Essay

24. Juni 2024

Aufgeregte Zeiten: Über die Bedeutung von Emotionen in der Außenpolitik

Ob in der Wähleransprache oder bei der Beurteilung von außenpolitischen Krisenszenarien: Wer den Faktor Emotion berücksichtigt, ist im Vorteil. Ein Plädoyer für mehr „emotionale Resonanz“ und „strategische Empathie“ in der internationalen Politik.

Bild
Bild: Bundeskanzler Willy Brandts „Kniefall von Warschau“ am Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto, 7. Dezember 1970.
Eines der wichtigsten Beispiele, wie bedeutsam und richtungsweisend Gesten des Mitgefühls und der Anteilnahme in der Weltpoli­tik sein können, insbesondere wenn Emotionen von Staats- und Regierungschefs zum Ausdruck gebracht werden: Bundeskanzler Willy Brandts „Kniefall von Warschau“ am Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto, 7. Dezember 1970.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Die Weltlage ist bedrohlich; längst sind die Auswirkungen globaler Instabilität nicht mehr abstrakt, sondern im Alltag der Menschen spürbar. Geopolitische Verwerfungen treffen auf verunsicherte, „veränderungserschöpfte“ (Steffen Mau) Gesellschaften. Was als Erinnerung an die permanent schlechten Nachrichten zurückbleibe, sei das „Bedrohliche und Erschreckende, das dafür sorgt, dass Ängste und Sorgen ins allgemeine Bewusstsein Einzug halten“, stellt Herfried Münkler in seinem 2023 erschienenen Buch „Welt in Aufruhr“ fest.

Mit der fortwährenden Überlagerung geopolitischer Erschütterungen und wirtschaftlicher Turbulenzen, die kennzeichnend ist für das Zeitalter der Polykrise, potenzieren sich auch Ängste, Wut und Hass. „Wir leben in aufgeregten Zeiten“, befand Anfang des Jahres sogar der nicht zu emotionalem Überschwang neigende Bundeskanzler Olaf Scholz. Individuelle Emotionen und kollektive Stimmungen sind wirkmächtige Faktoren – auch in der Außenpolitik. Simon Koschut, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Sicherheitspolitik an der Zeppelin Universität und Experte für Normen und Emotionen in der Weltpolitik, mahnte schon vor ein paar Jahren zu Recht: „So zu tun, als ob Gefühle nicht vorhanden seien, bedeutet eine grundlegende Dynamik der internationalen Politik zu übersehen“ (IP 6/2020, S. 22).

Jüngste Erkenntnisse der Neurowissenschaften belegen: Den allein auf Grundlage rationaler Kosten-Nutzen-Abwägungen handelnden Homo Rationalis gibt es nur in der Theorie. Das bedeutet, dass auch außenpolitische Meinungen und davon beeinflusste Wahlentscheidungen immer emotional grundiert sind. Die Empfindlichkeiten der Wählerschaft können dem außenpolitischen Handlungsspielraum der Regierenden Grenzen setzen, aber auch gezielt von ihnen genutzt werden. 

In diesem Zusammenhang weist die Historikerin Ute Frevert auf den Trend zur moralischen Aufladung von Außenpolitik hin, die ihrerseits zu einer Emotionalisierung führt. Ist eine außenpolitische Entscheidung nicht mehr „nur“ eine Frage nationaler Interessen, sondern von Gut und Böse, dann ruft sie deutlich emotionalere Reaktionen hervor und birgt somit ein größeres Mobilisierungspotenzial. 

Auch die permanente Verfügbarkeit oft zutiefst verstörender Bilder aus Konflikt- und Krisengebieten, die unablässig und ungefiltert in die Timelines Abertausender Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien gespült werden, wirkt emotionalisierend. Schon Mitte der 1970er Jahre bemerkte der kanadische Philosoph und Kommunika­tionstheoretiker Marshall McLuhan, infolge der im Fernsehen auf unmittelbare Weise transportierten Brutalität des Krieges sei der Vietnam-Krieg in den Wohnzimmern Amerikas, nicht auf den Schlachtfeldern Vietnams verloren worden. 

Wie sehr die sozialen Medien inzwischen zum umkämpften Schauplatz im „Krieg der Bilder“ geworden sind, in dem mithilfe medial evozierter Emotionen Unterstützung für die eine oder andere Seite mobilisiert werden soll, macht der israelische Krieg gegen die Hamas deutlich. Dabei gilt: Je höher der Empörungsfaktor eines Posts, desto größer seine Reichweite. Zu Recht unterstreichen die amerikanischen Politikwissenschaftler Peter W. Singer und Emerson T. Brooking die politische Bedeutung des „war of images“, denn „die dadurch ausgelösten Debatten prägen die öffentliche Meinung mit und beeinflussen selbst diplomatische und militärische Entscheidungen“. 

Dass Gesellschaften gerade in Krisen zu erhöhter emotionaler Reaktivität neigen, ist wenig überraschend. Dieser emotionale „Aggregatzustand“ bietet eine willkommene Angriffsfläche für feindlich gesonnene externe Akteure, deren Interesse es sei, „Ängste mit Warnungen und Drohungen zu bespielen, sie noch einmal zu steigern, um so ihre politischen Ziele leichter umsetzen zu können“, so Münkler. In diese Kategorie fallen die von hochrangigen Vertretern Russlands vorgetragenen Nukleardrohungen, die vor allem an die Adresse der deutschen Öffentlichkeit gerichtet sind.

Aber auch populistische Kräfte im Innern setzen Emotio­nen, vor allem negative, gezielt ein. Populistische Erzählungen greifen in besonderem Maße Wut, Ärger und Empörung auf. Damit unterfütterte Narrative und vermeintlich „einfache Lösungen“ haben in einer komplexen Welt gute Überlebenschancen, umso mehr in Krisenzeiten. 

Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz untersucht in ihrem Buch „Undemokratische Emotionen“, wie Rechtspopulisten Gefühle wie Angst und Abscheu instrumentalisieren, und argumentiert: „Nur Gefühle verfügen über die Macht, empirische Beweise zu leugnen, unsere Motivation zu bestimmen, unsere eigenen Interessen in den Schatten zu stellen und dabei zugleich Antworten auf konkrete soziale Situationen zu geben.“ Sie bezieht sich dabei auch auf die amerikanische Soziologin Arlie Russel Hochschild, die nach ihren Untersuchungen der Trump-Wählerschaft davon ausgeht, dass Erzählungen nicht notwendigerweise tatsachenbasiert sein müssen, sondern es vielmehr darauf ankommt, ob sich etwas wahr „anfühlt“.

Wie können Gesellschaften in Phasen erhöhter emotio­naler Reaktivität also widerstandsfähiger werden gegen Einflussnahme von außen, aber auch gegen populistische Botschaften von innen? Eine Studie, die der European Council on Foreign Relations (ECFR) vor der Europawahl 2019 zu den Gefühlen der Europäerinnen und Europäer für ihren Kontinent durchführte, gibt wichtige Anhaltspunkte. Auch für die Länder der Europäischen Union gelte demnach: In der heutigen Politik geht es ebenso um Emotionen wie um Ideen. Politische Kommunikation, die allein auf Sachargumente und das Entkräften populistischer Erzählungen setzt, hat daher wenig Aussicht auf Erfolg. In Zeiten der Krise kommt es auf „emotionale Resonanz“ an. Im Sinne der Storytelling-Methode, so die Autorinnen und Autoren der Studie, sollten proeuropäische Parteien eine „umfassende, überzeugende Geschichte“ über die Zukunft Europas erzählen, die die Sorgen und Ängste der Wähler ernstnimmt. 

Hinzu kommt: Ebenso wie negative Emotionen bewusst geschürt werden können, ist es möglich, positive Gefühle wie Stolz auf Erreichtes oder Gemeinschaftsgefühl zu fördern, die zu konstruktivem Verhalten motivieren. Gelingt es, ein Thema – etwa die Zukunft Europas – gezielt mit positiven Emotionen zu verbinden, verlieren Beeinflussungsversuche, die auf negativen Emotionen aufbauen, an Wirkung.

Weltweit sind Autokratien und auch der Politikertypus des Autokraten auf dem Vormarsch. Wenn Entscheidungen von einem äußerst begrenzten Personenkreis, im Extremfall vom „starken Mann an der Spitze“ allein, ohne die institutionellen „checks and balances“ getroffen werden, kommt es in besonderer Weise darauf an, wie es im Kopf des Autokraten aussieht und wie es um seine emotionale Balance bestellt ist. 

Anhänger der realistischen Denkschule in den internationalen Beziehungen stehen dieser These skeptisch gegenüber. Für sie orientiert sich das Handeln von Staaten in einer weitgehend anarchischen Welt einzig und allein an der Maximierung eigener Macht und Sicherheit. Individuelle Führungspersönlichkeiten mit ihren Idiosynkrasien spielen nur eine geringe Rolle. So warnte Henry Kissinger, der allgemein als Inkarnation des außenpolitischen Realismus gilt, in einem vielzitierten Bonmot vor der Versuchung, Außenpolitik für eine Unterdisziplin der Psychiatrie zu halten. Offenbar befürchtete er, eine eindimensionale Fokussierung auf die psychologische Konstitution von Staatenlenkern werde der komplexen Dynamik außenpolitischer Prozesse nicht gerecht und führe letztlich zu falschen Entscheidungen. 

Ein berechtigter Einwand. Doch ebenso fehleranfällig sind Entscheidungen, die Persönlichkeitsstruktur und Verhaltensmerkmale der Entscheidungsträger ausblenden – zumal, wenn wir es mit autokratischen Systemen zu tun haben. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Jervis beschäftigte sich als einer der ersten systematisch mit der Frage „How Statesmen Think“ (so auch der Titel eines seiner Bücher) und konnte nachweisen, dass „cognitive biases“ – also Verzerrungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen – von Staatsmännern und -frauen, ihre Wertvorstellungen und persönlichen Erfahrungen oft mindestens genauso ausschlaggebend sind wie die ­objektiven Rahmenbedingungen. 

Das Beispiel des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine macht deutlich, dass das Ausblenden von persönlichkeitsspezifischen Handlungsmotiven eines Machthabers, die dem Prinzip staatlicher Nutzenmaximierung nicht entsprechen, auf die falsche Fährte führen kann. Dass Wladimir Putin die Ukraine überfallen und damit massive politische und wirtschaftliche Schäden für sein Land in Kauf nehmen könnte, hielten viele Beobachter im Vorfeld des 24. Februar 2022 für undenkbar. In ihrer Analyse der Situation hatten sie Putins emotionale Fixierung auf die Kontrolle der Ukraine ausgeblendet. Jene „tiefsitzende Emotion“, die die amerikanische Russland-Expertin Fiona Hill kurz nach Beginn der Invasion als „ungesund und außerordentlich gefährlich“ bezeichnen sollte.

Was also können wir aus dem analytischen Versagen in der „Causa Putin“ lernen? In ihrem Artikel in Foreign Affairs („Why Smart Leaders Do Stupid Things“, November/Dezember 2023) warnt die Politikwissenschaftlerin Keren Yarhi-Milo, „dass Großmächte und ihre unberechenbaren Führer sich verkalkulieren oder irrational und neurotisch handeln können“. Diese Warnung sollte besonders in Krisenszenarien berücksichtigt werden. Ob Xi Jinpings Umgang mit Taiwan oder Donald Trumps Positionierung zur NATO: Entscheidungen auf Basis eines rein rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls sind auch in diesen Fällen nicht zu erwarten.

Neben individuellen Emotionen und kognitiven Verzerrungen können auch Beziehungen zwischen Entscheidungsträgern maßgeblichen Einfluss auf die Weltpolitik ausüben. Freund- und Feindschaften können einen Schatten auf bilaterale Beziehungen werfen oder aber sie positiv beeinflussen. Das berühmte Foto, das Ronald ­Reagan und Michail Gorbatschow in entspannter Pose auf der Rancho del Cielo in den Santa-Ynez-Bergen zeigt, ist in die Geschichte eingegangen. Nach seinem Treffen mit Gorbatschow in Genf 1985, das in der Rückschau den „Anfang vom Ende des Kalten Krieges“ markieren sollte, wurde Reagan mit den Worten zitiert: „Die Chemie zwischen uns stimmt.“

Ob die ebenfalls öffentlichkeitswirksam inszenierte „Verbrüderung“ zwischen Xi Jinping und Wladimir Putin persönlicher Sympathie oder strategischem Kalkül (oder beidem) entspringt, lässt sich kaum belegen. Der chinesische Staatschef nannte seinen russischen Gast bei dessen jüngstem Besuch in Peking einen „alten Freund“, Wladimir Putin gab an, beide seien „wie Brüder“. Äußerungen, die ihre Wirkung weder in der russischen und chinesischen Öffentlichkeit noch global verfehlen. Entscheiden sich die wichtigsten Männer Chinas und Russlands für eine solche „russisch-chinesische Freundschaftsshow“ (Christoph Giesen und Christina Hebel im SPIEGEL, 17.5.2024), dann wird ein strategisches Zweckbündnis bewusst emotional überformt.

Der erste direkte Schlagabtausch zwischen dem Iran und Israel im April 2024 hat einmal mehr die Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts in der Region wachsen lassen, insbesondere mit Blick auf die atomare Bedrohung, die von Teheran ausgeht. Auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das längst überwunden geglaubte Albtraum-Szenario einer nuklearen Eskalation zwischen zwei Atommächten – eines „Armageddon“, in den Worten Joe Bidens – wieder in den Fokus von Entscheidungsträgern und politischer Öffentlichkeit gerückt.

Ältere Forschung zu nuklearer Abschreckung geht hauptsächlich von rationalen Akteuren aus. Auch hier hat Robert Jervis bereits früh gezeigt, wie psychologische Faktoren Praktiken der Abschreckung mitbestimmen. Gerade in solch existenziellen Situationen wie der wechselseitigen Bedrohung durch Atomwaffen, so die Annahme, scheinen Emotionen fehl am Platz. Dabei beruht das Konzept selbst auf einer der zentralsten Emotionen in den internationalen Beziehungen, die sogar in den realistischen Theorien Erwähnung findet: Angst. Wird sie nicht geweckt, kann nicht glaubhaft vermittelt werden, dass der Waffeneinsatz zumindest eine Option ist. Die Drohung bleibt unglaubhaft, ihre intendierte Abschreckungswirkung verpufft. 

Dass es bei nuklearer Abschreckung nicht nur um die Waffe als solche geht, zeigt ein Beispiel des Konstruktivisten Ale­xander Wendt: 500 nukleare Sprengköpfe in Großbritannien sind für die Vereinigten Staaten eine geringere Bedrohung als fünf Sprengköpfe in Nordkorea. Der Grund dafür, so die konstruktivistische Annahme, liegt in einer Partnerschaft der Länder, resultierend aus einem gemeinsamen Verständnis der Welt, geteilten Identitäten, Ideen und Normen. Emotionen funktionieren hierbei als Werkzeug, durch sie werden gemeinsame Identitäten gefestigt. So stärkt beispielsweise der kollektive Ausdruck der Anteilnahme und des Ungerechtigkeitsempfindens angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine die NATO-Staaten in ihrem Selbstverständnis als Wertebündnis, das sich zu Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennt.

Wer sowohl auf Gruppen- als auch auf individuelle Emotionen angemessen reagieren will, der braucht vor allem eines: Empathie. Wie bedeutsam und richtungsweisend Gesten des Mitgefühls und der Anteilnahme in der Weltpolitik sein können, insbesondere wenn diese Emotionen von Staats- und Regierungschefs zum Ausdruck gebracht werden, zeigt Willy Brandts „Kniefall von Warschau“ vor dem Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Der Besuch des Bundeskanzlers in Polen am 7. Dezember 1970 war der erste eines westdeutschen Regierungschefs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und sollte der „Normalisierung“ der Beziehungen dienen. Wo Worte das Ausmaß deutscher Schuld nicht zu fassen vermögen, drückte Brandts wirkmächtige Geste nicht nur tiefe Betroffenheit, sondern auch Demut und die Bitte um Vergebung aus. Indem er emotionale und ­politische ­Bedeutung in sich vereinte, markiert der Kniefall einen Meilenstein in der Wiederannäherung zwischen Deutschland und Polen. 

Empathie ist zwar verwandt mit Anteilnahme und Mitgefühl, keineswegs jedoch damit identisch. Vielmehr beschreibt Empathie die Fähigkeit, sich in eine andere Person hineinzudenken und hineinzufühlen. In seinem Buch „Battlegrounds“ überträgt H.R. McMaster, US-General, Historiker und für kurze Zeit Nationaler Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, den Begriff „Empathie“ auf die Außen- und Sicherheitspolitik. „Strategische Empathie“, definiert als „Fähigkeit zu verstehen, was den anderen antreibt, aber auch in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt“, bildet das Gegenkonzept zum von Hans Morgenthau geprägten Begriff des „strategischen Narzissmus“. Ein in erster Linie selbstbezügliches Rollenverständnis als internationaler Akteur birgt die Gefahr einseitiger Fehlwahrnehmungen, die ihrerseits zu schlechten politischen Entscheidungen führen. 

Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind die US-Interventionen in Afghanistan und im Irak, für die die Perspektive Kabuls beziehungsweise Bagdads keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte – mit schwerwiegenden Folgen für alle Beteiligten. Strategische Empathie dagegen vollzieht die Sichtweise des Anderen – Gegner, aber auch Partner und Verbündete – bewusst nach und wird dadurch zu einem iterativen Prozess, an dessen Ende im besten Fall bessere Entscheidungen stehen. „Empathie sollte zu mehr Bescheidenheit in strategischen Fragen führen und die Wahrscheinlichkeit von Hybris oder Arroganz verringern, die Entscheidungsträgern den Blick für die Realität einer Situation verstellen“, so Claire Yorke, die am Australian War College zur Bedeutung von Empathie in der Außen- und Sicherheitspolitik forscht, im Gespräch mit uns. 

Angesichts eines multipolaren internationalen Systems, in dem aufstrebende Akteure aus dem Globalen Süden ihren Macht- und Gestaltungsanspruch immer selbstbewusster einfordern, wird strategische Empathie zu einem wichtigen außenpolitischen Instrument insbesondere westlicher Hauptstädte. Simon Koschut zufolge „wird die etablierte liberale Weltordnung durch neue und alte illiberale (emotionale) Gemeinschaften infrage gestellt, die in ihrer Enttäuschung und Wut gegenüber den sogenannten ‚Etablierten‘ vereint sind“. Strategische Empathie bedeutet in diesem Fall nicht nur, westliches Dominanzdenken zu überwinden, sondern auch, die Emotionen der anderen, ihre Enttäuschung und ihre Wut gegenüber dem Westen anzuerkennen. 

Grundvoraussetzung dafür ist die Bereitschaft zum „Zuhören jenseits der eigenen Echokammer“, wie es Carlos Frederico Coelho, Paulo Esteves, Julia Ganter, Steven Gruzd und Manjeet Kripalani, Autorinnen und Autoren des vom BRICS Policy Center, Gateway House India, dem South African Institute for International Affairs (SAIIA) und der Körber-Stiftung veröffentlichten Emerging Middle Powers Report 2024, formulieren. 

„Staaten haben keine Gefühle“: Dieser Grundsatz klassischer Diplomatie verleitet dazu, die Bedeutung von Emotionen in der Außenpolitik zu unterschätzen. Doch auch mit Blick auf das Neujustieren der Beziehungen zwischen dem Westen und dem Globalen Süden wäre dies ein Fehler. Neue Partnerschaften zwischen etablierten und aufstrebenden Mächten zu schmieden, setzt auch voraus, sich mit den Emotionen der anderen auseinanderzusetzen.

 

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 104-109

Teilen

Mehr von den Autoren

Clara Bredenbrock ist Programm-Managerin bei der Körber-Stiftung. Ihren Masterabschluss erwarb sie an der FU Berlin, der New York University und der University of Toronto mit einer Arbeit über „Emotion and Threat Perception“.

Nora Müller leitet den Bereich Internationale Politik der Körber- Stiftung und das Hauptstadtbüro in Berlin.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.