Seelenlage einer Nation
Außen- und innenpolitisch hat Frankreich in den nächsten Monaten viel vor: Die EU-Ratspräsidentschaft wird zeigen, welche Rolle es in Europa und der Welt spielen kann. Und die Debatten im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen weisen darauf hin, wie stark die Rechtsextremen sind.
Alle Fünftklässler in Frankreich haben für die Sommerferien eine Sonderausgabe der Fabeln von Jean de La Fontaine geschenkt bekommen. Das Buchgeschenk, das Bildungsminister Jean-Michel Blanquer bereits im dritten Jahr in Folge verteilen lässt, hat dem Fabeldichter aus der Zeit des Sonnenkönigs neue Aufmerksamkeit verschafft.
Ob sich erfahrene außenpolitische Beobachter angesichts des jüngsten diplomatischen Skandals deshalb an die Fabel vom „Frosch, der groß sein will wie ein Ochse“ erinnert fühlten? Für diejenigen, die La Fontaines Tiervergleiche nicht gleich parat haben: Es geht um einen Frosch, der gern so stattlich wäre wie der Ochse: „Er spreizt sich, bläht mit Macht sich auf“, um sich an dem großen Tier zu messen.
Auf den ersten Blick wirkt es tatsächlich so, als hätte sich Frankreich aufgeplustert, um ein geplatztes Rüstungsgeschäft – den Verkauf von zwölf dieselgetriebenen U-Booten an Australien – in eine Grundsatzfrage über das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika, zu westlicher Bündnistreue und zur Indo-Pazifik-Strategie zu verwandeln.
„Dolchstoß in den Rücken“
Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian blieb seinem Ruf als großer Schweigsamer nicht treu. Plötzlich kamen Worte wie „Dolchstoß in den Rücken“, „Verrat“ und „Vertrauensbruch“ über seine schmalen Lippen, die jahrelang zusammengekniffen alle Staatsgeheimnisse gehütet hatten.
Die Presse schwelgte in einem patriotischen Selbstvergewisserungsbad mit gaullistischem Unterton. Australien habe Frankreich hintergangen, angestachelt vom „perfiden Albion“ Großbritannien und Amerika – ach Amerika, der „älteste Verbündete“ musste all das zugelassen haben.
Das Galadinner zum 240. Jahrestag der Schlacht von Chesapeake in der französischen Botschafterresidenz in Washington wurde abgesagt. Eigentlich hätte gefeiert werden sollen, wie die französische Marine die britische in der Bucht von Chesapeake besiegte und damit den Weg zur amerikanischen Unabhängigkeit ebnete. Botschafter Philippe Étienne kehrte stattdessen nach Paris zurück, zu „Konsultationen“.
Es war das erste Mal in der Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern, dass ein Botschafter zurückbeordert wurde. Auch der französische Botschafter für Australien musste an die Seine zurückkehren; da harrt er immer noch der Dinge und hält bei allerlei Presseartikeln über die unzuverlässigen Australier die Feder.
Es geht ums große Ganze
Die Ausrufung der militärisch-technologischen Allianz „AUKUS“ zwischen Australien, Großbritannien und den USA am 15. September hat das politische Frankreich ins Mark getroffen. Die Presseberichte spiegeln das wider. In vielen Artikeln wird mit Frankreichs Status als europäische Mittelmacht gehadert, die einfach übergangen wurde. „Spieglein, Spieglein an der Wand, sag mir, ob ich noch eine Großmacht bin“, fasste der Journalist Jean-Dominique Merchet von L’Opinion die Seelenlage der Nation zusammen.
„Die Amerikaner haben die Europäer nie wirklich zu Rate gezogen, wenn sie wichtige Entscheidungen trafen“, meinte der pensionierte Diplomat Gérard Araud im Magazin Le Grand Continent. Araud, der von 2014 bis 2019 Frankreich als Botschafter in Washington repräsentierte, erinnerte an das militärische Kräfteverhältnis zugunsten der USA. Er plädierte für eine „bescheidenere Haltung“. „Die Franzosen sind von unerträglicher Arroganz“, sagte er Le Grand Continent. „Wenn sie nicht mit Tomaten beworfen werden wollen, dann sollen sie nicht die Bühne betreten“, meinte er. „Anstatt diskret für unsere Ideen zu werben, stellen wir sie in den Hauptabendnachrichten vor, was dann zu verhärteten Fronten führt“, so der Spitzendiplomat. Mit diesem Bescheidenheitsappell steht er dieser Tage allerdings etwas allein.
Die AUKUS-Affäre hat dem etwas schläfrigen Auftakt des Präsidentschaftswahlkampfs einen Adrenalinstoß verpasst. Marine Le Pen bescheinigte Emmanuel Macron den „Untergang“ und sprach von einem dreifachen Schiffbruch: militärisch, wirtschaftlich und politisch. „Frankreich ist öffentlich gedemütigt worden“, beklagte die Rechtspopulistin und forderte einen Untersuchungsausschuss.
Die Idee gefällt auch der bürgerlichen Rechten, die im Senat über die Mehrheit verfügt und eine Anhörung Le Drians zum Anlass nahm, einen Untersuchungsausschuss in Aussicht zu stellen. Vielleicht müssten auch Fehler in Frankreich gesucht werden, regte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Christian Cambon, an.
Doch Außenminister Le Drian zeigte auf, dass es um das große Ganze geht, wie dies auch Präsident Macron in seinem ungewöhnlichen und vielkommentierten gemeinsamen Kommuniqué mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden herausstellte. Frankreich und Amerika seien übereingekommen, dass ein „transparenter Austausch“ besser gewesen wäre, heißt es darin. Besonders interessierte die französische Presse, dass Präsident Biden in der gemeinsamen Erklärung sein Interesse an einer „stärkeren und leistungsfähigeren europäischen Verteidigung“ bekundete, die „komplementär zur NATO“ sei.
Das klang so, wie sich viele außenpolitische Berichterstatter die Rolle Frankreichs vorstellen: komplementär, aber keinesfalls untergeordnet. Auch Außenminister Le Drian skizzierte vor den Senatoren Frankreich als „Alternative“ zum Hegemoniestreben Chinas und zum konfrontativen Kurs Amerikas im Indo-Pazifik. „Welche Verbündeten für Frankreich im Indo-Pazifik“, fragte die katholische Tageszeitung La Croix.
Sylvie Kauffmann nannte in Le Monde das französische Überseeterritorium Neukaledonien „das Sandkorn“ im Getriebe von AUKUS. Denn Frankreichs Isolation könnte durchaus dazu führen, dass diese Inselgruppe im Südpazifik nach dem Autonomie-referendum Mitte Dezember unter chinesischen Einfluss gerät. Macron streckte derweilen ostentativ die Hand nach Indien aus.
Europa ist die Antwort
Der Präsident, dessen Schreibtisch im Élysée ein De-Gaulle-Foto ziert, wirkte zeitweise wie von der Welle gaullistischen Selbstbehauptungsdrangs überwältigt. Denn rechts von ihm überschlugen sich die Anwärter auf seinen Schreibtisch mit Forderungen: Der rechtsbürgerliche Kandidat Xavier Bertrand will die integrierten Militärstrukturen der NATO verlassen, Marine Le Pen gleich ganz aus dem Verteidigungsbündnis austreten. Es blähte sich der Frosch zum Ochsen auf.
Europa ist die Antwort. So lautet kurzgefasst das Angebot, das Macron seinen Landsleuten nach der „historischen Demütigung“ (Le Figaro) unterbreitete. Die Europäische Union soll als verlängerter Arm Frankreichs mit ihrer Indo-Pazifik-Strategie das Gleichgewicht wiederherstellen, das AUKUS aus Sicht von Paris gefährdet.
Für die EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 bedeutet das: Verteidigungs- und Sicherheitsfragen sollen im Vordergrund stehen. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen übte den Schulterschluss und kündigte einen Verteidigungsgipfel der Europäischen Union an, zu dem die Franzosen einladen. Eine parlamentarische Debatte darüber ersparte sich der Präsident.
Als oberster Armeechef kennt Macron nichts anderes: Er befiehlt, es wird gehorcht. Deshalb schien er es auch nicht für notwendig gehalten zu haben, die NATO-Verbündeten über den Pakt im Pakt zu informieren, den Frankreich unter seiner Ägide mit Griechenland eingeht.
Die neue Sicherheitspartnerschaft, die mit einem Fregattengeschäft für die durch den geplatzten U-Boot-Deal angeschlagene Naval Group einhergeht, wurde vom Élysée als Meilenstein auf dem Weg zur strategischen Autonomie Europas angekündigt. Die gekränkte Nation applaudierte, zumindest in der Presse. Griechenland fühlt man sich seit der Staatsschuldenkrise nahe und solidarisch. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist dabei die Neugier, mit der Franzosen auf Griechenland blicken: Wie konnte ein Land mit so reichem kulturellem Erbe so tief sinken, dass es um Deutschlands Wohlwollen betteln musste?
Rechtsextremer Feldzug
Um den eigenen befürchteten Niedergang kreist auch die innenpolitische Debatte stärker denn je. Sie hat das überraschende Gesicht des rechtsextremen Publizisten Éric Zemmour angenommen. „Frankreich hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen“ („La France n’a pas dit son dernier mot“) lautet der Titel seines jüngsten Buches. Es ist eine Anekdotensammlung, um den Niedergang zu dokumentieren, leicht zugänglich und zugleich mit dezidiert ausländer- und europafeindlichem Unterton geschrieben.
Zemmours Ideen, die multikulturelle Gesellschaft zu überwinden und einen französischen Wertekanon für alle Lebenslagen – von der Vornamensvergabe bis zu den Kochtöpfen – zu schaffen, füllen Zeitungsseiten und Sendeplätze. Das Zurück zu einer imaginären Nation, die in der Welt respektiert wird und aus lauter waschechten Franzosen besteht, zieht viele an.
Laut Umfragen würde Zemmour Marine Le Pen den Einzug in die entscheidende Stichwahlrunde im kommenden April streitig machen. Der Gründer des Front National, Jean-Marie Le Pen, hat dem 63 Jahre alten Rechtsextremen Zemmour bereits seinen Segen erteilt. Sollte dieser besser als seine eigene Tochter Marine platziert sein, würde er ihn unterstützen, schreibt Le Monde. Die Freundschaft zwischen dem greisen Le Pen und Zemmour reicht dabei schon Jahre zurück und hat mit der Tochter von Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop, Ursula Painvin, eine unerwartete Dritte im Bunde. „Der einzige Unterschied zwischen Éric und mir ist, dass er Jude ist“, zitierte Le Monde ihn. „Das gibt ihm größere Freiheiten“, so Vater Le Pen.
Die Journalistin Noémie Halioua hat ein Buch über den Mordfall der französischen Jüdin Sarah Halimi veröffentlicht, die von einem aus Mali stammenden Muslim mit mutmaßlich antisemitischem Motiv getötet wurde. Die Journalistin beschreibt Zemmour als „Hoffnung für Juden in der Banlieue“. „Für viele sephardische Juden aus bildungsfernem Milieu, für die arabisch-muslimischer Antisemitismus kein abstrakter Begriff ist, verkörpert Zemmour eine letzte Chance“, so Halioua. Er erfülle mit seinem Kreuzzug gegen den Islam offensichtlich ein Bedürfnis, das etliche seiner Zeitgenossen teilten.
Das merkte man auch am erstaunten Blick auf den Bundestagswahlkampf. „Eine Kampagne ohne das Wort Islam“, wunderte sich die Arte-Journalistin Nora Hamadi. In die vielfältigen Abschiedsartikel auf die Ära Merkel mischt sich immer wieder Irritation, wie wenig die Nachwehen der Flüchtlingskrise 2015 die deutschen Wählerinnen und Wähler augenscheinlich beschäftigen. Die Stimmenverluste für die AfD werden beinahe mit Befremden kommentiert.
Vor der Ratspräsidentschaft
Die Obsession mit einer „unglücklichen Identität“ (Alain Finkielkraut) wirft Schatten auf den 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Evian-Verträge im März nächsten Jahres. Der Algerien-Krieg mit seinen Traumata beschäftigt die Franzosen mindestens so viel wie die kommende EU-Ratspräsidentschaft. Der Freundschaftsvertrag, der ein knappes Jahr danach im Januar 1963 mit Deutschland unterzeichnet wurde, war das Signal für die Gaullisten, den europäischen Aufbruch nicht zu verschlafen. Er half die Wunden zu heilen, die der Verlust Algeriens und des Kolonialreichs in der französischen Seele riss. Doch der Phantomschmerz wirkt nach, wie die jüngsten diplomatischen Verstimmungen zwischen Paris und Algier zeigen.
Schon gibt es aber auch eine Debatte darüber, ob Frankreich nicht vom „deutsch-französischen Paar“ Abstand nehmen müsse. „Die Franzosen klammern sich hoffnungslos an diesen Mythos“, sagte Botschafter Araud. Dabei habe das nur funktioniert, solange das geteilte Deutschland noch Frankreich auf der Weltbühne brauchte.
Die Situation in der Europäischen Union mit 27 Mitgliedsländern sei jedoch eine gänzlich neue. Jetzt müsse Frankreich endlich lernen, sich mit Polen und den baltischen Staaten auszutauschen, bevor es seine Russland-Politik formuliere – und mit Italien, wenn es um seine Libyen-Politik gehe. „Denn diese Länder haben auch eine Presse und eine öffentliche Meinung“, mahnte Gérard Araud, der zum informellen Beraterstab Macrons zählt.
Mehr Einbeziehung kleinerer EU-Partner, weniger Alleingänge wie mit Griechenland, französische Interessenpolitik nicht in europäisches Engagement umtaufen – so könnte eine französische EU-Ratspräsidentschaft zum Erfolg werden. Jean de La Fontaine hatte ein anderes Ende für seine Fabel gewählt: „Das Fröschlein hat sich furchtbar aufgeblasen, es platzte und verschied im grünen Rasen.“
Michaela Wiegel ist Frankreich-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 116-119
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