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01. Mai 2004

Aufstand in Irak

Der Aufstand in Irak ein Jahr nach dem Beginn des Krieges ist die Folge einer Kette von Fehlentscheidungen
und Fehleinschätzungen seitens der Amerikaner, so der für den STERN aus Bagdad
berichtende Reporter. Eine falsche Entscheidung war es, die irakische Armee aufzulösen. Falsch
eingeschätzt hat man die Bedeutung von Zugehörigkeit zu Volksgruppen, Religionsgemeinschaften
und Clans. Es wurden die falschen Leute protegiert, Versprechungen gemacht und nicht
gehalten und von einer tatsächlichen Abgabe der Souveränität an das irakische Volk kann keine
Rede sein. Unter diesen Umständen sei der Aufstand nicht verwunderlich.

Niemand berichtete groß darüber, denn es schien
nur eine von vielen Rochaden im gigantischen Personalaustausch
der amerikanischen Armee in Irak zu sein: Mitte März 2004
ersetzten Truppen der US-Marines die rund um Falludscha
stationierten Verbände der 82. Airborne Division.
Monatelang war es zuvor vergleichsweise ruhig geblieben in der
Stadt, die im vergangenen Jahr zu einem der Zentren des

Wierstands gegen die amerikanische Armee im Land geworden war
– nachdem deren Soldaten kurz nach Kriegsende dort 17
Demonstranten erschossen hatten, die lediglich auf die
Straße gegangen waren, um dagegen zu protestieren, dass
die Truppen ausgerechnet mitten in einem Wohnviertel in einer
Schule Quartier bezogen hatten.

Denn Falludscha, dessen Scheichs die Stadt den
Invasionstruppen kampflos übergeben hatten, ist bekannt
für seine ultrakonservativen Bewohner. Aber nach endlosen
Scharmützeln hatten sich die amerikanischen Soldaten mit
der Bevölkerung dahingehend arrangiert, dass man sich
möglichst aus dem Weg ging. Tagelang konnte man in
Falludscha keine amerikanischen Truppen sehen, die Imame
mochten den Dschihad predigen, aber wenig geschah.

Bis die Marines kamen. Und erst einmal mit groß
angelegten Razzien darangingen, vermutete Widerstandsnester und
Waffendepots auszuheben.1 Die Spannung stieg, aber immer noch
unbemerkt von den Medien. Dann fuhr am Morgen des 31. März
ein Konvoi amerikanischer Wachleute durchs Stadtzentrum und
geriet in einen Hinterhalt. Fünf Männer starben, und,
anders als bei Kämpfen mit der Armee, kamen keine
Hubschrauber, keine Verstärkung, um die Toten
einzusammeln. Ein entfesselter Mob stürzte sich auf die
Leichen, verbrannte, zerhackte vier von ihnen vor den Kameras
irakischer Fernsehteams und hängte zwei verstümmelte
Körper schließlich an einer Brücke im
Stadtzentrum auf.

Nur Tage nachdem der stellvertretende Verteidigungsminister
Richard Armitage und General Mark Kimmit ankündigten, ihre
Antwort werde „präzis und niederschmetternd“2
ausfallen, begannen die Angriffe von rund 1500 Marines auf die
Stadt. Dass die Dinge sich im Folgenden nicht nach Plan
entwickelten, lag am Plan. Den beschrieb ein Marines-Leutnant,
der ungenannt bleiben wollte, nach einer Woche der Kämpfe:
„Kurz gesagt, ist die Situation eskaliert, seit wir hier
reingegangen sind. Zuerst bestand unser Plan darin, Handshakes
mit der Bevölkerung auszutauschen und die Feinde
anzugreifen, wo wir sie finden. Aber als wir hierher kamen,
haben wir nur Feinde vorgefunden.“3 Als er dies sagte,
gab es nach Aussagen von Ärzten in Falludscha bereits 300
tote Iraker, eine Moschee war bombardiert, alle Wege zum
Krankenhaus waren von den Truppen blockiert worden. Seither,
bis Ende April, hat sich aus der amerikanischen Vergeltung
für einen barbarischen Akt Einzelner ein – noch
– lokal begrenzter Krieg entwickelt, der nach Wochen die
USA in Waffenstillstandsverhandlungen mit den Kämpfenden
in Falludscha getrieben hat. Zwar kämpfen auch
ausländische Dschihadisten etwa aus Sudan und Syrien in
Falludscha, aber im Wesentlichen verteidigen die Bewohner ihre
Stadt. Das ist die eine Front.

In der Annahme, nach der Verstümmelung amerikanischer
Bürger mehr Stärke zeigen zu müssen, wollte Paul
Bremer, der amerikanische Zivilverwalter in Irak, auch an den
bis dato zwar lästigen, aber friedlichen schiitischen
Gegnern der Besatzung ein Exempel statuieren. Er ließ
Muqtada as-Sadrs Repräsentanten in der heiligen Stadt,
Nadschaf Mustafa Yacoubi, verhaften – unter Verweis auf
dessen Verwicklung in den Mord an einem Kleriker vor genau
einem Jahr. Die Verwicklung gab es vermutlich tatsächlich.
Aber die Ermittlungen waren schon ein halbes Jahr zuvor
abgeschlossen worden, ohne dass ein Haftbefehl erlassen worden
wäre.

Neuer Feind: as-Sadr

Auf genau einen solchen Anlass hatte as-Sadr die ganze Zeit
gewartet. Und die amerikanische Verwaltung hat es gewusst, ist
sehenden Auges in die Falle ihrer militärischen Macht
getappt – nachdem sie zuvor monatelang alle Provokationen
ignoriert und as-Sadr den so sehnlich erwünschten
Resonanzboden des verfolgten Gegners der ungläubigen
Besatzungsmacht vorenthalten hatte.

Denn genau der ist seine politische Marktlücke: Der
brennend ehrgeizige, aber ausgesprochen uncharismatische Sohn
des hochverehrten Großayatollahs Mohammed Sadeq as-Sadr,
den Saddam Hussein 1999 samt der meisten seiner männlichen
Verwandten ermorden ließ, hat keine Chance, gegen die
70-, 80-jährigen Großayatollahs des streng
hierarchisch gegliederten schiitischen Klerus zu punkten. Er
verfügt nicht über eine theologische Ausbildung und
kann keine Fatwas erlassen. Als Grund, warum Saddam Hussein ihn
– zusammen mit seinem behinderten Bruder –
seinerzeit verschonte, kursiert die Vermutung, dass er ihn
schlicht für zu dumm hielt, um ihm je gefährlich
werden zu können.

Ihm nicht; aber seinen Amtsnachfolgern.
„Demonstrationen haben keinen Sinn mehr“,
verkündete as-Sadr bei seiner Freitagspredigt in Kufa, dem
nicht ganz so heiligen Vorort Nadschafs, wohin er sich schon
vor Monaten zurückgezogen hatte, nachdem er an der Phalanx
des religiösen Establishments in Kerbala und Nadschaf
gescheitert war: „Schlagt zurück gegen die
Unterdrücker!“ Und das tun seine Anhänger, die
in ihm ein Spiegelbild der eigenen Misere gefunden haben:
ehemalige Feddajin, Arbeitslose, Slumbewohner aus Bagdad und
dem Süden, die er in der „Mehdi
(Messias)-Armee“ organisiert und mit Hilfe aus Iran4
bewaffnet hat. Binnen Tagen überrennen tausende seiner
Milizionäre Kerbala und Nadschaf, brechen Aufstände
in den Städten des Südens und Bagdads
größten – schiitischen – Slums los,
vertreiben Mehdi-Truppen die gesamte ukrainische Streitmacht
aus der mittelirakischen Stadt Kut, erobern Polizeiwachen,
deren Beamte ihnen vielfach freiwillig Autoschlüssel,
Waffen und Uniformen aushändigen. „Was sollen sie
auch sonst tun“, so ein Beamter in Sadr-City, dem Ort der
heftigsten Kämpfe in Bagdad, „jeder Polizist hat
doch Mehdi-Männer unter seinen Verwandten.“

In der Annahme, noch mehr Stärke zeigen zu müssen,
greifen amerikanische Verbände mit Hubschraubern und
Panzern an, wobei weit über 100 schiitische Iraker
sterben, und stellen nun auch noch einen Haftbefehl gegen
as-Sadr aus: „Capture or Kill“, gefangen genommen
oder getötet soll er werden – woraufhin sich as-Sadr
auf seinem Familiensitz in Nadschaf, keine 50 Meter vom
heiligsten Schrein des schiitischen Islam entfernt, verschanzt.
Die ersten Freiwilligen machen sich in Pakistan und Libanon zum
schiitischen Dschihad auf den Weg und islamische Kleriker in
aller Welt warnen die USA: In Nadschaf einzumarschieren
hieße, einen Flächenbrand in der gesamten
schiitischen Welt zu entfachen.

Krieg ohne Ende

Exakt ein Jahr nach ihrem Durchmarsch, der binnen drei
Wochen zur Implosion von Saddam Husseins Regime führte,
stehen die Amerikaner in Irak am Beginn eines erneuten Krieges.
Das heißt, eigentlich ist es immer noch derselbe Krieg.
Nur mochten ihn die Iraker nicht für Saddam Hussein
führen, dessen Macht auf Angst und Abhängigkeit
beruhte, nicht auf Glaubensinhalten irgendeiner Art. Die USA
wollten sich als Befreier sehen, wahrgenommen aber werden sie
von der irakischen Bevölkerung eher als Besatzer. Und
gegen diese wehren sich nun Teile der Bevölkerung, die mit
Saddams Regime nicht verbunden waren. Ausgerechnet in Tikrit,
im vergangenen Herbst und Winter eine Hochburg des Widerstands
gegen die amerikanischen Truppen, ist es in den letzten Wochen
ruhig geblieben.

Stattdessen zeichnen sich vollkommen neue Allianzen ab: Auf
Protestmärschen der Sunniten in Bagdad tauchen Bilder von
as-Sadr auf, in schiitischen Predigten wird der
„heroische Widerstand“ im sunnitischen Falludscha
gepriesen. Delegationen von Falludscha und der Messias-Armee
haben sich gegenseitig ihrer Unterstützung versichert.
Selbst christliche Kirchen mochten im nationalen Taumel nicht
zurückstehen und haben Lebensmittel sowie Medikamente
für Falludscha gespendet. Nicht für die Kämpfer,
sondern für die Zivilbevölkerung, aber der
Unterschied zwischen beiden verschwimmt immer mehr.

Die größte strategische Gefahr für den
künftigen irakischen Staat – ein Bürgerkrieg
unter seinen verschiedenen Ethnien – verblasst angesichts
des neuen Nationalismus, so sehr dieser auch von taktischen
Zweckbündnissen geprägt sein mag. Wie tief das geht,
ist (noch) nicht abzusehen, zumal der Antrieb des neuen
Schulterschlusses die Anwesenheit der amerikanischen
Streitkräfte im Land ist. Entfällt dieser Grund,
werden wieder entgegengesetzte Kräfte zum Zug kommen, wenn
es um die Machtverteilung im Land geht. Aber die Indizien
für das Zusammenwachsen der konkurrierenden Gruppen gehen
über Aufrufe und Nahrungsspenden hinaus: Die illegalen
Waffenmärkte in Bagdad beispielsweise sind so gut
bestückt wie lange nicht mehr. Viele Schiiten verkaufen
jetzt jene Waffen- und Munitionsbestände, die sie gehortet
hatten für den Fall des Bürgerkriegs gegen die
Sunniten.

Irakische Milizionäre

Um den Kunstgriff zu schaffen, am 30. Juni den Irakern
„die Souveränität“ zurückzugeben,
wie Bremers Sprecher Dan Senor gebetsmühlenartig beteuert,
aber gleichzeitig die Kontrolle im Land zu behalten, waren in
den vergangenen Monaten insgesamt mehr als 200000 irakische
Milizionäre bei Polizei, Grenzschutz und dem Iraqi Civil
Defense Corps (ICDC) angeheuert und in mehrwöchigen Kursen
rudimentär ausgebildet worden. Noch Ende März hatte
General Charles Swannack, Kommandeur der 82. Airborne Division,
sich lobend über die neuen Truppen geäußert:
„Die Sicherheitstruppen führen nicht nur einen
tapferen Kampf gegen die Terroristen, in manchen Fällen
bestehen sie sogar darauf, ihn allein zu führen. Sie
wollen diese Feinde des neuen und freien Iraks
schlagen.“5

Doch als es in den Kampf gegen die von amerikanischen
Sprechern wahlweise als Terroristen oder als Aufständische
bezeichneten Männer in Falludscha ging, bestanden
große Teile des gerade erst zeremoniell vereidigten 2.
Bataillons darauf, dass nun die Amerikaner diesen Kampf allein
führen sollten – und weigerten sich
auszurücken, weil sie, so einer der Soldaten, „nicht
hier sind, um auf Iraker zu schießen“. Zwei Tage
lang wurden die Befehlsverweigerer von amerikanischen Truppen
interniert und dann entwaffnet. Offiziere sprachen von
„Kommunikationsproblemen“, während Salama
al-Chafadschi vom Regierungsrat die Dissidenten für ihren
Patriotismus lobte.6 Zwei Wochen später bilanzierte
General Martin Dempsey, Kommandeur der in Bagdad stationierten
1. Armored Division, dass in den Kämpfen der vergangenen
Tage „40 Prozent der Sicherheitskräfte, die wir im
vergangenen Jahr aufgebaut haben, den Dienst quittierten,
während zehn Prozent aktiv gegen uns gearbeitet
haben.“7

Aber auch jene irakischen Einheiten, die Seite an Seite mit
den Marines in Falludscha kämpfen, tragen nicht zur
Stabilisierung des künftigen Staates bei. Denn zwar
kämpften kurdische Verbände der Peshmerga-Milizen,
die in die neue Armee integriert werden sollen, wie schon im
April 2003 an vorderster Front der Amerikaner; doch damit hat
sich die Kluft zwischen Sunniten und Schiiten auf der einen,
Kurden auf der anderen Seite noch vertieft, die sich bereits in
den vergangenen Monaten im Rahmen der Debatte über das
Ausmaß kurdischer Autonomie auftat. „Kurden,
schlimmer als Schweine und Diebe“,8 heißt es auf
einem Flugblatt, das in Falludscha und Bagdad kursiert; auf den
Straßen gelten die Kurden als Verräter am Kampf der
Iraker.

Es ist viel darüber geschrieben worden, dass die USA in
Irak kein politisches Projekt betreiben, keine realisierbare
Strategie des Umbaus, die mit den Mitteln einer gigantischen
Streitmacht und einer vergleichsweise winzigen, wenig
koordinierten Truppe ziviler Aufbauhelfer überhaupt
umsetzbar wäre. Nun aber zeichnet sich ab, dass die USA
nicht nur kein politisches Projekt in Irak haben, sondern auch
kein militärisches. Denn was genau wäre ein Sieg in
Falludscha, der mit aller militärischen Macht nun
erkämpft werden soll? Bestenfalls ein kurzes Innehalten,
bis die Kontrolle über die Stadt wieder an irakische
Hilfstruppen abgegeben wird, die nach wenigen Tagen entweder
attackiert werden oder von vornherein eher mit ihren
Landsleuten sympathisieren statt mit den Besatzern.

Unter Washingtons konkurrierenden Kräftezentren hatte
sich bereits vor dem Krieg jene Fraktion durchgesetzt, die den
Mikrokosmos der irakischen Gesellschaft entweder nicht
verstanden oder ignoriert hat. Wie funktionieren
Loyalitäten, nach welchen Kriterien sortierte sich die
irakische Gesellschaft unterhalb des eisernen
Unterdrückungssystems von Saddam Hussein? Was zählte,
waren und sind die genealogischen Linien: Familie, Clan, Stamm,
dann Ethnie, Konfession. Die wenigen politischen Organisationen
wie die einst starke, in den dreißiger Jahren
gegründete Kommunistische Partei waren zerschlagen worden,
politische Repräsentation, ein Parlament, friedliche
Partizipation hatte es ohnehin nur in zarten Anfängen
gegeben.

Fatale Fehler

In Unkenntnis dieser nach außen hin kaum sichtbaren
Linien beging das Pentagon unmittelbar nach dem Fall Bagdads
einen Fehler von erheblicher Tragweite: die Auflösung der
irakischen Armee. Der stellvertretende amerikanische
Verteidigungsminister Paul Wolfowitz und die anderen
Neokonservativen in Washington propagierten, Irak „von
Grund auf“ neu zu errichten. Dass mit dem Regime auch
seine Elitekampftruppen wie die Republikanische Garde, die
Sondergarde sowie die gefürchteten Geheimdienste
untergingen, sich auflösten und verboten wurden –
ebenso wie die Baath-Partei –, nahm die irakische
Öffentlichkeit hin.

Nicht aber, dass die Armee einfach aufgelöst, ihre
400000 Angehörigen unehrenhaft und unbezahlt per Dekret
entlassen wurden. Denn zum einen gab es die Armee lange vor
Saddam Hussein, zum anderen hielt Saddam selbst sie für
wenig loyal, was insofern zutraf, als sie im Krieg eher passiv
blieb. Ihre Auflösung hat zwei massive Probleme
aufgeworfen, die in ihrem vollen Ausmaß erst jetzt zum
Tragen kommen: Der Zorn der Entlassenen, die militärisch
ausgebildet und zumeist im Besitz von Waffen sind, hat eine
nicht unbeträchtliche Zahl von ihnen in den Widerstand
getrieben. Die hastig neu Rekrutierten wiederum fühlen
sich in ihrer Loyalität im Zweifelsfall eher ihrer
Herkunftsmiliz, ihrer Familie, ihrem Stamm verpflichtet –
sofern sie nicht von vornherein vorhaben, den
militärischen Marsch durch die Institutionen anzutreten,
um ihren Kampf gegen die amerikanischen Truppen von innen zu
führen.

Fragt man heute amerikanische Regierungsvertreter und
Militärs in Bagdad, verfolgt die Pressekonferenzen und
Verlautbarungen, so kristallisiert sich eine Annahme über
die gegenwärtige Situation hinaus: dass man nicht abziehen
könne, bevor „der Job nicht erledigt“,
„unfinished business“9 nicht zu Ende gebracht sei.
Sie verkennt die umgekehrte Tendenz der Entwicklung: Es wird
nicht besser, je heftiger sie angreifen, sondern immer
schlimmer. Nichts ist statisch, weder sind es die
„Aufständischen“, noch der ehedem leidlich
neutrale mehrheitliche Rest der Bevölkerung.

Doch die amerikanischen Offiziere und politischen Spitzen
gehen von statischen Größen aus, von Gegnern, die in
Zahl und Überzeugung gleich bleiben und nur vernichtet
werden müssen, um die Lage zu beruhigen. Was ihnen
verborgen bleibt, ist die Eigendynamik ihrer 135000 Soldaten
starken Kriegsmaschinerie und was deren bloße
Präsenz, Irrtümer, Angriffe und Gegenschläge in
Gang setzen: wenn Passanten im Taxi von einem wendenden Panzer
zerquetscht, Reporter des eigenen Haussenders
„Iraqiya“ von Kugeln durchsiebt, Passanten
erschossen werden, die das Pech hatten, nahe dem Ort eines
Anschlags zu sein.

Parallelen zu Vietnam

Die Regierung habe sich „mit geringer Kenntnis,
mangelhafter Erfahrung und vereinfachenden Annahmen“ in
den Krieg verstrickt – sagt der ehemalige amerikanische
Verteidigungsminister Robert McNamara heute über den
Vietnam-Krieg. Doch diese Erkenntnis passt auch auf das heutige
Geschehen in Irak. Wie McNamara damals dem Irrtum erlag, in
Vietnam müsse der Weltfeind aufgehalten werden, haben
Präsident George W. Bush und die Neocons ihn nun in Irak
geortet – damals den Kommunismus, heute den
islamistischen Terrorismus. Allein: In beiden Fällen hat
Amerika die Schauplätze seiner Kriege wie eine knetbare
Verfügungsmasse behandelt und dabei jene treibende Kraft
unterschätzt, die ihm in Vietnam zum Verhängnis wurde
und deren Entstehung es in Irak gerade forciert: Nationalismus.
Jene ungeheure Energie, die Völkern ihre Identität
stiftet, die Menschen ebenso zu opferwilligen Märtyrern
wie zu enthemmten Mördern werden lässt.

Es ist eine Kraft, die sich in der geschichtlichen Erfahrung
zumeist weit vor der Einführung demokratischer
Verhältnisse durchgesetzt hat und die in Zeiten
äußerer Bedrohung stärkere Resonanz entfaltet
als Bürgerrechte und Wahlen. So auch in Irak, wo das
seriöseste Umfrageinstitut Iraq Center for Research and
Strategic Studies (ICRSS) im Februar 2004 1600 Iraker nach
ihrer Definition von Souveränität befragte: 29,3
Prozent gaben „Wahlen“ an, 64 Prozent votierten
für „unabhängig von äußerer
Kontrolle“.10

Genau die aber will Washington nicht aufgeben. Erst auf
Druck der irakischen Öffentlichkeit war man zu
Zugeständnissen bereit, wurde aus dem ursprünglich
vorgesehenen „Beratungsgremium“ der bis zum 30.
Juni amtierende Regierungsrat. Dann vereitelte die Coalition
Provisional Authority (CPA) unter Bremer alle frühzeitigen
Bemühungen, Wahlen möglich zu machen. Bereits im
Oktober 2003 hatten Experten des irakischen
Planungsministeriums dargelegt, wie sie binnen zehn Monaten aus
den Datenbeständen der Lebensmittelbezugsscheine,
Melderegister und der Volksbefragung von 1997 ein Wahlregister
aufstellen könnten – die CPA verwarf das Projekt und
verschwieg sogar dem Regierungsrat dessen Existenz.11 Der
Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Irak, Lakhdar
Brahimi, indes plädierte am 27. April gar für die
möglichst rasche Bildung einer Übergangsregierung,
die bereits „Ende Mai“ ihre Arbeit aufnehmen
könnte.12

Insgesamt sei es der CPA gelungen, so einer ihrer irakischen
Berater gegenüber der Washington Post, „genau jene
Politiker unpopulär werden zu lassen, die sie protegiert
haben – während jene populär wurden, deren
Aufstieg die Amerikaner gerade verhindern wollten“.13 Es
sei das Problem der Amerikaner, so der reaktivierte irakische
General Abdulkadir Mohammed, „dass die Amerikaner nur mit
Ja-Sagern zusammenarbeiten wollen“.14 Schon jetzt gehen
die meisten Mitglieder des Regierungsrats auf Distanz zu den
USA, um nicht noch tiefer in den Strudel öffentlicher
Ablehnung zu geraten.

In derselben ICRSS-Umfrage, in der doppelt so viele Befragte
Unabhängigkeit statt Wahlen als Wesensmerkmal von
Souveränität nannten, sprachen sich 65,2 Prozent
dafür aus, die für den 30. Juni terminierte
Machtübergabe lieber zu verschieben, um direkt im
Anschluss Wahlen abhalten zu können – während
lediglich knapp 30 Prozent dafür waren, den Termin
einzuhalten um den Preis, dass die Macht abermals an eine nicht
gewählte Regierung übergeben werde.

Mit diesem aus innenpolitischen Gründen gewählten
Termin hat sich Bush in eine schwierige Lage manövriert:
Er wollte den frühen Termin der offiziellen
Machtübergabe nutzen, um seinen
Präsidentschaftswahlkampf unbelastet von weiterer
Verantwortung für das irakische Chaos führen zu
können, obwohl bis heute nicht klar ist, was dort genau an
wen übergeben werden soll. Voraussichtlich werden die
Vereinten Nationen und die amerikanische Regierung gemeinsam
eine neue Regierung sowie einen „Konsultativrat“
auswählen. Doch dieser Regierung wird es, so der Stand
Ende April, untersagt sein, Gesetze zu ändern.15
Außerdem sollen Truppen der Iraker, der dahinschmelzenden
Koalitionsstreitkräfte sowie die im Verborgenen
operierenden Geheimdienste unter amerikanischem Kommando
bleiben. Es sei klar geworden, so Bremer, dass „die
irakischen Streitkräfte nicht in der Lage sein werden, mit
den Bedrohungen fertig zu werden. Stattdessen werden Truppen
aus vielen Ländern, darunter auch den USA, ihnen zur Seite
stehen, um den Irakern die Sicherheit zu geben, die sie
brauchen.“16

Nur wollen immer weniger Iraker diese Sicherheit, und immer
mehr fordern jene tatsächliche Souveränität, die
die USA immer weniger abzugeben bereit sind . So scheint die
Dynamik sich in eine andere Richtung zu entwickeln: Aus einem
Termin in Irak, den Bush für seine Wahlkampagne in den USA
nutzen wollte, wird ein Termin, den die Iraker gegen Bush
benutzen werden. Es wird nicht funktionieren, erst
Souveränität zu versprechen, und sie dann doch nicht
zu gewähren. Damit hat die Regierung Bush ihren irakischen
Gegnern ein machtvolles Instrument in die Hand gegeben: ein
Versprechen. Und das werden sie einfordern.

In der Praxis betreibt Washington zunehmend eine
Kolonialpolitik wie einst die Briten, will aber nach eigenem
Bekunden gar nicht deren klassische Ziele erreichen. Niemand
wäre früher auf die Idee gekommen,
„Demokratie“ als imperialistische Perspektive zu
formulieren. Doch genau das, ein demokratisches und freies
Irak, ist die Maxime der amerikanischen Besatzung. Die
faustische Implikation ihrer erklärten politischen Ziele
in Irak nun liegt darin, dass sie das Ziel eines geeinten Iraks
am ehesten dann erreichen werden, wenn sie militärisch
verlieren. Nationalstaaten und das mit ihrer Entstehung
einhergehende Mythenrepertoire wachsen nicht aus der
Unterwerfung, sondern aus dem Widerstand gegen die
Fremdherrschaft.

Je länger die Kämpfe weitergehen, desto
stärker wird sich die arabische Allianz aus Sunniten und
Schiiten verfestigen, wird sich der Graben zu den Kurden
vertiefen. Doch auch wenn das jetzige Besatzungsregime an
seinen inneren Widersprüchen scheitert, ist
spätestens an diesem Punkt die Parallele zu Vietnam am
Ende. Dann nämlich werden mit voller Wucht jene
Zentrifugalkräfte wieder einsetzen, die im Kampf um die
Macht über Land und Ressourcen sowohl die drei
großen Ethnien und Konfessionen, ihre intern gespaltenen
Lager als auch die längst involvierten Nachbarstaaten in
einen Bürgerkrieg führen könnten.

Anmerkungen

1Vgl. Christian Science Monitor, 30.3.2004.

2Vgl. San Francisco Chronicle, 2.4.2004.

3Vgl. Agence France Presse (AFP), 9.4.2004.

4Vgl. Asia Times, 15.4.2004 und 17.4.2004.

5Vgl. Cincinatti Post, 29.3.2004.

6Vgl. Az-Zamman, 7.4.2004.

7Vgl. Associated Press, 21.4.2004.

8Vgl. Washington Post (WP), 18.4.2004.

9Vgl. New York Times (NYT), 26.4.2004.

10Vgl. ICRSS, „February Public Opinion Poll in
Iraq“, Bagdad 2004.

11Vgl. NYT, 4.12.3003.

12Vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung,
29.4.2004.

13Vgl. WP, 18.4.2004.

14Vgl. Christian Science Monitor, 21.4.2004.

15Vgl. AFP, 25.4.2004.

16Vgl. NYT, 19.4.2004.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 105-112

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