Auf den Spuren von Al-Qaida
Scheichs, Lügen, Videos: Eine Ethnographie des Terrors
Faktenwissen über den islamistischen Terror ist genügend vorhanden. Was fehlt, sind eine soziale Mikroskopie, eine Ethnographie – und eine kulturelle Antwort des Westens
Die Anschläge islamistischer Terroristen auf das Londoner Verkehrssystem im Sommer 2005 haben bei vielen Europäern Furcht ausgelöst. Ein Jahr hindurch, seit den Madrider Anschlägen, hatte man die Existenz von Al-Qaida und die von ihr ausgehende Bedrohung fast schon vergessen. Gemessen daran kam es zu erfreulich wenig Panikreaktionen, Hasspolitik und rassistischen Gewalttaten. Es ließ sich sogar eine zivilisierte, stoische Haltung beobachten. Man fragt sich, wie die Reaktionen auf einen ähnlichen Anschlag in Berlin ausfallen würden – wäre das Polster an Multikulturalismus, Vernunft und Geduld ebenso groß wie in England?
Mit Furcht und stoischer Gelassenheit gehen jedoch weitere Reaktionen einher, z.B. die nur allzu verständliche und schon oft an den Opfern traumatischer Ereignisse beobachtete Verdrängung des Geschehens. So konnten die Anschläge in London Europa überraschen, obwohl die islamistischen Terroristen unmissverständlich gewarnt hatten.1 Wir sind gewarnt und schauen weg. Das ist nur zu verständlich, kann aber gefährlich werden. Manchmal sind es nur noch antiislamische Eiferer, die genau hinzuschauen versuchen, mit ihrem hasserfüllten Blick. Laienhaft, aber doch in fast rührend anmutender Betroffenheit und Bemühtheit sezieren sie das, was sie für einen „Islam ohne Maske“ halten.2 Damit meinen sie jene angeblichen Webfehler des Islams, welche die Gewalt ermöglichen oder sogar hervorrufen sollen. Sie verschwenden keinerlei Überlegung auf die Tatsache, dass auch das Christentum, das Judentum, der Materialismus, der Rationalismus und jede beliebige andere weltanschauliche Tradition ins Fundamentale gewendet und zur Waffe gegen „Andersgläubige“ gemacht werden können. Dieselben Auslegungsspielräume, die die wenigen Eiferer des Westens bei solchen Übungen in das heilige Buch des Islams hineinzudeuten versuchen, werden paradoxerweise auch von islamischen Fundamentalisten genutzt, die ihrerseits oft nicht besser über islamische Theologie informiert zu sein scheinen als ihre westlichen Gegenspieler.3
Dagegen der Blick der multikulturalistischen Toleranz: Er ist entweder respektvoll bis schamhaft gesenkt oder haftet an folkloristischen Oberflächen, an Trachten, an postmodernen Performances von Ethnizität oder deren Aufhebung in einer bunten Mischung von Hautfarben. Dieses Spiel der Blicke und Nicht-Blicke wurzelt auf alltagspraktischen Ebenen des Sehens und Gesehenwerdens. Alle Bewohner Europas, des Mittelmeerraums und des Nahen und Mittleren Ostens verwickeln sich heute ständig in unauflösliche Widersprüche zwischen der positiven Bewertung nackter Haut als „natürlich“, der Selbstverständlichkeit ihrer Vermarktung in der Warengesellschaft des Westens einerseits und andererseits dem „orientalischen“ Versuch, sich dieser beunruhigenden Sichtbarkeit durch Bedeckung zu entziehen. Dass Schleier und Kopfbedeckungen aller Art bis vor wenigen Jahrzehnten auch zum textilen Repertoire der christlichen und jüdischen Europäer gehörten und teilweise heute noch gehören, scheint vergessen. Es bleibt beim Dilemma – Schleier, Kopftücher, Kaftane, Pantoffeln und Socken kann man entweder als legitimen Ausdruck subjektiver und kulturgebundener Bedürfnisse erfahren oder zum ethnischen und politischen Symbol erklären. Westlicher Orientalismus und die „agency“ islamischer Zuwanderer in Westeuropa gehen dabei die seltsamsten Synthesen ein, so, wie auch die antiislamischen Eiferer und die Fundamentalisten in ihrer Koraninterpretation übereinstimmen können.
Weitgehend unbeachtet und unkommentiert konnte Mohamed Atta während seiner Studienzeit an der Technischen Universität Hamburg-Harburg phasenweise in einem langen Kaftan auftreten, mit Pantoffeln an den Füßen. Der junge Ägypter soll seinen Nachbarn durch nächtelanges lautes Beten aufgefallen sein, aber sie scheinen nicht darauf reagiert zu haben.4 Andere werden Atta als „Araber“ bemerkt haben. Zweifellos hat er auch gelegentlich Rassismus und Antiislamismus erlebt, und vielleicht hat er anfangs nur versucht, sich durch die Zugehörigkeit zu einer eigensinnigen Szene solchen Ansichten zu entziehen. In diesem Vakuum zwischen desinteressierter oder verblendeter Toleranz, überinteressiertem Eifer und stummer Ablehnung reifte er zum Attentäter heran. Nackte Tatsachen der finanziellen Unterstützung, der von Drahtziehern im Mittleren Osten organisierten schockhaften Kriegserfahrungen (bei „Ferienreisen“ der besonderen Art, z.B. nach Afghanistan) und wachsender spiritueller wie körperlicher Drill könnten dabei die Rolle einer Gegenrealität gespielt haben, die am Ende nicht mehr kompatibel war mit dem Leben eines Harburger Technikstudenten.
Die Sprachbarriere zwischen den europäischen Nationalsprachen und den von Anhängern des Islams gesprochenen Sprachen trägt dazu bei, dass wir die in den Anschlägen selbst oder in den Kommuniqués oder im Verhalten der Täter mitgeteilten oder vorgezeichneten Botschaften nicht erkennen wollen. Dieser allzu verständliche Hang zum Nichtwissen hat dazu geführt, dass nach den Anschlägen in Madrid im Jahre 2004 und bis zu den Anschlägen in London im Jahre 2005 in der europäischen Öffentlichkeit, aber auch in interessierten politischen und militärischen Kreisen in Deutschland, mehr und mehr das Bild einer gescheiterten, aufgelösten oder völlig auf den Irak-Krieg zurückgefallenen Al-Qaida gepflegt wurde. Hoffnung und Verblendung gingen Hand in Hand. In Deutschland konnte man sich noch weiter vom Geschehen abkoppeln als in England, die „Friedenspolitik“ der Bundesregierung verlieh uns scheinbar Schutz. Hier gibt es nur wenige Bücher oder Websites, die Kommuniqués oder andere Informationen der islamistischen „Basis“ sammeln, kommentieren und diskutieren. Vereinzelte, auch im internationalen Vergleich außergewöhnlich tiefgründige Studien wie die von Navid Kermani, Hans Kippenberg und Tilman Seidensticker sowie von Joseph Croitoru blieben wenig beachtet.5 Dafür gehen im deutschsprachigen Bereich vereinzelte schrille Panikmache und schleichend sich ausbreitende Verschwörungstheorien ein seltsames Bündnis mit der Mainstream-Strategie des Verschweigens und Verdrängens ein: Was die einen zu skandalisieren versuchen, kann von der Gegenseite dann umso deutlicher heruntergespielt werden.
Kann es eine Ethnographie von Al-Qaida geben?
Islamistische Extremisten und Terroristen genauer in Augenschein zu nehmen bedeutet, dass man sie im doppelten Sinne des Wortes vergrößert. Panikmache, manchmal auch Anziehung oder Konversion, Ausbrüche von Rassismus oder aber die ernüchterte Suche nach Erkenntnis stehen also in nächster Nähe zueinander, sie sind kaum voneinander zu trennen und bedienen sich einander. Der Widerstreit dieser Haltungen überlässt uns einem Dilemma, Schweigen und Wegsehen scheinen manchmal der einzige Ausweg zu sein. Die westliche Al-Qaida-Literatur ist mittlerweile zu einer literarischen Gattung herangewachsen, aus der man sehr viel Wertvolles über historisch-politische Rahmenbedingungen des Terrors, über Geldflüsse und Organisationsformen, militärische Siege und Niederlagen lernen kann. Den Stil jedoch, in dem diese Themen abgehandelt werden, kann man als mehr oder weniger geglücktes Ergebnis des Versuchs betrachten, dicht an den Texten und Zahlen zu bleiben und das Problem der Spekulation über terroristische Innenwelten (oder ihrer Erschließung) zu umgehen. Jason Burke etwa beschreibt in seinem wunderbar umfassenden und aus reicher persönlicher Erfahrung mit dem Afghanistan-Krieg gespeisten Buch über „Wurzeln, Geschichte, Organisation“ von Al-Qaida die Genese der religiösen Motivationen der Täter in distanzierten Wendungen: „Betrachtet man den Prozess, durch den junge unzufriedene Männer zum militanten Islamismus stoßen, zeigt sich oft, wenn auch nicht immer, dass der Kontakt mit einem älteren Mann zu einem kritischen Zeitpunkt als Katalysator dient, der junge Männer mit einer vagen Neigung zum ‚Dschihad‘ zum Handeln bewegt.“6 Was sich zwischen diesen Männern abspielt, bleibt uns weitgehend verborgen.
Auch ein wirklicher Insider, der mit der Methode der verdeckten teilnehmenden Beobachtung arbeitet, der algerisch-französische Journalist Mohamed Sifaoui,7 sperrt die religiösen Diskurse, welche die von ihm beobachteten Extremisten benutzen, aus der Betrachtung aus. Seine Sprache erinnert an die schwacher religionsethnologischer Darstellungen im Stile des „als ob“ – als ob das alles wahr wäre, als ob das alles selbstverständlich wäre. Das Objekt dieser Sprache selbst bleibt unangetastetes Geheimnis der religiösen Akteure und wird lediglich in einem oberflächlich-rhetorischen Sinne zitiert und integriert.8 Was und wie Sifaouis islamistische „Brüder“ über Religion sprachen, was sie praktizierten, kann man aus seiner Schilderung kaum erschließen. Man erfährt viel mehr über die Ängste des Journalisten vor der Entdeckung durch seine Informanten als über deren Ängste und Hoffnungen. Auch ein intelligent gemachter populärer Spielfilm über Selbstmordattentäter wie „Paradise Now“ macht dieses Problem deutlich.9 Im Stile der postmodernen Performanztheorie des „the politics of ...“ werden hier die Motive der Selbstmordattentäter aus ihrer profanen Dimension heraus ironisiert. Man begreift dadurch aber nicht, warum sich junge Männer in „lebende Raketen“10 verwandeln.
Wer andererseits allzu innig zu einem „Verstehen“ vorzudringen versucht, ist schnell bei paranoiden Deutungen des Korans angelangt, oder, am anderen Ende des Kontinuums, bei mimetischer Bewunderung, also letztlich bei der Konver-sion. Wer aber den Versuch macht, vor Gefahren zu warnen und die Herausforderung unserer Wissensformen durch den Terrorismus betont, dem kann es leicht geschehen, das er von sich selbst als „pedantisch“ bezeichnenden Kollegen mit einer Mischung aus berechtigter und auch unberechtigter Kritik überzogen wird, wie etwa, es ginge ihm um die Restauration einer „Gegner-“ oder „Auslandsforschung“ im Stile des Kolonialzeitalters und des Dritten Reiches.11 Im Kern betrifft dieses Problem jede Form des Wissens. Darum hat man sich in der Erkenntnistheorie angewöhnt, Probleme der Vergrößerungen, der Ausschnitte und der Klassifikation mit kompromisshaften und maßvollen Formulierungen zu behandeln. Bereits in den zwanziger Jahren haben surrealistische Künstler in einer Art Selbstbegrenzung damit begonnen, die Ergebnisse ihrer überschießenden Phantasietätigkeit durch „kritische Paranoia“ zu moderieren, durch die Konfrontation mit einem Realitätsprinzip.12 Heute nennt man dieses Pendeln zwischen ernüchterter Beobachtung und Phantasietätigkeit manchmal „gemäßigten Konstruktivismus“, andere haben es im Zeichen einer Ethnographie wissenschaftlicher Verfahren auch als „Spurensicherung“ bezeichnet,13 die sich an stets hybriden, durch den Erkenntnisprozess selbst kontaminierten Daten abarbeiten muss. Keine Erkenntnis ohne überschießendes Deuten, keine Erkenntnis ohne Erkenntniskritik, und umgekehrt.14 Unter einer „Ethnographie“ von Al-Qaida verstehe ich die Suche nach einigermaßen sicheren Zeugnissen mikroskopischer Formen von Motivation und Organisation im „Netz der Netzwerke“15 des islamistischen Terrorismus und die Interpretation dieser Zeugnisse mit dem systemischen, auf funktionale Zusammenhänge zielenden Blick der kulturellen und sozialen Anthropologie.
Versucht man allerdings heute, ein Bild vom sozialen Funktionszusammenhang von Al-Qaida zu entwerfen, von islamistisch-terroristischen Praktiken und Kognitionen, dann muss man aus verständlichen Gründen auf die ethnographischen Quellen im engeren Sinne – das Mitmachen, das Interview – weitgehend verzichten. Die Empirie auf diesem Gebiet wurde von den Verhörspezialisten auf Guantánamo übernommen, mit Verfahren, die wesentlich altmodischer sind als die ethnographische Methode und eigentlich in einer demokratischen Kultur nichts verloren haben. Uns bleibt der Versuch, einen ethno-graphi-- schen Blick auf Material zu entwickeln, das nicht ethnographisch erhoben wurde, der Versuch der Rückübersetzung der unübersichtlichen und vordergründigen Anschlagsstrategien, der Kommuniqués, Videos und Rahmendaten in eine kleinteiligere Sprache, die uns vielleicht einen Anflug dessen ermöglicht, was Bronislaw Malinowski,16 der erste Systematiker der ethnologischen Feldforschung, als den Versuch beschrieb, die Welt mit den Augen der Informanten zu betrachten. Es bleibt beim geduldigen Zusammenfügen vieler Sprengsel von Wissen unter systemischen Vorzeichen. Wir müssen eine mikroskopische Perspektive benutzen, weil uns sonst scheinbar Unbedeutendes entgehen könnte, das sich bei näherem Hinsehen als wichtig erweist.
Militärische Realität und mediale Clownerie
Auch Herfried Münkler kann uns in seinem epochemachenden Buch über die „neuen Kriege“ letztlich nicht erklären, wie es zu dem auch von ihm beobachteten „Eindringen religiös-fundamentalistischer Motive in die Antriebs- und Rechtfertigungsstrukturen terroristischer Gruppen“ gekommen ist.17 Wieder scheitert die Sprache des „als ob“ an den Details von Motivation und Praxis. Aber wir können Münklers Schrift einen wichtigen Hinweis auf mikroskopische Motivationsstrukturen entnehmen: Im Zusammenhang mit den gelegentlich sehr hohen Opferzahlen religiös motivierter Anschläge beobachtete Münkler im Jahre 2002, dass hier der symbolische Charakter hinter einem Vernichtungswillen zurücktritt, der sich nicht mehr vor Menschen legitimiert, sondern vor Gott. „Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die einem religiös imprägnierten Terrorismus zuzurechnenden Gruppen zunehmend auf die von sozialrevolutionären wie ethnisch-nationalistischen Gruppen verbreiteten Bekennerschreiben verzichten und offenbar ausschließlich auf die Aussagekraft der Bilder des Anschlags beziehungsweise seiner Folgen vertrauen. Man kann das damit erklären, dass sich im religiösen Terrorismus die Bilder gleichsam vom Text gelöst haben. Allerdings besteht der Grund hierfür letztendlich darin, dass es für diese Gruppen keinen innerweltlichen Adressaten mehr gibt, dem gegenüber sie sich rechenschaftspflichtig fühlen. Nicht erst die Anschläge vom 11. September, aber sie vor allem, sind ein Beleg dafür.“18 Dieser Terror, so kann man dazu spiegelbildlich mit Navid Kermanis bahnbrechender früher Schrift zum 11. September argumentieren,19 legitimiert sich ausschließlich vor Gott, und auch sein Adressat ist zu einer „Abstraktion geronnen“, die einer empirischen Überprüfung nicht standhält, das „Empire“ der Vereinigten Staaten. Gott gegen das Empire: Bis heute liegt zu den Anschlägen im Jahre 2001 keine geschlossene Stellungnahme der Täter oder Drahtzieher vor, weshalb lange Zeit das angeblich in Kandahar aufgenommene Video eines Gesprächs zwischen Osama Bin Laden und einem namenlosen saudi-arabischen Scheich allein als Beweis seiner Mittäterschaft diskutiert wurde.
Doch seit dem Anschlag in Madrid hat sich die Situation anscheinend dauerhaft verändert, nun sind oftmals konkurrierende Videos, Tonbänder und Texte empfangen worden, die sich mehr oder weniger ausführlich mit den Taten beschäftigen und geradezu auf die Bewohner westlicher Staaten einreden. Diese Dokumente geben Einblicke in die kognitiven Strukturen und Praktiken der beteiligten Gruppen, lassen Rückschlüsse auf Ideologie und Vernetzungen zu. Aber weit darüber hinaus signalisiert die bloße Existenz dieser Schreiben und Videos, dass auch in diesem Bereich äußerster religiöser Spannung die Legitimation nicht mehr allein gegenüber Gott vollzogen wird. Es hat ein schleichender Prozess der „Entzauberung“ (Max Weber) eingesetzt, wie er jede „Bewegung“ irgendwann einholen muss. Hier erkennen wir Bruchlinien, die auf eine mögliche Zukunft des Islamismus als zwar weiter sehr fordernde, aber nicht mehr mörderische Praktik und Ideologie verweisen, oder vielleicht sogar als zivilgesellschaftliche Bewegung.
Auch in dem Video, dass die Anschläge in London für Anhänger wie für Opfer der Bewegung begreifbar machen sollte, erkennen wir räumliche, nischenhafte Hintergründe der Operationsstruktur der Netzwerke von Al-Qaida, deren Brüchigkeit bei gleichzeitiger Ausweitung vielleicht dem genannten Prozess der Veralltäglichung Vorschub leistet. Es scheint, so die gängige Theorie, Wochen gedauert zu haben, bis zwei sehr unterschiedliche Bekenntnisse zu dem Massenmord von London zusammengefügt und an die arabische Medienzentrale Al-Dschasira weitergegeben werden konnten: Eine Videoaufnahme, auf der einer der Attentäter, Mohamed Siddiq, im Stile palästinensischer Selbstmordattentäter vor der Tat seine Motive beschreibt („We are at war, and I am a soldier“), wird begleitet von Aufnahmen des oft als „Vize“ Bin Ladens apostrophierten Aiman az-Zawahiri, der den „slap in the face of the arrogant British crusaders“ lobt und damit für Al-Qaida vereinnahmt.20
Mohamed Siddiq erwähnt in seiner Botschaft als weiteren Führer seiner „Organisation“ noch den „irakischen Befehlshaber“ von Al-Qaida, Abu Musab az-Zarqawi. Auf der einen Seite überhöhen sich seine Motive spirituell über az-Zawahiri hoch bis zu Osama Bin Laden und damit in Richtung auf Gott selbst, auf der anderen Seite ist die Erwähnung az-Zarqawis eine Regression tief hinunter, ins Materielle und Praktische des irakischen Bürgerkriegs, in dessen Verlauf wir sehr konkrete Augenblicksmotive der Tat vermuten können. Az-Zarqawi ist einige Wochen vor den Londoner Ereignissen mehrfach als verletzt gemeldet worden, um dann unmittelbar am Vorabend des ersten großen Anschlags auf das Londoner U-Bahnsystem öffentlich den Krieg gegen die Schiiten des Iraks zu erklären. Die von az-Zarqawi am 7. Juli behauptete „neue Phase“21 des irakischen Bürgerkriegs ist nichts anderes als das offene Eingeständnis seines bisherigen Misserfolgs. Der Einbruch von Al-Qaida an der irakischen Front, der Bruch mit der Bevölkerungsmehrheit des Iraks mobilisiert Schläfer auf den Schauplätzen jenes anderen frontalen Krieges, der gegen die „Kreuzfahrer“ in ihren eigenen Territorien geführt werden soll.22 Man regt eine Gruppe im Zentrum zum Töten an, nachdem man in der Peripherie eine Niederlage erlitten hat. Die späte Veröffentlichung des Videos wird von vielen Spezialisten als Zeichen einer brüchigen und langwierigen internen Kommunikationsstruktur gelesen, die nach dem Anschlag prekär geworden ist, vor dem Anschlag aber vielleicht im Stile der „Segnungen“, die Attentäter bei ihren Führern oder Kampfgenossen einholen, noch sehr dicht verlief.
Al-Qaida ist keine straff organisierte Sekte oder eine Armee, aber eine funktionierende, von Willen und Begeisterung, Segen und Schulung getragene Kommunikationsstruktur spirituell verbundener und aufeinander eingeschworener weltweiter Akteure, die sich in unterschiedlichsten lokalen Nischen verstecken oder entfalten. Daher die häufigen Besuche und Treffen von Grüppchen und Gruppen im Vorfeld des 11. September, daher die „Segnung“, welche sich der Attentäter von Djerba kurz vor dem Anschlag ausgerechnet von einem in Deutschland beheimateten Operator des Netzwerks eingeholt hat. Aus diesen Kommunikationsmethoden leite ich die Notwendigkeit ab, eine soziale Mikroskopie, eine Ethnographie von Al-Qaida zu entwickeln, die den reichhaltigen äußerlich beschreibenden und grobfaktischen Schilderungen zur Seite gestellt werden muss. Man hat offensichtlich manche Kommunikationsstruktur, manchen Geldstrom im Netzwerk kappen können, nicht aber diesen Gruppengeist, der über alle Hindernisse hinweg seltsamste Koalitionen von Sprechern, Bekennern und Tätern zusammenführt. Was wir beobachten, ist das alte Drama des Kampfes des Zentralstaats und der Städte gegen die vertrackten sozialen Mikroskopien peripherer segmentärer Gesellschaften,23 die sich allerdings heute, im Zeitalter der „neuen Kriege“, mit vielfältigen Waffen auszurüsten verstehen und in einem Prozess ständiger und schneller Transformation zu Bürgerkriegsarmeen, politischen Parteien, spirituellen Bewegungen oder mafiosen Netzwerken befinden.
Jene vom Text sich ablösenden Bilder, die Münkler anhand der „sprachlos“ gebliebenen ersten großen Anschläge von Al-Qaida schildert, sind nichts weiter als eine neuartige Variante jener umfangreichen Tradition von Dichtung, ekstatischer Erfahrung und Bildnerei, die sich in den großen monotheistischen Buchreligionen um den Terminus „Wunder“ rankt. Wenn auch vom Menschen beeinflusst und von ihnen gewirkt, sind Wunder letztlich der direkte Eingriff Gottes in die weltlichen Geschäfte. Es geht zunächst um kaum von Verbalisierungen begleitete göttlich inspirierte Taten und Praktiken – das war auch in der Frühgeschichte des Christentums nicht anders, wo Wunder und die Ausbrüche göttlicher Besessenheit, die Glossolalie, mühsam in den Bereich des Verschriftbaren gewendet werden mussten.24 Wunderberichte und Wunderpraktiken in einem rein menschlichen, materiellen Bezugszusammenhang systemisch zu interpretieren, ist das Ziel der westlichen Religionswissenschaft und Religionsethnologie. Beide Fächer unterliegen dem Paradox, dass ohne ein Minimum an kultureller Brückenbildung, also ohne ein Minimum an Mitwirkung oder zumindest Einsehbarkeit auf Seiten der erforschten religiösen Praktiker, die materielle Interpretation mit sich allein bleibt. Insofern könnte der hier mit der Oberfläche der Bekennerschreiben und Videos begonnene Versuch einer (Religions-)Ethnologie von Al-Qaida letztlich auch zum Experiment für die andere Seite werden, das Wege des Dialogs, der Selbstzivilisierung oder wenigstens der Befriedung erkennbar werden lässt.
Zukünftige entzauberte oder zumindest ironisierte, also eindeutig hybride Figuren der Rhetorik, begegnen uns interessanterweise immer häufiger in den Al-Qaida zugeschriebenen Videobotschaften der Jahre 2003 bis 2005. Etwa die Botschaft Osama Bin Ladens zur Wahl in den Vereinigten Staaten im Jahre 2004: Sie signalisiert die Kapitalisierung einer medialen Macht, die aus der militärischen Macht gezogen wird. Bereits in einer Videobotschaft vom Februar 2003 hat Bin Laden selbst die mediale Seite seines Krieges über die militärischen Aspekte gestellt: „We realized from our defence and fighting against the American enemy that, in combat, they mainly depend on psychological warfare. This is in light of the huge media machine they have.“25 Anstelle des schon von Gilles Kepel als textiler Ausdruck des Fundamentalismus erkannten Mix religiöser und militärischer Kleidungsstücke26 trägt er auf den Videoaufnahmen der Jahre 2003 und 2004 gelegentlich Seidenroben, wie sie islamische Staatsmänner zur Schau stellen. Sein Waffenstillstandsangebot an die Europäer vom April 2004 erinnert an die Praktiken der mexikanischen Spaßguerilla der „Zapatistischen Befreiungsfront“, die militärische Macht nur in geringstem Maße ausübte, mit dem alleinigen Ziel, mediale Macht nutzen zu können.
Ihren wirklichen medialen Clown hat Al-Qaida jedoch allem Anschein nach in den letzten Monaten in „Azam al-Amriki“ gefunden, in „Azam dem Amerikaner“. Der junge Konvertit aus Kalifornien, sein eigentlicher Name soll Adam Gadahn sein, lebt angeblich mit einer afghanischen Frau in Pakistan. Er versteht sich auf die Metaphern der Popkultur, aus Andy Warhols Devise „Everybody is a Star“ macht er „Every one of us is Mohamed Atta“.27 Sein Gesicht verbirgt er hinter wechselnden, doch stets blitzsauberen und gebügelten traditionalen Kopfbedeckungen, dahinter glänzt eine metallene Brille moderner Machart hervor. Dieser ideale islamistische Schwiegersohn spricht zu uns von Ehre, Blut, Rache und dem Heiligen Krieg gegen die Arroganz des Westens. Azam/Adams schaurige mediale Figur könnte trotz ihrer Drohungen gegen die Städte Los Angeles und Melbourne auch der Vorschein einer Al-Qaida sein, die eines Tages den bewaffneten Kampf aufgibt und, wie so viele Terrororganisationen vor ihr, sich dem zivilgesellschaftlichen Diskurs stellt. Die Chance der Entzauberung wird in den Stellungnahmen der Terroristen und ihrer (Für-)Sprecher (oder ihrer rhetorischen Trittbrettfahrer) deutlich sichtbar, aber der Weg bis zur „Mediatisierung“ und „Medialisierung“ im jeweils doppelten Sinne des Wortes, bis zur Integration, ist noch weit. Es geht um Zehntausende von Männern, die in den von Bin Laden und anderen finanzierten Lagern gedrillt wurden, und es geht um Millionen junger Menschen in der islamischen Welt, die heute offen mit dem Terrorismus sympathisieren.
Diese Situation kann den Bewohnern der großen demokratischen Industriegesellschaften nicht so fremd sein, wie sie gern behaupten. Im Falle der „Roten Armeefraktionen“ oder „Roten Brigaden“ Japans, Italiens und Deutschlands in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war eine Ethnographie vielleicht nicht so nötig, weil viele japanische, italienische und deutsche Familien Erfahrungen mit Verwandten und Freunden hatten, die sich diesen Gruppen anschlossen oder zumindest in „klammheimlicher Freude“ verbunden fühlten. Und den Gegnern wie den Sympathisanten des Terrors war bewusst, wie sehr das faschistische Erbe sowohl auf kollektiver wie auf familiärer Ebene zu diesen späten Ausbrüchen beitrug. Im Kern handelte es sich um mimetischen Nachvollzug und Nachwehen der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs, der Hinweis auf Krieg und Diktatur war allgegenwärtig in den Stellungnahmen der Terroristen wie ihrer Gegenspieler in Staat und Verwaltung. Ein Gefühl gemeinsamer Schuld und Sühne verhinderte, dass die jungen Terroristen ganz und gar hinter dem eisernen Vorhang der Sowjetwelt (wo sie gefördert wurden) oder, damals schon, im Nahen Osten verschwanden (wo sie oft geschult und eingesetzt wurden). Es wird heute, bei der Aufarbeitung der den Zweiten Weltkrieg begleitenden kolonialen Kriege, eine viel größere Anstrengung sein, Sympathisanten von Bin Laden, az-Zarqawi und az-Zawahiri im zivilgesellschaftlichen Kosmos des Westens zu resozialisieren. Wie groß die Aufgabe ist, kann man an den internen Medien ablesen, welche Al-Qaida gelegentlich benutzt – wie das so genannte „Kandahar-Video“ und die „geistliche Anleitung“, die Mohamed Atta und andere Attentäter des 11. September in den letzten Stunden vor dem Abflug bei sich trugen.
Scheichs, Lügen und Videos
Amerikanische Geheimdienstoffiziere behaupten, sie hätten im November 2001 im afghanischen Dschallalabad eine Videoaufnahme von Bin Laden gefunden, bei der Bild und Text, Handlung und Kommentar nicht auseinander laufen, wie Münkler es für die islamische „Propaganda der Tat“ konstatiert, sondern zu größter Stimmigkeit komponiert werden. Es handelt sich um eine Art Amateuraufnahme von Bin Laden im Gespräch mit einem nicht näher identifizierten saudi-arabischen Scheich, der anscheinend genug Geld und Prestige besaß, um mitten im afghanischen Krieg in einem Helikopter zu bin Ladens Versteck fliegen zu können. Die Veröffentlichung in einer von vier Islamwissenschaftlern und Arabisten vorgenommenen Übersetzung am 13. Dezember 2001 wurde zur Mediensensation,28 es stand für die Geheimdienste und Politiker bald an der Stelle des Bekennervideos, das es zu den Anschlägen des 11. September nicht gegeben hatte. Die Bilder zeigen einen religiös-militärischen Führer im entspannten Gespräch mit einem Anhänger und Förderer sowie mit der Entourage beider Männer. Die Taten des 11. September werden wiederholt erwähnt, und die Reden der Männer legen ihre Beteiligung oder Mitwisserschaft an dem Geschehen nahe. Der Terror scheint für sie so etwas wie ein Familiengeschäft zu sein, er wird mit Witzen, Sprichwörtern und einem Wortduell kommentiert, wie Ethnologen es aus dem Alltag vieler mediterraner und mittelöstlicher Kulturen kennen.
Der hybride Charakter des Dokuments liegt in diesem Falle weniger in der Spannung von Tat, Bild, Text und Rezeption als im grundsätzlich Dubiosen seiner Herkunft. Für meine Suche ist die Frage von Echtheit und Schuldgeständnis jedoch relativ unwichtig. Selbst wenn das Video gefälscht wurde, muss es so viel Lokalkolorit enthalten, dass seine Echtheit nicht völlig problemlos in Frage gestellt werden kann. Auf dieses Lokalkolorit, auf den „familiären“ Charakter des Videos kommt es mir jedoch an. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass es Teil jener umfangreichen Videosammlung aus und über Al-Qaida war, die möglicherweise aus Bin Ladens Besitz stammt.29 Das eigentliche Sujet des Gesprächs, Traumerzählungen, ist dermaßen kulturspezifisch und sozusagen intim, dass zumindest keine plumpe amerikanische Fälschung vorliegen kann, wie immer wieder suggeriert wurde.
Gegenstand des gefilmten Gesprächs sind nicht etwa die gemeinsamen politischen Strategien, militärische Details und Logistiken oder Geldflüsse, sondern der Anschlag auf das World Trade Center als Gegenstand von Traumerfahrungen. Damit begegnen wir einem im mediterranen und nah- bis mittelöstlichen Raum sehr populären Element der alltäglichen Kommunikation.30 Wer als Mitteleuropäer längere Zeit im Mittelmeerraum lebt und die lokalen Sprachen beherrscht, kennt diese Szene des entspannten nachmittäglichen Gesprächs über Wunder, Erscheinungen, Träume, über persönliche Verwicklungen in Hexereifälle und kleine Skandale. Manchmal machen sich dabei auch Magier und Traumdeuter bemerkbar, die das Gespräch übernehmen und die Gruppe in einen Zustand der geleiteten Imagination versetzen.31 Die Mischung aus erzählerischem Wettbewerb, persönlicher Vertraulichkeit und trancehafter Gruppenerfahrung, von Öffentlichem und Privatem also, macht solche Situationen für Ethnographen wichtig.
Ganz in diesem Stil äußert sich Bin Laden in einem durch Zurufe der Entourage und durch Äußerungen des Scheichs unterbrochenen Redefluss. Dabei wandelt sich sein Bild von dem eines Ingenieurs, der die Aufschlagsenergien von Flugzeugen auf Hochhäuser kalkuliert, zu dem eines „Zeitgenossen“ der besonderen Art, der im Spiel von Mannbarkeitsritualen und träumerischem Erzählen Kontrolle über die Historie aller Teilnehmer und über ihre Anteilnahme am Ereignis gewinnt: „Abu Al-Hasan Al (Masri) … erschien ein paar Tage vorher auf Al-Dschasira-TV und griff die Amerikaner an: ‚Wenn ihr wahre Männer seid, kommt doch hier runter zu uns und stellt euch!‘ … Ein Jahr vorher hatte er mir erzählt: ‚Ich sah im Traum, dass wir ein Fußballspiel gegen die Amerikaner gemacht haben. Als unser Team das Spielfeld betrat, waren das alles Piloten!‘ Er sagte auch: ‚Ich fragte mich also, ob das eigentlich ein Fußballspiel ist oder ein Pilotenspiel? Unsere Spieler waren Piloten.‘ Er (Abu Al-Hasan) wusste nichts über die Operation, bis er davon im Radio hörte. Er sagte, dass (in seinem Traum) das Spiel weiterging und dass wir sie besiegt haben. Das war ein gutes Omen für uns.“32
Wie ein spiritistisches Medium nimmt jener Abu Al-Hasan in dieser Schilderung auf, was der Ingenieur in bin Laden mit geplant, kalkuliert oder mit gewusst hat. Doch dann wird Bin Laden zum „Traumvater“,33 der die Innenwelt seiner Anhänger erst in rationale und dann in mystische wie rationale Begriffe rahmt: „Wir waren im Camp einer der von unseren Brüdern in Kandahar gebildeten Garden. Dieser Bruder gehörte zur Mehrheit der Gruppe. Er kam zu mir und erzählte mir, er habe im Traum ein hohes Gebäude in Amerika gesehen, und dann habe er von Mukhtar geträumt, der ihnen beibrachte, wie man Karate macht. An diesem Punkt begann ich mir Sorgen zu machen, das Geheimnis konnte enthüllt werden, wenn es jeder in seinen Träumen gesehen hatte. Ich beendete diese Redereien. Ich sagte zu ihm, dass er es niemandem mehr erzählen soll, wenn er noch einmal so einen Traum hat, sonst würden sich die Leute zu sehr aufregen.“
Das ist Mikropolitik des Traumerzählens und zugleich politische Träumerei, wie wir sie aus vielen traditionalen Kulturen kennen. Militärische Phantasien lassen sie gelegentlich lieber von uniformierten Schamanen und Heiligen ausleben als von wirklichen Soldaten.34 Im Video der Gotteskrieger bilden das Pentagon und die Twin Towers die „andere Welt“. Fraktionsbildungen, spirituelle und materielle Patronage, die Suche nach einer Mehrheit in der Gruppe, Rechthaberei und Prophetie verbinden sich im Allwissen des Traumvaters, der es seinen Söhnen ermöglicht, all ihre Sünden und Nachlässigkeiten in einer großen Aufmerksamkeit aufgehen zu lassen, um dann in der perfekten Oberfläche des himmlischen Lebens weiter zu existieren. Bin Laden beendet den Wettbewerb um die beste Traumerzählung mit einem Gedicht, mit einer weiteren ästhetischen und mystischen Rahmung, die anstelle träumerischer und spielerischer Metaphern auf die blutigen Tatsachen des Krieges verweist: „Frei wandert der Tyrann in unseren Häusern … doch schon hören wir der Trommel Klang und Schwingung, sie (die Mudschaheddin) stürmen die Festung.“
Wenn der amerikanische Präsident Bush in seinen Reden den lieben Gott der Christen beschwört, zielt er vielleicht in ähnlicher Weise auf das Traumleben seiner Zuhörer, aber selten werden sie solch eine Intensität erleben, eine patronale persönliche Verflechtung zwischen privatem Leben und den Sprüchen des Propheten, wie sie die afghanische Freundesrunde mit ihrer gemeinsam gestalteten Rahmenerzählung von den Hochhäusern erreicht. Wie weit Bin Laden seine Jungs auf diese Nähe auch durch ekstatische Körpertechniken einstimmt – hier ist immerhin von Fußballspielen, Karateübungen und Trommelrhythmen die Rede –, können wir nicht leicht beurteilen. Drill, Spiel, Sport und Tanz stehen in einer unergründlichen, in traditionalen islamischen Gesellschaften oft noch sehr dicht gespannten Verbindung, die auf anthropologischen Grundlagen zu ruhen scheint.35 Vielleicht spielen plötzliche traumatische Ausflüge von Hamburg-Harburg oder Oregon oder von den Vorortvillen einer Stadt wie Riad in die Kampfgebiete des Iraks und des Nahen Ostens eine Rolle, blitzartig sich einstellende Reiseerfahrungen, die den schamanischen Traum des Schläfers von der Kampfübung für ein paar seltsame Ferienwochen zur blutigen Realität werden lassen.
Am Ende des Videos sieht man den Traumvater im Helikopter entschweben. Atemübungen und Nachtgebete, die Überwindung von riesenhaften Abständen bei gleichzeitiger tiefer Verankerung in einer engen Nische folkloristischer Gemeinschaftserlebnisse, all das kennen wir auch aus den ethnographischen Berichten der Religionsethnologen, die in ländlichen Gebieten und städtischen Ghettos mediterraner und mittelöstlicher Nationen geforscht haben. Im Kleinteiligen fußende Grenzgänge und kontrollierte Rituale der communitas36 bestimmen im Zentrum des größten und modernsten „Netzes aller Netzwerke“ des Terrors den Ton, die Form, den Habitus. Primär geht es um die „neuen Kriege“ und um „Märkte des Terrors“, um eine gigantische politische Szenerie.37 Aber ohne intimere Einblicke in das Innenleben von Al-Qaida, wie sie uns das Kandahar-Video ermöglichen, werden wir nicht ganz begreifen, was dieses Netz, das Zentren wie Peripherien durchzieht, im Inneren zusammenhält.
Anleitung, Drill, Ritual
Im Falle der „geistlichen Anleitung“, die als arabischer handschriftlicher Text von mehreren Attentätern des 11. September hinterlassen worden ist, stehen wir auf sehr viel sichererem Grund, was die Frage der Authentizität betrifft. Kopien des Textes wurden anscheinend von Mohamed Atta und einem weiteren Attentäter, Nawaf al-Hamsi, in einer nicht mit umgeladenen Reisetasche bzw. in einem abgestellten Auto hinterlassen. Auch in dem in Pennsylvania von den Entführern zum Absturz gebrachten Flugzeug sollen Fragmente desselben Textes gefunden worden sein. Trotzdem handelt es sich auch hier um eine mediale Hybride, das zeigt die komplexe Überlieferungsgeschichte ebenso wie die Tatsache, dass immer wieder von einem der Öffentlichkeit nicht voll überlieferten fünften Blatt die Rede ist.38 Der Religionswissenschaftler Hans Kippenberg und der Islamforscher Tilman Seidensticker haben die Behauptungen der Verschwörungstheoretiker, das Dokument sei gefälscht, in einer detaillierten Argumentation abwehren können und durch die Veröffentlichung einer kommentierten deutschen Übersetzung der Debatte ein vorläufiges Ende gesetzt.39
„Reinige dein Herz und säubere es von Makeln und vergiss oder ignoriere etwas, dessen Name Welt ist,“40 so heißt es in der Anleitung für den WTC- Attentäter Mohamed Atta. Doch das ist nicht nur in groben „als ob“-Kategorien kopfschüttelnd zur Kenntnis zu nehmen, sondern man muss es in einem Kontext lesen, in dem jede ideelle Äußerung einen weitergehenden praktischen, körperlichen Bezug hat. Beides, Ideelles wie Körperliches, wird sich dann in dem als Ritual vorgezeichneten Attentat verbinden, bis zur Auflösung und Transformation im Moment des Einschlags in das Ziel der terroristischen Attacke. Es heißt nämlich auch, ganz zu Beginn des Textes: „Das überflüssige Körperhaar abrasieren und sich parfümieren. Die große rituelle Waschung vornehmen.“41 Und später, nach vielen praktischen und spirituellen Hinweisen, mündet der Text wieder in einen körperlichen Zusammenhang: „Straffe deine Kleidung sehr gut. Denn dies ist die Vorgehensweise der rechtschaffenen Muslime aus der Frühzeit – Gott möge sein Wohlgefallen an ihnen haben. Diese strafften ihre Kleidung vor dem Kampf. Danach schnüre deine Schuhe gut und trage Socken, damit du im Schuh Halt hast und nicht herausrutschst. All diese Dinge sind Vorkehrungen, die uns befohlen wurden. ‚Wir haben unser Genüge an Gott. Welch ein trefflicher Sachwalter ist er!‘ (Koran 3:173).“42
Es ist erstaunlich, wieder sind wir beim Thema Kleidung angekommen, das auch in den interkulturellen Verhandlungen um das Auftreten von Muslimen in europäischen Staaten eine große Rolle spielt. Es geht um die Herstellung einer vollkommen gefestigten glatten Oberfläche. Der Attentäter wird zur idealen Person, zum Heiligen, in dessen Lichtgestalt alle Martyrien, Wunden und Unstimmigkeiten aufgehoben sind. So gürtet sich im Alten Testament Elisa in den Mantel seines Meisters Elias, als dieser in feurigen Wagen zum Himmel gezogen ist. Heute noch eifern ihm die katholischen Laienbruderschaften zur Verehrung der Madonna vom Karmelberg nach. Sie verkünden, dass ihre Anhänger direkt von der Erde in den Himmel fahren werden, ohne Umwege durch das Fegefeuer, wenn sie im Moment des Jüngsten Gerichts gewisse Amulettsäckchen um die Schultern geschnürt haben, so genannte Skapuliere.43 Die Tracht der Priester vieler großer Religionen der Welt, vom tibetischen Buddhismus bis zu den Rabbinern, von Ngoma-Trommlern in Afrika bis zu den Priestern der katholischen Kirche und den asiatischen Schamanen und Schamaninnen, enthält solche Schnüre, Kordeln, Gurte, Bandagen, fest angezurrte Amulette, Rosenkränze und Gebetsriemen. Gibt es Religion ohne krasse Bindungen und Brüche? Religionshistorisch betrachtet ist nichts Besonderes an der Fetischisierung neomuslimischer Kleidungsstile durch Muslime wie durch ihre europäischen Gegner, z.B. in der so genannten Kopftuchdebatte. Darum kann uns dieses Detail der „geistlichen Anleitung“ leicht entgehen.
Militärische, tarnungstechnische und spirituelle Vorbereitungen der Attentäter gehen ineinander über, wenn sie sich parfümieren, im Treueschwur verbinden, beten und sorgfältig ihre Schuhe schnüren. Jede praktische Handlung wird religiös aufgeladen. Was nun folgt, ist ein mörderisches Ritual, zu dem die „geistliche Anleitung“ weiter kleinlichste, körperliche, rhythmisierende Vorlagen macht. Jeder Schritt, von der Wohnungstür zum Taxi, zum Flughafengebäude, ins Flugzeug, zum Cockpit, zum mörderischen Nahkampf, der wiederum in einer Art Schächtung des Personals münden soll, wird von speziellen Gebetsrezitationen, Unterbrechungen, Wiederaufnahmen strukturiert. „Und vergesst nicht, dass ihr ein wenig Beute machen müsst, und selbst wenn es nur eine Tasse oder ein Glas Wasser ist, das du mit deinen Brüdern trinkst, wenn das möglich ist. Wenn dann die wahre Verheißung näher und die Stunde Null erreicht ist, zerreiße dein Gewand und lege deine Brust frei, um den Tod auf dem Wege Gottes willkommen zu heißen, und sei ständig Gottes eingedenk. Entweder schließt du mit dem Ritualgebet, wenn das möglich sein sollte, das du einige Sekunden vor dem Ziel beginnst, oder deine letzten Worte sollen ‚das islamische Glaubensbekenntnis‘ sein: ‚Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist sein Prophet‘.“44
Tilman Seidensticker weist in der „geistlichen Anleitung“ erstaunlich „traditionelle“ Schreibarten nach und zeigt Bezüge zu den „litaneihaften Gebeten“, wie sie bei der „seelsorgerischen Betreuung des osmanischen Heeres eine außerordentlich große Rolle gespielt haben“.45 Auf Laientraditionen verweisen wohl auch die Hinweise, die der Text auf Rezitationen und damit Atemtechniken gibt, ja der gesamte Text ist als eine lange Regulierung des Atmens, Sprechens und Bewegens auf dem Weg ins Nichts zu deuten.46 Der Hinweis auf das Beutemachen bezieht sich wohl auf die Sure 8 des Korans, „von der Beute“, in der auch ein Tötungsgebot für Gefangene im heiligen Krieg beschworen wird. All dies zusammengenommen bildet einen großen Vorgang der rituellen Regression. Im Zustand ritueller Nacktheit, mit zerrissener textiler Oberfläche gehen Atta und seine Genossen in die Katastrophe. Die in der „geistlichen Anleitung“ modernistisch als „Stunde Null“ beschriebene Situation führt für alle Beteiligten, Täter wie Opfer, zum „Ground Zero“ der menschlichen Natur und Kultur. Als der Rauch verzogen war, konnte man sehen, was von unserer Zivilisation übrig bleiben wird: eine Schicht von kontaminiertem weißem Staub. Was sich in diesem Staub entfaltet hat, wird nach uns keiner mehr verstehen können, denn unsere elektronischen Botschaften werden sich verflüchtigt haben wie unsere Betonkonstruktionen. „Die Gewalttaten des 11. September 2001 sind als Neuinszenierung eines alten Musters der gewaltsamen Durchsetzung des Islam konzipiert worden“, schreibt Kippenberg,47 doch bleibt er uns die Erklärung schuldig, warum junge Männer bereit sind, an diesem Rückfall in die Vergangenheit teilzunehmen. Ein Rückfall in die Vergangenheit ist nicht die Vergangenheit selbst, sondern die Erfindung einer Tradition. Mit besonderer Sensibilität für die Rolle textiler Oberflächen im Verhalten von Islamisten wie auch im Text der „geistlichen Anleitung“ formulierte Kermani seine Kritik an diesem philologischen Missverständnis, bei dem der Text Text ist und die Neuinszenierung daher fast identisch mit dem alten: „Dass Bin Laden und seine Mitstreiter in ihren langen Gewändern und mit ihren ostentativ asketischen Bewegungen, Zügen und Haltungen selbst wie Propheten oder zumindest Prophetengenossen aussehen, ändert nichts daran, dass sie vor ihrer Kostümierung in feinen westlichen Straßenanzügen durch das Leben geschritten sind. … Man muss die Farbe und Form des Kostüms ernstnehmen und sich daher durchaus mit den islamischen Hintergründen des 11. September beschäftigen, aber man muss genauso ernstnehmen, dass es sich um ein Kostüm handelt.“48
Mohamed Atta, der junge Mann aus dem Nildelta, ist am 11. September 2001 mit seinen sorgfältig verschnürten Schuhen nicht nur gegen die Zerbrechlichkeit der hochtechnisierten westlichen Welt angerast, und damit auch gegen seine Enttäuschung über diese Fragilität, sondern auch gegen seine eigene Wandelbarkeit. Der Kernsatz der „geistlichen Anleitung“ lautet: „Wie viel Zeit unseres Lebens haben wir vergeudet! Warum erfüllen wir nicht in Zukunft jene Stunden mit gottgefälligen Taten und frommen Handlungen?“49 Es gibt eine Fülle von Belegen für synkretistische Verhaltensweisen der „Vergeudung“ an die westliche Spaßgesellschaft bei der Gruppe der Harburger und übrigen saudischen Gotteskrieger. Das Zeugnis ihrer sehr weitgehenden Verwirklichung westlichen Lebensstils ist breit, wenn auch nicht immer widerspruchsfrei dokumentiert.50
Schläfer, so hieß es nach dem 11. September 2001, leben ein Leben der modernen Oberfläche und kultivieren heimlich ihr wahres Ich, ihre kulturelle Reserve gegen die Moderne. Das kann ihnen aber nur gelingen, wenn sie von ihrer Umgebung nicht aufgeweckt werden. Genauer gesagt: Erst während ihres zweiten Lebens im Dunstkreis des Westens ist ihr altes Ich eingeschlafen. Es ist regrediert auf das folkloristische Paradies des traditionalen Islams und hat sich damit hinter dem modernen alter ego versteckt, gegen das es dann rebelliert. Sie kamen oft als wache junge Menschen hierher, die lernen wollten, im und mit dem Westen zu leben. Die heiligen Siebenschläfer und ihr naturgeschichtliches Vorbild haben die Unweckbarkeit gemeinsam. Sie überdauern und ändern sich nicht mit der Zeit. Aber Menschen sind gewöhnlich weder Heilige noch Nagetiere. Sie sind doppelt, in ihrem Innern warnen die Gegenstimmen, ihre Triebe drängen sie zu Entscheidungen, die wiederum gegen die Überlegungen gehen. Das dritte Flugzeug der Entführer des 11. September sollte wohl nach Washington fliegen. Es wurde allem Anschein nach von einem der spirituell schwächsten, wankelmütigsten, als Discogänger bekannten Entführer gesteuert. Sein Vorhaben scheiterte, vielleicht auch am entschiedenen Widerstand der Passagiere, die noch erfahren haben, was in New York passiert war. Das Geschehen hatte sich bereits in mehrfacher Hinsicht verdoppelt, und so war die Vernichtung des modernen Doubles nicht mehr ohne weiteres durchführbar.
Dieser Doppelcharakter terroristischer Akteure ist nicht immer leicht zu verstehen, vor allem nicht, wenn man sich von den Medien ständig mit eindeutigen Persönlichkeiten konfrontieren lässt. Mit dem Bild des Schläfers machen wir es uns leicht – unbehelligt durch uns, scheinbar politisch korrekt haben sie ihre böse Unnatur konserviert, wir konnten angeblich nichts gegen sie tun. Deutsche sollten dabei bedenken, dass schon Herbert Marcuse den deutschen Nationalsozialisten mehr Widersprüchlichkeit attestiert hat:51 Sie seien vordergründig begeistert und zum Sterben bereit gewesen, kultivierten aber zugleich eine zynische Nebenfigur in sich, die dann nach dem Krieg neben den Nazi treten konnte, oder vor ihn, und vom Befehlsnotstand reden. Psychologen, die Sektenmitglieder betreuen, wissen Ähnliches zu berichten, und heute ist uns gerade die mit der „re-education“ bewerkstelligte Wandlung der Deutschen von Kriegern zu Friedenskämpfern wichtig.
Es hätte Chancen des Einstiegs in die Höhle der ägyptischen Siebenschläfer gegeben – in diesem Falle war es eine simple Mietwohnung in Hamburg-Harburg –, die wir verpasst haben. Im letzten Moment noch muss der Schläfer Atta zwischen seinem modernen Ich und seinem fundamentalen Ich vermitteln, um schließlich in der Rüstung des Gotteskriegers dastehen zu können: „Reinige dein Herz und säubere es von Makeln und vergiss oder ignoriere etwas, dessen Name Welt ist. Die Zeit des Spielens ist vorbei, es ist die wahre Verabredung gekommen.“52
„Doppelleben“ und Dialog der Kulturen
Navid Kermani hat bereits kurz nach dem 11. September die Attentäter als vollkommen moderne Nihilisten gewürdigt, vergleichbar nur mit Protagonisten im Stile von Nietzsches „Wille zum Nichts“: „Die völlige Vernichtung des anderen wie des Selbst, die in der Logik des alttestamentlichen und auch koranischen Lobes der Schöpfung das Furchtbarste ist, avanciert in Nietzsches Denken zum Heil. Es sei gerade ein Privileg der Menschen, dass sie ‚sich selber durchstreichen können wie einen missrathenen Satz‘.“53 Die Religion des 11. September ist nicht der Islam und auch nicht die Nichtreligion des modernen Nihilismus allein, sondern eine Verbindung beider in jenen Ersatzbeziehungen eines Vater-Sohn-Verhältnisses, die man immer wieder in der Welt der fundamentalistischen „Segnungen“ und „Übungen“, des Respekts vor den „Scheichs“ beobachten kann. „Terror als Gottesdienst“54 sprengt die sündige westliche Existenz des Attentäters mitsamt der verachteten Welt der Ungläubigen von seiner wahren Seele ab. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte, aus der Sicht des sündigen Ichs betrachtet, befreit sich ein sündiger Mensch von sich selbst durch den Gang ins Nichts, durch den im Islam verbotenen Selbstmord. Beides zugleich, eben das „Doppelleben“ der Terroristen, machte sie für die unitarischen „Reden der Extremisten“ anfällig, konnte sie in einer Weise „emotionalisieren und mobilisieren“, die Kippenberg uns mit Aussagen, die auf einem Unverständnis von Kermanis Thesen beruhen, nicht erklären kann.55
Im Zwiespalt wenden sich junge Islamisten aus ihren lokalen Nischen und Hassverhältnissen heraus den terroristischen Scheichs zu, die wiederum ihr Geld und ihren politischen Rückhalt aus der Grauzone der mittelöstlichen nationalen Politik, aus organisierter Kriminalität, aus der ideologisch unterfütterten Ölwirtschaft der arabischen Welt und aus der diffusen mörderischen Macht der Geheimdienste mit all ihren überraschenden Querverbindungen ziehen. Verknüpfen wir unsere „ethnographischen“ Betrachtungen über die Attentäter untereinander, bleibt der beständige Hinweis auf eine körperliche und zugleich spirituelle Dimension von Drill und „Methodologie“, von Meditation, Tanz, Gebet, Drill, militärischer Übung und Atemübung, auf einen Ehrenkodex der Gegenüberstellung männlicher Körper im Kampf und im Ritual. Wir können dies im ritualistischen Charakter der „geistlichen Anleitung“ nachweisen und auch in den Imaginationen von Karate- und Fußball, im „Pilotenspiel“ des Kandahar-Videos. Über das körperliche und seelische Chaos junger Menschen legt sich eine orientierende „Maxime“ und „Regel“, kultiviert in Vater-Sohn-Verhältnissen, gipfelnd im beständigen verbalen und tatkräftigen Sichanschmiegen der Jüngeren an patronale und charismatische Figuren.56 Im Falle der „Methodologie“ von Al-Qaida konnte auf weitreichende Erfahrungen mit osmanischem militärischem Enthusiasmus und drillartigen Zügen der sufistischen und anderer populärreligiöser Praktiken des Islams zurückgegriffen werden.57 Die Überkreuzung und Gegeneinanderentwicklung von Körpertechniken und Selbstkonzepten auf diesen Gebieten, im Sufismus, im dogmatischen und alltagsweltlichen Islam, im fundamentalistischen und schließlich im terroristischen Islam geht dabei so weit, dass ein mit Sufismus befasster islamischer Klassiker Formulierungen benutzt, die denen von Herfried Münkler über den „abstrakten“ Bezug der „sprachlosen“ Anschläge und von Navid Kermani über die modernistische Verdoppelung der Attentäter sehr nahe kommen: „Sufismus ist Polytheismus“, soll ein zeitgenössischer Kritiker des klassischen Sufismus geschrieben haben, denn diese mystische Spiegelung der eigenen Seele nur in Gott bringe mit sich, „das Herz vor der ‚Schau‘ des ‚Anderen‘ zu hüten, aber ein ‚Anderes‘ existiert nicht.“58
Die ägyptische Muslimbruderschaft und ihre terroristischen Nachfolgeorganisationen – darunter Al-Qaida – wüten zwar gegen die friedlichen und auf die Innenwelt eingestimmten alten Sufi-Bruderschaften, haben aber sufistische Lehrer-Schüler-Verhältnisse und ältere körperlich-spiritualistische Techniken in ihre Verhaltensrepertoires aufgenommen.59 Der neue, wohl auch christlich und nihilistisch inspirierte Märtyrerkult dieser Modernisierungsbewegung mobilisiert alte Technologien der Macht. Einem saudischen Scheich wie Bin Laden, der einer Sklavenhalterfamilie religiöser Fanatiker entstammt, dürften diese Dinge trotz wahabitischer und salafistischer Kargheit und Strenge durchaus noch vertraut sein. Es hat darum keinen Sinn, die islamischen Terroristen heute textfixiert als Ergebnis wahabitisch und salafistisch inspirierter Lehren allein zu begreifen, z.B. der Ideen des zunächst westlich eingestellten, später unter Foltererfahrungen zum Islamisten regredierten Intellektuellen Sayyed Qutb. Wir müssen auch auf die Taten im Kleinen sehen, die Techniken, die Praktiken, auf elementare Haltungen und daran geknüpfte anthropologische Diskurse der Sinnsuche junger Menschen. So erhält man neue Einblicke in die reale Strukturierung, in Wandlungsprozesse, temporäre Auflösungsprozesse – und vielleicht auch in zivilgesellschaftliche Chancen dessen, was wir uns „Al-Qaida“ zu nennen angewöhnt haben, auch wenn wir nur das Millionenheer weiterhin harmloser Sympathisanten meinen.
Was die „Methodologie“ angeht, so scheint sich in ihr die alte Textur des Sufitums und der religiösen Unterweisung bei näherem Hinsehen mit einem roten Faden geheimdienstlicher Einflussnahme und des Drills zu Sondereinsätzen zu kreuzen – Joseph Croitoru hat dazu eine minutiöse Genealogie des Selbstmord-attentats von den japanischen Kamikaze zu nordkoreanischen Geheimdienstoffizieren mit Kamikazeausbildung und von dort bis zum ersten Selbstmordanschlag einer japanischen roten Brigade gegen einen israelischen Flughafen nachgezeichnet. Der Weg von dieser terroristischen Hybride bis zu den von Bin Laden finanzierten Ausbildungslagern der islamistischen „Basis“ war nicht weit. Wenn man die Ansätze des Philosophen Kermani, des Religionshistorikers Kippenberg und des genialen Rechercheurs Croitoru zusammendenkt und auf mikrosoziale Praktiken bezieht, kann man eine interessante Perspektive auf das Innenleben dieser Bewegung gewinnen. Der Zwiespalt moderner Muslime, ihr Bedarf an körperlicher und sozialer Orientierung wird von charismatischen Drahtziehern ausgenutzt, um im politischen Bündnis mit Dunkelmännern und Schurkenstaaten eine Truppe begeisterter Selbstmörder auf die Beine zu stellen.60
Die Konsequenzen sind klar: Nicht nur die Lager von Al-Qaida müssen zerstört werden, nicht nur die Konten von Al-Qaida müssen gesperrt werden, sondern es müssen auch ihre Kommunikationsformen gestört werden. Dies kann nur geschehen, wenn die Dinge wieder an ihren angestammten Platz gestellt werden: Sufistische Übungen muss man wieder von militärischem Drill trennen, nordkoreanische Geheimdiensttechniken von Lehrer-Schüler-Verhältnissen in einer modernisierten und verunsicherten islamischen Welt, den Krieg um das Erdöl von der materiellen und spirituellen Sinnsuche. Sollte sich all das immer weiter zu einem Ganzen verdichten, ist kein Ende der Militarisierung der westlichen wie der islamischen Welt abzusehen. Der Ansatzpunkt liegt dort, wo auch der Ansatzpunkt der ethnographischen Forschung liegt, bei den beteiligten Menschen. Es darf nicht bei der geheimdienstlichen und militärischen Bearbeitung des Problems im Westen bleiben, sondern es sollte auch eine kulturelle Antwort geben. Diese ist ohne irgendeine Form der Integration des Phänomens in westliches Denken und Handeln nicht denkbar, so seltsam diese Anmutung sich erst einmal ausnehmen mag. Junge Muslime, die sich im Internet wie in persönlichen Kontakten zu reorientieren versuchen, müssen ernst genommen werden als Sucher, die nicht mehr und nicht weniger als westliche Jugendliche an Orientierung finden und zu bieten haben, nur eben anderes. Verdrängung wird uns nicht weiter helfen, nicht im operativen Bereich des Schutzes vor Anschlägen und schon gar nicht in diesem viel diffuseren Bereich des kulturellen Dialogs.
Ein Beispiel für Tragkraft, provokative Brisanz und dringende Notwendigkeit eines solchen Dialogs sind die zahllosen Polemiken, die man auf islamistischen Websites gegen die Evolutionstheorie finden kann. Längst haben sich deren Autoren schon mit christlichen Fundamentalisten verbündet und mit den wenigen Dissidenten der biologischen Wissenschaft, die es im Westen gibt. Evolutionismuskritik ist ein untrennbarer Bestandteil auch biederer, friedfertig gefasster, antiterroristisch gehaltener Websites und der Verlautbarungen seriöser Organisationen von Muslimen geworden.61 Die wissenschaftliche Biologie reagiert nur selten darauf, in der deutschsprachigen Welt, so scheint es, werden islamische Kritiken an der Evolutionsbiologie aus gutem Grund von Biologielehrern und ihren Ausbildern,62 aber nicht von Biologen diskutiert. Und nun sage keiner, Biologen seien auf solch eine Debatte nicht vorbereitet, weil sie sich immer nur strikt mit ihren wissenschaftlichen Fragen beschäftigen – einige Biologen haben sich in den letzten Jahren zu Gralshütern des westlichen Denkens aufgeschwungen. Mit ihren Stellungnahmen zu allem und jedem, von der Homosexualität bis zur Warenwirtschaft des Turbokapitalismus, haben sie versucht, eine materialistische Variante westlichen Denkens zu bilden, die sich nur allzu leicht in die Mystik der Gene auflöst.63 Um in einem bisher kaum dagewesenen Ausmaß Forschungsmittel von den westlichen Staaten und Industrien zu kassieren, haben viele seriös arbeitende Biologen sich nicht gegen die Bevormundung durch diese biologischen Ideologen zur Wehr gesetzt. Man sollte dabei nicht außer Acht lassen, dass eine verdrehte und fanatisierte Fassung der evolutionären und genetischen Biologie einst die Triebkraft der Reaktion des nationalsozialistischen Deutschlands gegen eine imperial und amerikanisch verstandene Moderne gewesen ist. Wenn wir die Triebkraft der großen islamischen Regression nicht besser begreifen lernen, wenn wir nicht mit ihren Protagonisten kommunizieren und unsere Überzeugungen mit ihnen offen diskutieren, wenn wir uns nicht selbst der körperlichen und geistigen Anziehung aussetzen, die von der muslimischen Gegenwartskultur in ihrem traditionalen Kontrast zur Moderne ausgeht, dann ist die Chance des Scheiterns groß. Das alte, dem Westen keineswegs unvertraute Spiel von „action“ und „reaction“ muss wieder ins Lot gebracht werden.64 Denn ein durchmilitarisierter und bis ins Letzte gegen Terrorismus abgesicherter Verbund von Staaten dürfte nicht mehr Teil des Projekts von Aufklärung und Demokratie sein, sondern dessen Niederlage.
Das, was wir lange in der Form eines verniedlichenden oder ausgrenzenden „Orientalismus“ kontrollieren zu können glaubten, wird uns dann in einer heftigen, eine Vielzahl westlicher Konvertiten einbeziehenden Reaktion zur Verzweiflung bringen. Dieses von mir hier beschworene „Wir“ umfasst übrigens auch jeden muslimischen Menschen, der noch irgendwo im Projekt der Moderne seinen Platz zu finden versucht, und sei es in der Form eines noch nicht bis zum nihilistischen Terror gesteigerten Fundamentalismus oder anderer ritueller und spiritueller Regressionen. Auch Grenzgänger und Konvertiten sind von Interesse.65 Mit der Ursprungsideologie der Selbstmordanschläge, des Kamikaze, hat der Westen nach 1945 einen umfangreichen Prozess der Auseinandersetzung auf vielen Ebenen in Gang gesetzt, was letztlich zu einer folgenschweren Rezeption des Zen-Buddhismus im westlichen kulturellen Repertoire selbst geführt hat. Daran war maßgeblich der greise Daisetz Teitaro Suzuki beteiligt, ein führender Exponent der faschistisch-buddhistischen Bushido-Ideologie des Weltkriegsjapans, der darüber zum Dialogpartner von Erich Fromm mutierte.66 Trotzdem oder gerade deswegen zeitigte der Dialog weitreichende Konsequenzen für die weitere Formatierung westlicher Weltbilder und Lebensstile bis heute, und er trug andererseits dazu bei, den Zen-Buddhismus und die japanische Kultur in eine zivilgesellschaftlich angemessene Form zu bringen.67
Das Projekt der Aufklärung und das Projekt einer gleichmäßig technologisch befähigten, menschlich durchdrungenen Welt könnte scheitern – wenn nicht an der selbstmörderischen Reaktion des Islams, dann an ähnlichen Reaktionsbildungen, die sich bisher nur keimhaft in den sich gerade herausbildenden Kolossen des modernen Chinas und Indiens erkennen lassen – oder an einem ähnlichen Nihilismus, an ähnlicher Desorientierung im Bereich der westlichen Kultur selbst. Denn was macht uns eigentlich so sicher, dass diese Probleme bei der Bewältigung des Lebens in einer globalen kapitalistischen Gesellschaft für die Europäer historisch bereits ausgestanden sind?
Internationale Politik 11, November 2005, S. 32 - 51