Buchkritik

01. Nov. 2010

Nach dem Wintermärchen

Wie Südafrika sein frisch erworbenes Renommee zu verspielen droht

Wenige Monate nach der glänzend bestandenen Bewährungsprobe der Fußball-WM ist die gute Stimmung in Südafrika wieder dahin. Streiks, Korruption, Staatsversagen, Aids-Gefahr: Die Liste der Probleme ist lang. Und auf der Weltbühne tut das Land sich schwer, seine Rolle zwischen Nord und Süd zu finden. Was tun? Drei Neuerscheinungen.

Die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika war allen Unkenrufen zum Trotz ein organisatorischer Erfolg. Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton lobte kurz nach dem großen Sportereignis anlässlich seiner Rede zum 92. Geburtstag von Nelson Mandela: „Ihr habt zwar den Worldcup nicht gewonnen, aber etwas viel Wichtigeres: die Bewunderung der Welt als Ausrichter dieses großartigen Ereignisses.“ Clinton schlug freilich sogleich einen skeptischeren Ton an: „Die Frage ist jetzt jedoch: Habt ihr die Kraft, die Intelligenz und das Talent, auf diesem Weg weiterzumachen, jeden Tag zu einem Mandela-Tag und zu einem Worldcup-Tag zu machen?“

Gegenwärtig sieht es so aus, als sei das Land am Kap dabei, sein gerade gewonnenes Image-Kapital ein Stück weit wieder zu verspielen und gleichsam vom Weg abzukommen. Die gute Stimmung ist jedenfalls dahin. Der mehrwöchige Streik im öffentlichen Dienst im August und September war nicht lediglich ein Arbeitskampf um mehr Geld, sondern ein Machtkampf zwischen dem regierenden African National Congress (ANC) und den Gewerkschaften. Die Wut über Korruption und Vetternwirtschaft in der politischen Klasse des Landes wächst. Diese Wut oder wenigstens Katerstimmung verspürten bereits vor dem Fußballereignis viele südafrikanische Intellektuelle. Das zeigt die von der Hamburger Journalistin Renate Wilke-Launer herausgegebene Anthologie, in der zehn der bekanntesten Denker des Landes dem „neuen Südafrika“ kräftige Standpauken halten.

In ihrer kompakt und engagiert geschriebenen Einleitung zeichnet Wilke-Launer den Weg Südafrikas seit den ersten freien Wahlen 1994 nach. Mit dem Beginn der demokratischen Ära war für die große Mehrheit der schwarzen Afrikaner die Erwartung verbunden, die extreme Ungleichheit in der Einkommensverteilung abzubauen. Doch haben, notiert die Autorin, die Umverteilungsmaßnahmen der vergangenen Jahre letztlich nur eine kleine Gruppe begünstigt, die über Zugang zu den Machtpositionen verfügt. Die Bekämpfung der Armut zeitigt bislang wenig Ergebnisse, im Gegenteil: Als besonders gravierend könnte sich angesichts des niedrigen Durchschnittsalters des Landes die Jugendarbeitslosigkeit erweisen. „Südafrikas Jugend ist eine Zeitbombe“, zitiert Wilke-Launer die Financial Mail. Und weiter: „Die jungen Leute haben nicht nur eine schlechte Bildung und nichts zu tun, viele sind auch akut gefährdet (Infektion mit HIV/Aids), unterernährt und arm. Viele Jugendliche sehen für sich kaum eine Zukunft in der Gesellschaft und der Wirtschaft des Landes.“

Das Dilemma des Landes beschreibt die Herausgeberin mit treffenden Worten: „Südafrika muss etwas Besonderes leisten und sich gleichzeitig darüber klar werden, dass es in einer turbulenten Welt nichts Besonderes mehr ist. In der kalten Luft der Weltwirtschaft muss es mit den Ländern konkurrieren, die – wie etwa Brasilien – vor Kraft strotzen.“ Immerhin: Trotz aller negativen Aspekte mag Wilke-Launer die Hoffnung nicht komplett aufgeben. Sie verweist auf engagierte Bürgerinnen und Bürger, eine Reihe von durchaus fähigen Ministern, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse und mutige Journalisten.

In den meisten Beiträgen des Bandes überwiegen allerdings Skepsis und harsche Kritik. Eine gefährliche Mischung aus Zensur und Selbstzensur und ein bedrohliches zivilgesellschaftliches Vakuum diagnostiziert etwa der Johannesburger Professor William Gumede in seiner Analyse der politischen Kultur des Landes. Ivor Chipkin, der ebenfalls in Johannesburg lehrt, verwahrt sich vehement gegen die vereinfachende These, das Versagen des Staates sei schlicht eine Folge von „affirmative action“, also der Förderung zuvor benachteiligter Gruppen. Die Realität sei etwas komplizierter. So sei die Gleichstellung im öffentlichen Dienst mit einem neuen Ansatz in der Verwaltung einhergegangen, der von einem Manager im öffentlichen Sektor „fast übermenschliche analytische Fähigkeiten verlangt, um in einem komplexen juristischen, politischen, administrativen, sozialen und wirtschaftlichen Umfeld zu navigieren“. Angesichts des gravierenden Fachkräftemangels in Südafrika sei das Scheitern quasi vorprogrammiert gewesen. Folgen wir Chipkin, besteht das Problem jedoch nicht darin, dass, wie oft behauptet, unter dem Druck von Gleichstellungsgesetzen Personen ohne ausreichende Qualifikationen in führende Positionen kamen. Vielmehr ließen viele Regierungsstellen angesichts ungeeigneter Kandidaten die freien Stellen einfach unbesetzt – mit verheerenden Konsequenzen.

Neville Alexander, auch hierzulande bekannter Veteran der Antiapartheid-Bewegung, der seine politischen Aktivitäten mit einer elfjährigen Haftstrafe auf Robben Island bezahlen musste, plädiert in einem recht allgemein gehaltenen Text an die moralische Verpflichtung der Intellektuellen, der Nation zu helfen, Alternativen zur Logik des Kapitalismus zu finden und sie zu akzeptieren. Substanzieller, aber auch deprimierender ist der Beitrag der Journalistin und Schriftstellerin Antjie Krog über ihre „Begegnung mit der Vergangenheit“ in ihrer Heimatstadt Kroonstad im burischen Free State. Sie trifft auf Menschen, die sich durchweg als Verlierer bezeichnen, egal ob schwarzer Befreiungskämpfer oder weißer Farmer. Die Verheißung von der Regenbogennation haben diese Menschen ad acta gelegt.

Kritische Töne schlägt auch der von zwei jüngeren Politologen herausgegebene Band „Konsolidierungsprojekt Südafrika“ an, der gleichwohl die Leistungen des Landes seit dem Ende der Apartheid hervorhebt – den Wandel einer durch Segregation, Ungleichheiten und Gewalt geprägten Apartheidsgesellschaft in eine Demokratie und einen international anerkannten Partner. Nüchtern und differenziert vermittelt der Band die große Spannbreite der gegenwärtigen Probleme.

Als eine der größten Bedrohungen für Südafrika gilt die HIV-Epidemie mit fast sechs Millionen Infizierten. Viviane Brune verweist auf die höchst problematische Gesundheitspolitik der Ära Mbeki, in der die Regierung wiederholt Zweifel an der Existenz, Übertragungsart und Gefahr von HIV/Aids laut werden ließ. Und auch Mbekis Nachfolger Jacob Zuma repräsentiert nicht gerade die Spitze des Fortschritts in Sachen Aids, soll er doch bewusst ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einer HIV-positiven Frau gehabt haben. Immerhin beobachtet Brune unter Zuma durchaus eine konstruktive Wende in der Gesundheitspolitik. Das Umschwenken des Landes auf die Priorität Aids vollzieht sich allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem es aufgrund der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise immer schwieriger wird, auf internationaler Ebene Gelder für die Aids-Arbeit einzuwerben. Hinzu kommt die berechtigte Forderung, eine breitere Förderung von Gesundheitssystemen umzusetzen und den einseitigen Fokus auf HIV zu vermeiden.

In den vergangenen Jahren hat vor allem Thabo Mbeki außenpolitische Initiativen in den Dienst der Innenpolitik und die Konsolidierung der Nationsbildung gestellt. Stefan Mair beleuchtet in seinem Beitrag das komplexe Erbe der Apartheid-Ära für die Außenpolitik der jungen Demokratie. Bei allen Problemen, die aus der jahrzehntelangen Isolation resultierten, habe die friedliche Transition zur Demokratie der Regenbogennation erhebliche Startvorteile und Vorschusslorbeeren eingebracht. Nichtsdestotrotz habe Südafrika heute Probleme, seine Rolle auf der Weltbühne zu definieren. Auf der einen Seite versuche man, sich als Vertreter des Südens und Sprecher Afrikas zu präsentieren, „als Streiter für den Glauben an Afrikas gerechten Platz in der Welt und eine entsprechende Umgestaltung der Weltordnung“. Auf der anderen Seite betone das Land Werte und Interessen, die es viel näher an Europa und Nordamerika als an den „globalen Süden“ rücken.

Erschwerend kommt hinzu, dass viele afrikanische Staaten Südafrikas Sprecherrolle sehr skeptisch gegenüberstehen, zugleich aber die Länder des Nordens Südafrika in genau dieser Rolle besonders attraktiv finden. Entscheidende Bedeutung für die künftige Entwicklung kommt laut Mair dem innenpolitischen Konsolidierungsprozess zu. Misslinge dieser, würden die internationale Attraktivität Südafrikas und sein Status als aufstrebende internationale Mittelmacht nachhaltig leiden.

Auch Künstler, Architekten und Verleger haben diverse und kontroverse Standpunkte über die heutigen Realitäten Südafrikas entwickelt, die der schöne Band „Zeitgenössische Künstler aus Südafrika“ einzufangen sucht. So stellt Shaun de Waal das an der Universität Witwatersrand in Johannesburg angesiedelte „Archiv Gay and Lesbian Memory in Action“ vor, das als Produktionsstätte für Theaterstücke, Ausstellungen und Bücher fungiert und Dokumente des Kampfes um Gleichberechtigung für Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle für die Zukunft bewahren möchte. Denn obwohl die Verfassung von 1997 der juristischen Diskriminierung ein Ende setzte, hat Südafrika weiterhin mit Homophobie zu kämpfen. Besonders die Zahl der Gewalttaten gegen lesbische Frauen, von Vergewaltigungen bis hin zu Tötungsdelikten, bleibt beunruhigend hoch. Vielerorts, nicht zuletzt vom Präsidenten persönlich, wird die Auffassung formuliert, Homosexualität sei „unafrikanisch“.

Zingi Mkefa porträtiert den Filmemacher Khalo Matabane, der in seinen Werken die ungelösten Probleme Südafrikas sichtbar zu machen sucht. In seinem autobiografischen Dokumentarfilm „Love in the Time of Sickness“ etwa zeichnet Matabane seine Desillusionierung nach, als er sich in eine an Aids erkrankte Frau verliebt hatte und die der Krankheit schließlich erlag. Die Tatsache, dass seine Filme nicht unbedingt marktgängig sind, stellt den Filmemacher vor große Probleme, zumal die für die Verteilung der wenigen Fördermittel Verantwortlichen versuchen, die südafrikanische Filmindustrie nach kommerziellen Gesichtspunkten neu auszurichten. „Das neue System“, prognostiziert Mkefa, „wird eine Produktionsästhetik bevorzugen, die den Massengeschmack anspricht.“

Das von Ali Khangela Hlongwane vorgestellte Hector-Pieterson-Museum schließlich steht beispielhaft für die vielfältige und umstrittene Erinnerungslandschaft in Südafrika. Hector Pieterson wurde als 13-Jähriger 1976 in Soweto von der Polizei erschossen, als Schüler und Studenten friedlich gegen die Einführung von Afrikaans als Pflichtfach in den Schulen demonstrierten. Die daran anschließenden Proteste markierten in mancherlei Hinsicht den Anfang vom Ende der Apartheid, und Pieterson wurde in der Folge zu einer Symbolfigur der Jugend gegen die Ungerechtigkeiten des Systems. Das nach ihm benannte Museum steht für eine vieldiskutierte und offene Frage: Sind solche Museen Orte der ernsthaften Auseinandersetzung mit der oft schmerzhaften Vergangenheit oder entwickeln sie sich zunehmend zu Stätten der Freizeitaktivitäten und nicht zuletzt zu Attraktionen für den Tourismus? In jedem Fall zeigen sie, dass das Ende der Apartheid keineswegs eine Stunde Null war und die Zeit des staatlich organisierten Rassismus das Land noch lange prägen wird.

Prof. Dr. ANDREAS ECKERT lehrt die Geschichte Afrikas am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 134-137

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