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01. Apr. 2006

Neue Krise und Entwicklung

Buchkritik

Neue und wieder aufgelegte Studien zu ethnischen und Ressourcenkonflikten, Demokratisierungserfolgen, Aids-Epidemien, Ehrbegriffen, Geschlechterverhältnissen, Armutstheorien und zur Lage der afrikanischen Jugend.

Im vergangenen Juni fand in London die erste „Europäische Konferenz für Afrika-Studien“ statt. Organisiert wurde die Tagung von der „Africa-Europe Group for Interdisciplinary Studies“ (AEGIS). Dieser Verbund europäischer Afrika-Forschungszentren hat sich zum Ziel gesetzt, die Kooperation zwischen Institutionen und individuellen Forschern in Afrika und Europa zu koordinieren. Implizit geht es auch darum, der großen Dominanz der nordamerikanischen Afrika-Forschung etwas an die Seite zu stellen. In den Vereinigten Staaten wird an zahllosen Colleges und Universitäten die Politik, Geschichte, Literatur, Linguistik, Ethnologie und Geographie Afrikas gelehrt und erforscht, dort finden sich die wichtigsten Bibliotheken und Publikationsmöglichkeiten. Und in die USA zieht es im Übrigen auch die große Mehrheit all jener – auch franko- und lusophonen – afrikanischen Wissenschaftler, die aus politischen oder ökonomischen Gründen ihre Heimat verlassen und einen Job suchen. In Europa hingegen bekommen sie kaum eine Anstellung. Nur wenige Personen afrikanischer Herkunft verfügen in England, Frankreich oder Deutschland über eine Dauerstelle im Wissenschaftsbetrieb.

Immerhin finden sich auch einige afrikanische Autoren im ersten Band des englischsprachigen „Africa Yearbook“ – ein Produkt der verbesserten Kooperation europäischer Afrika-Zentren, das sich in Konzept und Aufbau eng an das inzwischen eingestellte, vom Hamburger Institut für Afrika-Kunde (IAK) herausgegebene Afrika-Jahrbuch anlehnt. Neben Andreas Mehler, dem Direktor des IAK, zeichnen Henning Melber vom Nordic Africa Institute in Uppsala sowie Klaas van Walraven vom African Studies Centre in Leiden als Herausgeber. Anspruch des Bandes ist es, für jedes afrikanische Land die im Berichtsjahr relevanten innen- und außenpolitischen sowie sozioökonomischen Entwicklungen nachzuzeichnen. Und der wird eingelöst: Länder- und Regionalartikel aus der Feder internationaler Experten liefern dichte Informationen und kompetente Analysen. Auf diese Weise entsteht ein guter Eindruck von den äußerst heterogenen Entwicklungen in Afrika.

In seinem Beitrag zu Nigeria legt etwa Heinrich Bergstresser, langjähriger Korrespondent der Deutschen Welle in Lagos, dar, dass das größte Land Afrikas im Jahr 2004 – von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – von einer Welle politischer Gewalt, ethnischer und religiöser Konflikte sowie organisierter Kriminalität bislang unbekannten Ausmaßes erfasst wurde. „Die Konflikte“, schreibt Bergstresser, „erreichten zuweilen ein Level, das das politische System und den noch in den Anfängen steckenden Demokratisierungsprozess bedrohte.“ Während die Konflikte um die Scharia an politischer Brisanz verloren, erreichten die internen Machtkämpfe um Ressourcen und finanzielle Kontrolle auf der Ebene der Bundesstaaten einen neuen Höhepunkt. In einigen Regionen gelang es lokalen Milizen, ihren politischen Einfluss beträchtlich zu steigern. Seither hat sich die Situation in Nigeria nicht wieder beruhigt.

Wie Paul Nugent berichtet, sahen die meisten Ghanaer 2004 hingegen als gutes Jahr an. Das Land konnte die in vielen anderen westafrikanischen Ländern grassierenden Ausbrüche von Gewalt weitgehend vermeiden; die Wahlen verliefen frei und fair, und es gab sogar ermutigende Zeichen der ökonomischen Besserung. Die Regierung lancierte überdies ein neues nationales Krankenversicherungsprogramm. Die Behandlung von HIV/Aids wurde aus dem Programm jedoch ausgeklammert, da sie das Budget gesprengt hätte. HIV/Aids gehört in vielen Teilen Afrikas zu den größten Bedrohungen für das gesellschaftliche Gefüge und die wirtschaftliche Entwicklung. In ihrem einleitenden Überblick erinnern die Herausgeber noch einmal an das bedrückende Faktum, dass rund 60 Prozent aller weltweit erfassten HIV-Infizierten im subsaharischen Afrika leben. Besonders betroffen sind Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren. 2004 starben schätzungsweise 2,5 Millionen Menschen in Afrika an Aids. Nur ein verschwindend geringer Anteil der Kranken hat Zugriff auf wirksame medizinische Therapien und Medikamente.

Aids als Ehrproblem?

Die Aids-Epidemie repräsentiert überkommene heroische männliche Ehrbegriffe in Afrika in ihrer (selbst-)zerstörerischsten Form. Mit dieser provokanten These schließt der in Cambridge lehrende Historiker John Iliffe sein Buch über Ehre in der Geschichte Afrikas. Ehre in Afrika, ein Thema, das auf den ersten Blick eher randständig erscheint. Warum sollte man, so fragt der Autor selbst in seiner Einleitung, so viele Seiten auf die Untersuchung von Ehre verwenden, wo das zeitgenössische Afrika doch vor allem durch das Fehlen von Ehre und stattdessen durch Korruption, Grausamkeit und Gier charakterisiert zu sein scheint? Dieser Eindruck, schreibt Iliffe sogleich, sei jedoch falsch. Wie er zu zeigen vermag, war und ist Ehre in afrikanischen Gesellschaften ein ungemein starkes Movens und repräsentierte zu allen Zeiten die höchsten Werte einer Gesellschaft oder Gruppe. Ehre erweist sich insgesamt als erstaunlich guter Leitfaden durch die lange Geschichte Afrikas, wobei der Autor vor allem folgende Fragen zum Ausgangspunkt wählt: Inwieweit stellen ältere, noch heute relevante afrikanische Vorstellungen von Ehre ein Hindernis für demokratische Entwicklungen dar? Und prägen überlieferte Ehrbegriffe afrikanische Antworten auf die Aids-Epidemie und andere dramatische Herausforderungen? Wie stark haben diese Begriffe im Laufe der Zeit die Geschlechter- und Generationenverhältnisse bestimmt?

Iliffe legt eine recht minimalistische Definition von Ehre, diesem „so schwer zu fassenden sozialen Konzept“, zugrunde. In Anlehnung an Frank Henderson Stewart charakterisiert er Ehre als „Recht auf Respekt“, wobei er argumentiert, dass sich zumindest in einigen Teilen Afrikas über die Jahrhunderte das zentrale Kriterium für Ehre von Status und Verhalten zum moralischen Charakter wandelte, von dem, was eine Person besaß oder tat, hin zu dem, was eine Person war. Damit einher ging, so Iliffe, eine stärkere Vermischung der verschiedenen Anforderungen an Ehre, Tugend und Gesetz.

Im ersten Teil des Buches entwirft der Autor ein faszinierendes, vielschichtiges Panorama des vorkolonialen Afrikas. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über die Ehre der Sklaven, zumal Sklaven, folgen wir etwa der einflussreichen Definition des Soziologen Orlando Patterson, gemeinhin als gleichsam personifizierte Entehrung galten. Dass die Besitzer ihren Sklaven jegliche Ehre absprachen, steht auch für Iliffe außer Zweifel. Er betont jedoch die „horizontale Dimension“ des Ehrbegriffs und zeigt anhand verschiedener Beispiele aus West- und Südafrika, wie Sklaven ihre Ehre verteidigten, indem sie Lebensbereiche schufen, die zumindest partiell außerhalb des Einflussbereichs ihrer Herren standen, etwa in der Familie und der kulturellen Produktion.

Der zweite Teil des Buches analysiert die „Krise der Ehre“, wie sie durch die koloniale Eroberung hervorgerufen wurde. Die europäischen Invasionen im späten 19. Jahrhundert wurden durch eine fortgeschrittene militärische Technik erleichtert, die auf afrikanischer Seite viele ältere Begriffe von soldatischer Ehre gewissermaßen überflüssig machte. Gleichwohl hingen einige Afrikaner dieser Ehre an und stellten sich den europäischen Gewehren und Kanonen. „Für sie erwies sich Ehre, wie so oft, als selbstzerstörerisch“, stellt Iliffe lakonisch fest. Andere suchten nach neuen militärischen Strategien oder effizienteren Formen sozialer Mobilisierung, häufig auf Kosten von etablierten Begriffen von Loyalität, Status oder Mut.

Den kolonialen Regimen in Afrika fehlten die Legitimität, die Macht und die Zeit, um afrikanische Ehrvorstellungen und -praktiken komplett zu transformieren. Stattdessen wurden Elemente fragmentierter Traditionen in neue Ethiken integriert: in die militärischen Kodexe der Kolonialarmeen, die Ideale von Respektabilität und Professionalismus, die Maskulinität von Minenarbeitern und Stadtbewohnern. Aber auch im Nationalismus, in den bewaffneten Befreiungsbewegungen und in der nachkolonialen politischen Praxis finden sich Elemente älterer Vorstellungen von Ehre.

Armut: alte Antworten

Für jene damals junge Generation nord-amerikanischer Politologen und Soziologen, die sich in den fünfziger und frühen sechziger Jahren mit dem antikolonialen Nationalismus und den neuen Staaten Afrikas beschäftigte, stand die Bedeutung von Ehre in afrikanischen Gesellschaften nicht auf der Agenda. Sie interessierte sich primär für Fragen der nationalen Einheit, für die Herausbildung von dauerhaften politischen Gruppierungen und für die Implementierung „moderner“ politischer Werte und Ideale in den jungen afrikanischen Nationen. Angesichts des bereits seit geraumer Zeit grassierenden Afropessimismus bzw. der Ignoranz von Afrika in den Sozialwissenschaften mutet es unwirklich an, mit welchem Enthusiasmus und Optimismus etwa Immanuel Wallerstein seinerzeit die Entwicklungen südlich der Sahara analysierte.

Wallerstein ist hierzulande vor allem durch seine – seit 1974 in einer langen Reihe von Schriften entwickelte – Theorie des „modernen Weltsystems“ bekannt geworden, die so etwas wie einen konzeptionellen Gesamtrahmen für die Geschichte der Globalisierung bietet. Wallersteins Analyse dringt freilich kaum zur Beschreibung wirklich globaler Beziehungen vor, sondern bleibt eine Deutung der Expansion der „kapitalistischen Weltwirtschaft“ europäischen Ursprungs. Wallerstein konzedierte Afrika im Übrigen höchstens eine passive ökonomische Rolle auf der welthistorischen Bühne. Inzwischen werden jedoch große Zweifel an der mechanistischen Vorstellung angemeldet, dass die Armut der Peripherie allein durch ihre Funktionalität für das Weltsystem erklärt werden kann, dass, in anderen Worten, Afrika arm ist, weil der Kapitalismus es notwendig macht, dass Afrika arm ist.

Nur wenige Eingeweihte wissen noch, dass Wallerstein seine Karriere mit politologischen Analysen zu Afrika begann. Er gehörte zu der kleinen Schar von Wissenschaftlern, die Afrika während des Zusammenbruchs der kolonialen Ordnung bereisten. Daraus resultierte der einflussreiche, 1961 erstmals publizierte Text „Africa. The Politics of Independence“. Sechs Jahre darauf folgte „Africa. The Politics of Unity“, eine der frühesten dichten Analysen der ersten Jahre des unabhängigen Afrikas. Beide „Klassiker“ sind kürzlich in einem Doppelband wieder neu aufgelegt worden. Sie sind nicht allein wissenschaftsgeschichtlich von Interesse, sondern helfen, einige der Fehleinschätzungen zu verstehen, welche die Analyse von Afrika bis heute prägen. Dazu gehört etwa das Messen der Entwicklungen in Afrika am idealtypischen Modell der bürokratisch-legalen Herrschaft.

Überdies waren damalige Akteure ebenso wie die Wissenschaftler in gewisser Weise Gefangene des zeittypischen Machbarkeitswahns. Sie konzipierten für die jungen afrikanischen Staaten das Ideal des Sozialstaats mit umfassender Interventionskompetenz, sahen sich jedoch bald mit dem Erbe des schwachen kolonialen Staates konfrontiert. Zudem wurde rasch klar, dass die ererbte koloniale Wirtschaftsstruktur wenig Handlungsspielraum ließ. Angesichts der großen Lücke zwischen Wollen und Können und aus Schwäche heraus suchten die meisten Regierungen in Afrika ihr Heil in autoritären Lösungen.

In seinem neuen Vorwort reflektiert Wallerstein kritisch die Entwicklungen in Afrika während der letzten viereinhalb Dekaden. Am Ende versucht er sich in einer – allerdings wenig überzeugenden – Zukunftsprognose. Das gegenwärtige Weltsystem behandele Afrika und seine Menschen schlecht, doch es gebe Anzeichen, dass der „Geist von Porto Allegre“, also die Ideen des Weltsozialforums von einer demokratischen und vergleichsweise egalitären Weltordnung, sich durchsetzten und  sukzessive eine Verbesserung der Situation für Afrikaner ermöglichten.

Ausblicke für Afrikas Jugend

Wesentlich differenzierter fallen die Voraussagen von Goran Hyden aus, auch er einer der Veteranen der Afrika-Politikwissenschaft. In dem „Quo Vadis Afrika?“ überschriebenen Schlusskapitel seiner neuen eindrucksvollen Synthese der politischen Geschichte Afrikas der letzten 50 Jahre formuliert er einige aus seiner Sicht notwendige Voraussetzungen für die Verbesserung der Lage südlich der Sahara. Als unabdingbar sieht er die Stärkung schlagkräftiger institutioneller Autoritäten in afrikanischen Staaten an, die dortige Herrscher zur Ordnung rufen könnten. Universitäten und Medien käme hier eine besonders wichtige Rolle zu. Des Weiteren bedürfe das Zusammenspiel zwischen afrikanischen Regierungen und internationalen Gebern dringend der Verbesserung. Ersteren fehle es in der Regel an notwendigen adminis-trativen Prozeduren, letztere seien überbürokratisch. „Die Distanz zwischen Regierungen und Gebern ist jedoch keineswegs riesig“, schreibt Hyden. Sie zu überwinden, erfordere jedoch auf beiden Seiten die Bereitschaft, ausgetretene Pfade zu verlassen. Geberorganisationen könnten nur dann im afrikanischen Kontext effektiv wirken, wenn sie ihre eigenen Vorlieben für ökonomische Argumente mit einer gehörigen Dosis politischer Analyse der lokalen politischen Realitäten ergänzen.

Die Statistiker haben, wie Hyden berichtet, für die Zeit von 1989 bis 2002 insgesamt 116 bewaffnete Konflikte weltweit gezählt. Von den 31 laufenden Konflikten im Jahr 2002 fanden sich 13 im subsaharischen Afrika. Afrika gilt gemeinhin als der gegenwärtig am stärksten durch innere Kriege geprägte Kontinent. Über die Hintergründe wird hierzulande eher wenig berichtet. Doch einige Bilder haben sich eingeprägt, etwa die von Kindersoldaten in Sierra Leone oder im Kongo, schwer bewaffnet mit Maschinengewehren und Munitionsgürteln. Eine schwer abzuschätzende Zahl von Kindern nimmt aktiv am Kriegsgeschehen in verschiedenen Regionen Afrikas teil. Einige wurden gezwungen, andere stießen aufgrund der Armut oder anderer Krisen in ihren Heimatgemeinden zu den Armeen, weitere mögen durch die Verheißung von Ruhm und Nervenkitzel angelockt worden sein. In den westlichen Medien sind immer wieder schockierende Berichte über acht- oder zehnjährige gnadenlose Killer zu lesen, die unvorstellbare Gräueltaten mit offenkundiger Indifferenz oder gar Stolz begehen.

Die Ethnologin Alcinda Honwana hat im Auftrag der Vereinten Nationen und des Social Science Research Council in Angola und Mosambik über Rekrutierungspraktiken und Erfahrungen von so genannten Kindersoldaten geforscht. Ein Schwerpunkt ihrer nun erschienenen Studie liegt darin, Wege der Demobilisierung, Rehabilitierung und sozialen Reintegration der vom Krieg geprägten Kinder und Jugendlichen zu weisen. Als ein zentrales Problem zeigt sich Honwana zufolge – leider wenig überraschend –, dass Armut und der Mangel an sozialen Versorgungseinrichtungen es schwierig und oft unmöglich machen, ehemaligen Kindersoldaten den Schulbesuch, dauerhafte psychologische Betreuung und später eine Anstellung zu verschaffen. Da bleibt der Autorin nur die Flucht in globale Lösungen: „Die Zukunft von Afrikas Jugend hängt davon ab, Armut und globale Ungleichheit zu beenden, und die Zukunft Afrikas hängt von seiner Jugend ab.“

Andreas Mehler, Henning Melber, Klaas van Walraven (Hrsg.): Africa Yearbook 2004. Politics, Economy and Society South of the Sahara. Brill Academy Publishers, Leiden 2005. 496 Seiten, € 40.

John Iliffe: Honour in African History. Cambridge University Press, New York 2005. 404 Seiten, $ 80.

Immanuel Wallerstein: Africa. The Politics of Independence and Unity. Nebraska University Press, Lincoln und London 2005. 280 Seiten, $ 29,95.

Goran Hyden: African Politics in Comparative Perspective. Cambridge University Press, New York 2006. 325 Seiten, $ 24,99.

Alcinda Honwana: Child Soldiers in Africa. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2006. 216 Seiten, $ 45.

Dr. Andreas Eckert, geb. 1964, ist Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2006, S. 130 - 134

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