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01. Febr. 2008

Big Brothers kleine Brüder

Wir mögen einsam sein, aber allein niemals mehr: Moderne Technologie folgt uns auf Schritt und Tritt, drahtlos und diskret

Vermutlich ist das Paradies nah. Das Shopping-Nirwana kommt. „Eine einzigartige Einkaufsatmosphäre“ verheißt uns jedenfalls Dr. Uwe Schlick vom Vorstand der Kaufhof Warenhaus AG, ein „neuartiges Einkaufserlebnis“ in frisch errichteten „Lifestyle-Welten“. Das Unternehmen hat Unsummen investiert, um uns in einer Essener Filiale die Zukunft zu zeigen: intelligente Umkleidekabinen etwa, die das neue Kleidungsstück, an dem wir gerade herumzupfen, erkennt; den Preis, vorrätige Größen und Farbalternativen verrät und nützliche Tipps zur Pflege des edlen Materials geben kann. Die kluge Kabine berät uns auch gleich, was dazu ganz prima passen würde: diese tolle, neue Hose und der topmoderne Mantel, einfach genial. Ach, wie Ihnen das steht …

Auch die Verkäufer da draußen auf der freien Warenwildbahn verfügen nun über ganz neue Intelligenz: dank eines tragbaren Lesegeräts, ihres „Mobilen Assistenten“. Das Zauberwort heißt RFID – Radiofrequenz-Identifikation. Sie funktioniert über winzige Chips, viel kleiner als ein Fingernagel, die in Etiketten, Stoffstückchen, Anhänger eingearbeitet sind; die auf ihnen enthaltenen Daten können über eine winzige Antenne selbstständig gesendet werden, ganz diskret, ohne Sichtkontakt, über Distanzen von einigen Metern. Die Möglichkeiten sind sagenhaft: Wenn etwa auch die mitgeführte Kundenkarte einen RFID-Chip enthält, saugt das Lesegerät viele Informationen an, die der Firmendatenbank blitzschnell ein Bild geben: Frau Lieselotte Mustermann, 37, zuletzt vor neun Tagen zum Einkauf von Kinderjeans hier, interessiert sich heute für lila Lackschuhe, Größe 38. Oder, wie Dr. Schlick es formuliert: „Eine RFID-gestützte Beschleunigung entlang der Prozesskette vom Lieferanten bis in das Regal wird uns helfen, die Aktualität und Attraktivität unserer Sortimente weiter zu steigern.“

RFID ist nicht nur in aufgerüsteten Spiegeln und Kleiderbügeln zu finden. Die Branche erlebt einen Boom auf breiter Front. Passbehörden, Krankenhäuser und Nahrungsmittelhersteller setzen auf den sendungsbewussten Chip. Auch in Supermärkten, Speditionen, bei der Müllentsorgung und an den Drehkreuzen von Konzernzentralen, Sportstadien und U-Bahn-Stationen kommt er zum Einsatz. Ein Fußballfan etwa soll bald mit ein und derselben smarten Karte seine Busfahrt zum Stadion bezahlen, dortselbst eine Eintrittskarte kaufen, Getränke erwerben, dabei Fanclub-Bonuspunkte sammeln und hernach Shoppen gehen können, ganz individuell. Marketingexperten schwärmen schon von einer „Rückkehr des Tante-Emma-Ladens“, von neuen, sehr persönlichen Kundenbeziehungen. Weil das System den anrückenden Käufer ja schon an der Ladentür identifiziert, ihn, in gründlicher Kenntnis seiner Konsumneigungen und -schwächen, durch die Regale begleitet und ihm, zum Beispiel über ein Display an seinem Wägelchen, persönliche Verlockungen zuspielen kann, beim „Einkaufsakt“, wie die Werbeprofis schwärmen, „direkt am Ort der Kaufentscheidung“, mit minimalem „Streuverlust“: Die Tortellini da hinten lieben Sie doch sehr. Wir haben jetzt eine köstliche neue Sorte …

„Total Information“ – danach streben eben nicht nur Geheimdienste, die seit dem 11. September 2001 mit neuem Elan Reise- und Kontobewegungen, E-Mails, Telefonate, Einkäufe, Pass- und viele andere Daten von Hunderten Millionen Menschen „verarbeiten“. Datamining, das Durchsieben gigantischer Mengen oft sehr persönlicher Bytes, ist auch in der Geschäftswelt en vogue. Längst erstellen Kreditkartenfirmen, Rabattprogramme und Online-Werbeagenturen, denen breite Informationsströme wie von selbst zufließen, Kundenprofile. Der Großeinsatz der Funkchips wird Leben immer lückenloser dokumentieren. Bald umgeben unsere Kleidungsstücke und Elektronik-Accessoires uns mit einer Wolke von Kennzahlen. Abermillionen Handys produzieren unablässig Standort- und Verbindungsdaten. Hinzu kommen automatische Mautsysteme, Kennzeichenlesegeräte und, in manchen Ländern schon allgegenwärtig, die Kameraüberwachung. Clive Norris, Kriminologie-Professor an der Uni Sheffield, kalkulierte schon 2004, dass ein Mensch auf seinem Weg durch eine britische Stadt pro Tag an die 300-mal gefilmt wird. Die Gesichtserkennung vom Videobild schreitet voran. Dazu Software, die verdächtige Bewegungsmuster oder Kleidungsstücke (Kapuzenpulli) registriert.

Uns umschwärmten Endverbrauchern soll die neue „Kundenbeobachtungstechnologie“, all die Sender, Kameras, Mikrofone und Wärmesensoren, die uns auf Schritt und Tritt begleiten, nur Wonne bringen. Die britische Kette Tesco etwa ermittelt per Infrarotstrahl in Kassennähe, wie viele „Kaufeinheiten“ – Paare, Familien und andere Gruppen – für eine Transaktion in Reihe stehen. Ein anderes in Großläden genutztes System nennt sich „Behavior IQ“. Doppellinsen zählen Kunden und verfolgen, wer wo wie lange verweilt und auf Auslagen reagiert. Die Beobachtungen werden ständig mit Verkaufszahlen abgeglichen, um das Ladendesign zu optimieren, das Angebot zu verändern und Personal entsprechend einzusetzen. Alle Tricks, um dem Impulskäufer den Wagen zu füllen, sind erlaubt. Wie anonym bleiben? Die Chancen schwinden. Kapuzenpullis und Sonnenbrillen sind auffällig. Zu Fuß gehen und stets bar bezahlen kann mühsam sein. Auch müsste man Handys und Karten zuhause lassen. Und sich alle RFID-Chips aus der Kleidung schneiden. Kochwäsche nützt nichts. Angeblich überleben die Winzlinge bis zu 200 Grad Celsius.

TOM SCHIMMECK, geb. 1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 126 - 127

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