Titelthema

01. Nov. 2020

Etablierte und Außenseiter

Emotionen spielen in der Krise der liberalen Weltordnung eine zentrale Rolle. Wut und Hass fordern sie von innen heraus – Appelle an die Vernunft helfen nicht weiter.

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Bild_ Chinesische Flaggen bei einer Militärparade
Das Verehren nationaler Symbole ist für das Narrativ eines Landes unerlässlich. Sie sollen ein Band sein, Halt geben; andererseits können etwa Flaggen aber auch einen durchaus emotional aufgeladenen Anspruch reklamieren. Das Bild zeigt chinesische Soldaten in Hongkong.
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Braucht die liberale Demokratie Gefühle? In der Geschichte der Psychologie und Philosophie haben sich viele gefragt, warum allein schon Menschen Emotionen haben. Als Beispiel für eine extremere Antwort auf diese Frage proklamierte der US-amerikanische Psychologe B. F. Skinner: „Wir alle wissen, dass Emotionen für unseren Seelenfrieden und unseren Blutdruck nutzlos und schlecht sind.“

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Aber die moderne Sichtweise legt genau das Gegenteil nahe: Emotionen und Rationalität, Gefühl und Verstand, stellen keinen Widerspruch dar, sondern bedingen einander. Damit wird ein Credo der Aufklärung, wie es etwa Descartes formuliert hat, zumindest relativiert – dass der Verstand über die Gefühle herrschen sollte und nicht umgekehrt. Vielmehr zeigt die neuere Hirnforschung, dass rationales Handeln ohne Emotionen teils gar nicht möglich ist. Emotionen verleihen unseren Präferenzen erst Intensität und Relevanz. Emotionen dienen auch als moralischer Kompass, denn sie lassen uns die negativen Konsequenzen unseres Handelns spüren. Wenn aber Emotionen rationale und moralische Entscheidungen ermöglichen, und wenn internationale Politik auf sozialer Interaktion rationaler und moralischer Akteure basiert, dann muss internationale Politik ebenso eine emotionale Dimension haben. Emotionen können natürlich politisch gefährlich und unerwünscht sein. Hass ist schließlich auch eine Emotion. Aber so zu tun, als ob Gefühle nicht vorhanden seien, bedeutet eine grundlegende Dynamik der internationalen Politik zu übersehen.



Emotionen beeinflussen unsere politische Wahrnehmung, Informationsaufnahme und Risikobewertung. Negative Gefühle wie Furcht oder Angst vergrößern unseren Aufmerksamkeitsradius und führen zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung. Wut und Hass dagegen verringern unsere Risikoaversion und können dazu führen, dass wir uns neuen Informationen und Argumenten verschließen. Dieses Zusammenspiel zwischen affektiven Gefühlen und kognitiven Bewertungen beeinflusst außenpolitisches Verhalten. So funktioniert etwa militärische Abschreckungspolitik nur, solange ein potenzieller Aggressor auch tatsächlich Furcht empfindet. Reagiert der Aggressor dagegen mit Wut, macht dies eine militärische Konfrontation sogar wahrscheinlicher.



Auch die moralische Überzeugungskraft internationaler Normen beruht auf Emotionen. Damit Mechanismen zur Normendurchsetzung, wie etwa das Anprangern von Menschenrechtsverletzungen, eine Verhaltensänderung hervorrufen können, müssen die betroffenen Akteure zunächst einmal so etwas wie Scham oder Reue empfinden. Täten sie dies nicht, wären diese Mechanismen zur Normendurchsetzung nutzlos. Emotionen können dabei durchaus „vernünftig“ (sprich: rational) sein: Wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, kann das Ablehnen eines materiellen Vorteils durchaus rational sein.



Emotionale Gemeinschaften

All dies hat konkrete Auswirkungen auf die internationale Politik: Emotionen wie das Mitgefühl mit dem Leid Anderer oder auch die Furcht vor Krieg und Armut sind oft die Basis globalen Engagements. Gerade in einem „postfaktischen“ Zeitalter leben Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie von der emotionalen Bindung der Menschen an politische Institutionen und geteilte liberale Werte und Normen, die letztlich „das Faktische“ definieren. Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Ja, auch die Demokratie braucht Gefühle, denn diese unterstreichen die Wertigkeit ihrer Existenz als emotionale Form der Gemeinschaft.



Unter emotionalen Gemeinschaften sind Formen der Gemeinschaft zu verstehen, die sich durch weit verbreitete und kollektiv geteilte Gefühlsformen auszeichnen. Sozialpsychologische Theorien zeigen: Wenn sich einzelne Mitglieder mit einer bestimmten sozialen Gruppe identifizieren, übernehmen diese auch deren kollektive Emotionen als Teil ihrer eigenen Identität – selbst wenn sie nicht persönlich betroffen sind.



Emotionale Gemeinschaften können auf allen politischen Ebenen Gestalt annehmen und mobilisiert werden. Die bekanntesten sind wohl nationale Gemeinschaften, die meist durch patriotische Gefühle gestärkt werden, wie in den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Nationale Gemeinschaften stabilisieren sich durch emotional aufgeladene Symbole und historische Narrative. Beispiele sind etwa das historisch bedingte emotionale Narrativ von kollektivem Leid und Opfer unter Fremdherrschaft in Mittel- und Osteuropa oder auch das der angemessenen Schuld und historischen Verantwortung gegenüber Israel in Deutschland. Wie es Bundespräsident Joachim Gauck formuliert hat: „Wir sprechen von unermesslichem Leid (...) und von unermesslicher Schuld, wenn wir vor dem Abgrund der Schoah stehen. Es gibt kein Nachdenken über die deutsche Schuld und die uns gemeinsame Geschichte ohne diesen Blick in den Abgrund.“



In der internationalen Politik hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine institutionell verfestigte Ordnung etabliert, die auf liberalen Werten und Normen basiert. Diese fußen ihrerseits auf kollektiv geteilten Emotionen. So teilen viele Mitglieder der Europäischen Union eine, in den destruktiven Auswirkungen von Nationalismus und Krieg verwurzelte, emotionale Geschichte von Trauer und Trauma; sie teilen aber auch die Hoffnung auf eine friedlichere und gerechtere Welt. Die UN-Charta unterstreicht die emotionale Bedeutung von Menschenrechten und Grundfreiheiten, um „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. MenschenrechtsaktivistInnen bilden transnationale, emotionale Gemeinschaften, weil sie von menschlichen Leidensgeschichten emotional bewegt werden und verwenden dieselbe Logik, um andere zum Handeln zu bewegen.



Etablierte und Außenseiter

Die Erkenntnis, wie solche Gruppenemotionen funktionieren, ist wichtig. Sie hat direkte Auswirkungen auf die Art und Weise, wie sich gegenwärtig die internationale Ordnung verändert. Liberale Werte und Normen reproduzieren sich über die emotionalen Reaktionen, die diese auslösen und die mithilfe digitaler Kommunikation und sozialer Medien global verbreitet und geteilt werden. Manche dieser Reaktionen stärken diese Ordnung, wie die globale Sympathie und Solidarität nach den Anschlägen vom 11. September. Andere Reaktionen fordern diese heraus, wie die lokale Wut und Angst vor Bevormundung und Überfremdung während des Brexit-Votums. So wie sich emotionale Gemeinschaften etablieren und den internationalen Status quo stärken können, so können emotionale Gemeinschaften auch Orte des Widerstands sein und politische Transformation mit herbeiführen.



In seiner berühmten Studie „Etablierte und Außenseiter“ untersucht der Soziologe Norbert Elias die angespannten Beziehungen zwischen einer etablierten Gruppe und Außenseitern in einer englischen Ortschaft. Diese Studie liefert den emotionalen Mikrokosmos für eine Untersuchung internationaler Machtstrukturen. Laut Elias projizieren etablierte Gruppen negative Emotionen auf nichtetablierte Gruppen. Übertragen auf die internationale Politik bedeutet dies, dass Emotionen zur sozialen Konstruktion von Gruppenidentität und Status auf internationaler Ebene beitragen, welche die damit verbundene Machthierarchie zwischen etablierten und nichtetablierten Gruppen reproduziert und stabilisiert. Etablierte Gruppen, wie beispielsweise die G7-Staaten, entwickeln ein für die Mitglieder positives Selbstbild, das sich in ihrem Gruppenethos gegenüber nichtetablierten Gruppen, etwa Entwicklungsländern, häufig spiegelt.



Dieses Gefühl von Überlegenheit wird an bestimmten gruppenspezifischen Attributen wie Wohlstand, militärischer Macht, kultureller Errungenschaft, Demografie oder technologischer Innovation festgemacht, die den höheren Status der etablierten Gruppe untermauern sollen. Die statusbedingte Zugehörigkeit und Identitätsbildung innerhalb einer sozialen Gruppe ist dabei eng verbunden mit emotionalen Gefühlen wie Stolz und Selbstwertgefühl unter den Etablierten einerseits sowie Scham und Minderwertigkeitsgefühlen bei den Außenstehenden andererseits. Das Zusammenspiel zwischen kollektiv geteilten Emotionen, Gruppenidentität und Statushierarchien kann so der Festigung von internationalen Machtstrukturen zwischen Etablierten und Außenseitern Auftrieb verleihen.



Umgekehrt können sich Demütigung und Scham bei Außenseitern auch in Wut und Ressentiments gegenüber den Etablierten verwandeln, was zu einer Veränderung im Sozialverhalten und zur Transformation von Macht im internationalen System führen kann. Globale Transformationsprozesse können mithilfe der Mobilisierung neuer sozialer Bewegungen begünstigt werden oder sich aus dem wirtschaftlichen Aufstieg von Staaten ergeben. In beiden Fällen wird die Ungerechtigkeit des Status quo im internationalen System betont, was die Formierung einer neuen Gruppenidentität von Außenseitern begünstigt.



In der Krise der liberalen Weltordnung lässt sich dieser Transformationsprozess anschaulich beobachten. So wird die etablierte liberale Weltordnung durch neue und alte illiberale (emotionale) Gemeinschaften infrage gestellt, die in ihrer Enttäuschung und Wut gegenüber den sogenannten „Etablierten“ vereint sind. China, Russland oder Brasilien erhöhen dabei den Druck von außen. Der Aufschwung rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien in Europa und anderswo begünstigt die Etablierung neuer emotionaler Gemeinschaften, die mithilfe von Emotionen wie Wut und Hass die bestehende liberale Ordnung von innen herausfordern. Besonders schwer wiegt in der jetzigen Krise, dass die USA als etablierte Führungsmacht ausfallen. Unter Donald Trump sehen sich die USA nicht als Teil der liberalen (emotionalen) Gemeinschaft. So äußert Trump offen Sympathie für autokratische Herrscher wie Putin oder Erdoğan, während er demokratischen Verbündeten in der NATO mit Verachtung und Spott begegnet.



Das emotionale Narrativ der liberalen Wertegemeinschaft stand bereits unter der Obama-Regierung unter Druck. Der damalige Verteidigungsminister Gates warnte schon 2011: „Die Art der emotionalen und historischen Bindung, die amerikanische Entscheidungsträger seit fast 65 Jahren an dieses Bündnis haben, erlischt.“ Politiker wie Trump, Johnson oder Erdoğan sind daher eher Symptom als Ursache der gegenwärtigen Krise. Ihr illiberales Narrativ trifft auf einen emotionalen Resonanzboden, der sich vielerorts gesellschaftlich verfestigt hat. Anders ausgedrückt: Liberale und illiberale Gesellschaftsvisionen stehen in einem ideologischen Wettstreit, und Emotionen treiben ihn an.



Es hilft wenig, an die Vernunft des Gegenübers zu appellieren: Dessen Emotionen verhindern, dass Argumente und Fakten überhaupt Gehör finden. Vielmehr sollten wir uns stärker wissenschaftlich mit der Entstehung und Wirkung von Gruppenemotionen in der internationalen Politik beschäftigen. So zeigt etwa die sozialpsychologische Konfliktforschung, dass Emotionen wandelbar sind. Begegnungsprogramme zwischen Israelis und Palästinensern offenbaren, dass sogar zwischenmenschliche Empathie für die individuellen Sorgen und Probleme des Gegenübers entwickelt werden können.



Durch solch mikropolitische Veränderungen kognitiver Bewertungsschemata können die damit verbundenen Emotionen reguliert werden, was zu emotionalem Wandel und entsprechenden Verhaltensänderungen auf der makropolitischen Ebene führen kann. Der britische Publizist und Friedensnobelpreisträger Norman Angell hat es treffend formuliert: „Unser Problem ist nicht, Emotionen zu beseitigen, sondern dafür zu sorgen, dass sie für den richtigen Zweck eingesetzt werden.“

 

PD Dr. Simon Koschut  arbeitet am Otto- Suhr-Institut für Politikwissen- schaft der FU Berlin. Im Februar 2020 erschien sein Buch: „The Power of Emotions in World Politics“.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 22-25

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