrolle übernahmen dabei die Vereinigten Staaten. Die Einheit dieses neu etablierten Zweiges wurde über Räume bzw. Regionen (in der Regel Kontinente) konstituiert, denen man dann jeweils eine besondere Kultur zuordnete. Die auf diese Weise geschaffenen Fächer schöpften einmal aus dem Methodenarsenal der „systematischen“ Fächer, aus denen sie zusammengesetzt waren, zum zweiten hielten sie jedoch eng an einem Kulturbegriff fest, der „Kultur“ im Sinne der Container-Theorie an feste regionale Grenzen band. Der Kontext des Kalten Krieges spielte hier eine entscheidende Rolle. Dies lässt sich gut im Bereich der Lateinamerikaforschung nachvollziehen, wo die Einrichtung entsprechender Zentren – etwa in Austin/Texas und in Berkeley – sowohl von der Regierung als auch von privaten Stiftungen wie der Ford Foundation, der Rockefeller Foundation sowie der Carnegie Corporation forciert wurde. Der American Council of Learned Societies sowie der Social Science Research Council übernahmen Aufgaben bei der Koordinierung der Forschungs- und Lehraktivitäten der Zentren.9 Bei der Gründung der Zentren ging es zum einen darum, im Kontext des damals grassierenden Entwicklungsparadigmas und der Modernisierungstheorie Lateinamerika an die Moderne heranzuführen, zum anderen Wissen über diese Region zu akkumulieren, das sowohl zur politischen Einflussnahme (bzw. zur „Eindämmung kommunistischer Einflüsse“) als auch zur ökonomischen Durchdringung genutzt werden sollte. Den „area studies“ kam ein unmittelbarer praktischer Zweck zu: Sie sollten auf den potenziell konfliktreichen Kontakt vorbereiten, sie sollten politische Bündnisse fundieren und wirtschaftlicher Expansion hilfreich sein.

Auch in der Bundesrepublik und parallel in der DDR finden wir in dieser Phase, wenngleich in sehr viel geringerem Ausmaß, erste Ansätze der Institutionalisierung von „area studies“. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Fächerkonstellationen erwiesen sich häufig jedoch als instabil, da sie einer ständigen Erweiterung durch neue Disziplinen, einer Umgruppierung je nach den methodologischen Präferenzen und einer expliziten Infragestellung durch die Änderung der gesellschaftlichen Kontexte unterlagen und deshalb kaum die „harten Gehäuse“ langer institutioneller Traditionen ausprägen konnten. Die in der Regel marginale Stellung der „area studies“ hat dazu geführt, dass genügend große institutionelle Cluster und Fächerkonstellationen nur an wenigen Standorten überlebensfähig waren. Von den wenigen Zentren mussten Wissens- und Deutungsbedarf nationaler Wissenschaftssysteme befriedigt werden. Zugleich waren sie in besonderem Maße auf eine transnationale Vernetzung angewiesen. Diese transnationale Tendenz hat ihre Ursache einerseits im notwendigen Kontakt zum Untersuchungsraum (Feldstudien, Beschaffung von Material als so genannte graue Literatur, Ausbildungsfunktion für außereuropäische Wissenschaftler, aber auch politisches Engagement im Sinne eines Einverständnisses mit Expansionsstrategien oder von internationaler Solidarität); anderseits ist diese transnationale Tendenz aber auch in einer Ressourcenschwäche begründet, die innerhalb der eigenen Wissenschaftskultur zu überwinden unmöglich wäre.

Area Studies heute: Probleme und Perspektiven

Vor einigen Jahren haben Michael Lackner und Michael Werner die Ergebnisse einer hochkarätig besetzten Arbeitsgruppe zur Problematik der „area studies“ vorgestellt und dabei drei Richtungen in diesem Feld identifiziert. Ihre Beobachtungen sollen im Folgenden wiedergegeben werden.10

1.        Eine erste, in vielen Hinsichten die gleichsam klassische, Ausrichtung ist jene, die aus philologischen Ansätzen hervorgegangen ist und die sich weiterhin vorwiegend mit Sprache, dazu mit Literatur und partiell auch mit der Geschichte der jeweiligen Regionen befasst. Ihr Methodenarsenal stammt aus den genannten Fächern, es gibt jedoch die Tendenz, eine positiv konnotierte „Otherness“, ja Einzigartigkeit des zu traktierenden „Kulturraums“ zu behaupten.

2.        Eine zweite Richtung ist als stärker sozialwissenschaftlich zu charakterisieren und analysiert auf der Grundlage einer weitgehend funktionalistisch geprägten Methode nahezu ausschließlich gegenwartsbezogen gesellschaftliche und politische Wirkungszusammenhänge. Diese Richtung ist am deutlichsten das Kind der Gründungen des Kalten Krieges im Bereich der „area studies“, sie ist stark von politischen Vorgaben und unter gewichtiger Beteiligung der Politikwissenschaft geprägt. Zwischen der ersten und der zweiten Richtung bestehen Gräben, die gegenwärtig etwa in den Afrikawissenschaften innig gepflegt werden, was zum Teil auch mit dem Druck auf Ressourcen zu tun hat.11 Während die eher philologisch geprägte Richtung an die sozialwissenschaftliche Richtung den Vorwurf erhebt, „alles über einen Kamm zu scheren“, lokale Sprachen zu ignorieren und zur Hilfswissenschaft westlicher Politiker und Geschäftsleute degeneriert zu sein, wird von sozialwissenschaftlicher Seite an die Adresse der philologisch orientierten Vertreter der Vorwurf gerichtet, ihre über die rein philologische Textpflege hinausgehenden Aussagen seien irrelevant für die Erfassung gegenwärtiger Zusammenhänge; letztlich sei ihr Feld ein Rückzugsgebiet für Feingeister.

3.        Die dritte Richtung ist jünger und stärker kulturwissenschaftlich ausgerichtet, bemüht, interdisziplinäre Ansätze zu koordinieren, fragt nach Wahrnehmungen und Repräsentationen. Diese Richtung leidet unter der Schwierigkeit, ihren Gegenstand sinnvoll abzugrenzen, ohne dabei in die alten Definitionen von Kultur, d.h. in nationale oder im weiteren Sinne rein räumliche oder sprachliche Kategorisierungen zurückzufallen.

Diese drei Richtungen sind mit einer gegenwärtig durchaus populären Nachfrage nach regionalwissenschaftlicher Expertise konfrontiert, die sich – wenig überraschend – besonders deutlich an jene Wissenschaftler richtet, die sich mit vom Islam geprägten Regionen zwischen Nordafrika und Südostasien befassen. Die Aufforderung, möglichst kurz und bündig zu erklären, warum „der Islam“ zu Gewalt tendiert oder gar gewalttätig ist, ist in diesem Zusammenhang eine klassische Frage. Die Kulturalisierung globaler Konflikte, wie sie sich zunehmend Bahn bricht, stellt eine besondere Herausforderung dar. Parallel jedoch wirkt sich auch die veränderte weltpolitische Lage seit dem Ende des Kalten Krieges aus. Verdankten die „area studies“ wie erwähnt im engeren Sinne ihren Aufbau nicht zuletzt dem strategischen Interesse westlicher und östlicher Regierungen im Zeitalter der Systemkonkurrenz, so hat sich die politische Interessenlage deutlich verändert. Lokale und supranationale Fragestellungen treten an die Stelle einer ausschließlich auf Nationalstaaten bezogenen Information.

Überdies wird das alte holistische Verständnis einer territorial verankerten Kultur, das konstitutiv für die „area studies“ war, zunehmend durch eine prozesshafte und praxisorientierte Auffassung von Kultur als, wie Ulf Hannertz es nennt, „work in progress“ abgelöst. Mit der Loslösung des Kulturbegriffs von ihren räumlichen Bezügen rückten Prozesse wie kulturelle Globalisierung und Diaspora stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Phänomene ermöglichen zum einen die Auflösung der traditionellen Vorstellung einer Kongruenz von Kultur und Raum, sind andererseits aber ohne symbolische Raumstrukturen nicht zu denken. Was bedeutet die Entkoppelung von Kultur und Raum für die „area studies“? Diese Entkoppelung bedeutet die Einsicht, dass Kultur nicht mehr nach vorgegebenen räumlichen Strukturen definiert werden kann, sondern die einzelnen „Regionen“ selbst als Resultate kultureller Markierungsprozesse verstanden werden müssen. „Was ist an Afrika afrikanisch?“ sollte also eine Frage sein, nicht eine Vorraussetzung. Die Untersuchung sozialer Netzwerke, Diasporas, kultureller Verknüpfungen und Affinitäten sollte tatsächlichen Bewegungen im Raum folgen, anstatt zwischen bereits definierten „Lokalitäten“ oder „Regionen“ und einer vagen Vorstellung vom „Globalen“ zu unterscheiden.12

Ein zentrales, immer wieder diskutiertes Problem betrifft schließlich das Verhältnis von „area studies“ und den so genannten systematischen Disziplinen. Es bestand und besteht die Tendenz der „area studies“, Anstrengungen zu unternehmen, ihren Gegenstand, gemessen an den Standards der sich als „systematisch“ verstehenden Fächer, gleichsam „wissenschaftsfähig“ zu machen, d.h. sowohl empirisch zu erschließen als auch an den Theoriefortschritt in jenen Fächern anzuschließen. Oft ist die Haltung der „area studies“ gegenüber den systematischen Disziplinen eher defensiv, oder besteht darin, Leistungsausweise vorzulegen, die den Beitrag der Regionalwissenschaften für die jeweiligen „Mutterdisziplinen“ belegen sollen.13

Man könnte, sollte allerdings noch weiter gehen und die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass das Wissen über eine Region dazu führen könnte, die Theorien, Epistemologien oder Grenzen einer Disziplin in Frage zu stellen. Es stellt sich des Weiteren die Frage, ob die heftigen Attacken gegen „area studies“, wie sie in den vergangenen Jahren vor allem in den USA etwa aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften formuliert wurden, aus dem beträchtlichen Selbstbewusstsein bestimmter Disziplinen herrühren, oder ob es nicht vielmehr umgekehrt ist: dass sich Vertreter bestimmter Disziplinen darüber Sorgen machen, ein Input von außerhalb der sich selbst bestärkenden Wissensschemata könnte für sie bedrohlich sein. In dem Maße, wie Ausbildung in Sprachen, Feldforschung, die Kooperation mit einheimischen Forschern (das Forschen mit, nicht Forschen über, wie es Wolf Lepenies formuliert hat) und die Einbindung in spezifische lokale Strukturen entwertet werden und Nachwuchswissenschaftlern angeraten wird, Mehrländerstudien zu machen, die wenig profunde Kenntnisse über irgendeinen dieser Orte und Kontexte verlangen, wird, so meine These, die Qualität der Kultur- und Sozialwissenschaften insgesamt leiden, nicht nur die Qualität der „area studies“. Die „area studies“ waren zwar niemals eine Alternative zu disziplinären Praktiken, aber sie waren bisher eine wertvolle Ergänzung, indem sie eine intellektuelle Gemeinschaft geformt haben, die darauf insistierte, dass Wissenschaftler „something about someplace“ wissen sollten.

Was ergibt sich aus alledem für die Organisation der Regionalwissenschaften in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Joachim Nettelbeck, der Sekretär des Wissenschaftskollegs zu Berlin, hat jüngst einleuchtende Vorschläge unterbreitet.14 Er plädiert für nicht weniger als für eine „neuartige Organisation der Forschung“. Die so genannten kleinen Fächer müssten aus ihrer Marginalisierung und Überforderung befreit werden, eine Überforderung, die daraus entstehe, „alles gleichzeitig leisten zu wollen: Studium der Sprache, Geschichte, Kultur und sozialen Strukturen, Forschung über alle Disziplinen hinweg, Beratung für Politik und Wirtschaft und ständige Medienpräsenz“. Andererseits bedürfe es der Öffnung der systematischen Disziplinen für „das Anregungspotenzial fremder Erfahrungen“. Auf institutioneller Ebene hieße das, Freiräume für Forscher zu schaffen, „einerseits in spezialisierten Instituten zu den Regionen und andererseits in Räumen, in denen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und unterschiedlicher Regionalkompetenz auf Zeit zusammenarbeiten können“. Solche eher behutsamen, gleichwohl weitreichenden Anregungen erscheinen mir sinnvoller für die Debatten über die Zukunft der Regionalforschung als kernig formulierte Rundumschläge.

Selbstverständlich aber hat, um dies am Schluss zu betonen, Hauschild völlig Recht mit seiner Beobachtung, dass es hierzulande mit profunden Kenntnissen „über das Ausland“ nicht besonders gut bestellt ist und in dieser Hinsicht Abhilfe dringend Not tut. Der Vorwurf der mangelhaften Kenntnisse trifft offenkundig leider auch jene, die sich etwa in den Medien als Experten für „das Ausland“ präsentieren – wie zum Beispiel Thomas Hauschild. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung konnte man kürzlich einen Artikel aus seiner Feder über Togo lesen.15 Völlig losgelöst von der einschlägigen Forschung entwirft der auf Südeuropa spezialisierte Ethnologe etwa einen angeblichen „alten Gegensatz zwischen elitären Großgrundbesitzern und Händlern an der Küste und den bäuerlichen Stammesgesellschaften, die sich vor ihnen in den Norden zurückgezogen haben“. Die lange und äußerst kontroverse Diskussion um den Begriff „Stammesgesellschaft“ wird geflissentlich ignoriert. Hauschild ist auch der erste, der „arabische Sklavenhändler“ als Faktor der Geschichte Togos identifiziert. Der Rest der Forschung verortet diesen Faktor in Ostafrika. Und nicht Togos Präsident Eyadema hat eine riesige Kathedrale errichten lassen, sondern der langjährige Präsident der benachbarten Elfenbeinküste, Houphouët-Boigny.

Genug der Pedanterie. Die Lehre aus diesem Beispiel ist jedoch wichtig, und sie trifft in vielen Fällen zu. „Auslandswissenschaftliche Kompetenz“ ist allein über das Internet nicht zu erwerben. Und wie immer die Regionalwissenschaften institutionalisiert und legitimiert werden mögen, weitschweifige Spekulationen ohne empirische Basis helfen gewiss nicht weiter.

1 Thomas Hauschild: Was ging schief? Auslandswissenschaft nach der Postmoderne, Internationale Politik, Januar 2005, S. 23–33.

2 Einschlägig dazu Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998. Six war Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und Präsident des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts in Berlin.

3 Dazu und auch für die folgenden Abschnitte grundlegend: Sebastian Conrad und Shalini Ran-deria: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/New York 2002, bes. S. 20–22.

4 Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, S. 84.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 42 - 49

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