Titelthema

28. Okt. 2024

Asiens Gretchenfrage

Wie hältst du’s mit dem Reich der Mitte, politisch, wirtschaftlich, militärisch? Antworten aus Chinas Nachbarschaft – aus Vietnam, von den Philippinen, aus Südkorea und Japan.

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Bild: Thailands Premierministerin Paetongtarn Shinawatra mit (v. l.) den Vertretern Myanmars, der Philippinen, Singapurs und Vietnams beim ASEAN-Gipfel im Oktober 2024.
Nicht gern allein mit dem Elefanten im Raum: Thailands Premierministerin Paetongtarn Shinawatra mit (v. l.) den Vertretern Myanmars, der Philippinen, Singapurs und Vietnams beim ASEAN-Gipfel im Oktober 2024.
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China und Japan sind Nachbarn, haben es aber in über 1000 Jahren nicht gelernt, in ebenbürtiger Nachbarschaft zu leben. Peking tritt heute als selbstbewusste Großmacht auf; seine Küstenwache und seine Fischer verletzen japanisch kontrollierte Hoheitszonen. 

Innenpolitisch ist China unter Xi Jinping repressiver geworden, in Hongkong unterdrückte es die Demokratiebewegung. Der Staat kontrolliert die Wirtschaft, er rüstet auf und baut Stützpunkte auf Inseln im Südchinesischen Meer.

Derweil hat sich auch der Ton zwischen China und den USA verschärft. Begonnen hatte das schon, bevor Donald Trump 2016 US-Präsident wurde. Aber mit seinen Zöllen und Handelssperren sorgte er für eine Verschlechterung der Beziehungen. Nachfolger Joe Biden milderte den Ton, setzte Trumps China-Politik aber in der Substanz fort. Eine Anti-Peking-Haltung ist quasi das Einzige, worauf man sich in Wa­shington einigen kann. „Wir dachten, wenn die Chi­nesen reich werden, werden sie Amerikaner“, so der Politologe Ian Bremmer, „aber sie sind immer noch Chinesen.“

Japanische und amerikanische Strategen warnen vor einem erstarkten China. Fumio Kishida, der im September abgetretene Premier Japans, orakelte: „Heute die Ukraine, morgen Taiwan.“ Japans Militär bezeichnet China neuerdings als „hypothetischen Feind“; der Begriff stammt aus dem Vorkriegsvokabular, als Japan große Teile Chinas und Südostasiens eroberte. Das Wort galt bisher als tabu. Gleichwohl haben sich Kishida und Xi darauf verständigt, die „Beziehungen zum beiderseitigen Nutzen, gestützt auf gemeinsame strategische Interessen“ weiter zu verbessern.

US-Thinktanks und -Talkshows beschwören einen neuen Kalten Krieg. Zuweilen klingt es so, als wollten sie diesen herbeireden. Und wie im Konflikt mit der Sowjetunion will jeder wissen, wer auf wessen Seite steht. Indes vermeiden es nicht nur kleinere Länder wie Vietnam und die Philippinen, sich festzulegen. Auch Japan und Südkorea, die militärisch an die USA gebunden sind, wollen ihre wirtschaftlichen Verflechtungen mit China nicht aufs Spiel setzen. China ist der wichtigste Handelspartner Japans und Südkoreas, und umgekehrt ist Japan der zweit- und Südkorea der drittgrößte Chinas. Auch die USA sind ökonomisch von China abhängig und vice versa. Allen politischen Auseinandersetzungen zum Trotz ist das amerikanisch-chinesische Handelsvolumen jüngst noch gewachsen. 

Trotz des Geredes vom neuen Kalten Krieg haben Tokio und Seoul im Juni ihre aufs Eis gelegten Verhandlungen mit Peking über ein Dreier-Freihandelsabkommen wieder aufgenommen, die sie im Jahr 2002 begonnen hatten. Gleichzeitig beteiligten sie sich jedoch an Manövern mit den USA, von denen es hieß, sie hätten die trilaterale Verteidigungskooperation auf eine neue Ebene gehoben.


Vietnam | Als der vietnamesische Staats- und Parteichef To Lam im vergangenen August Peking besuchte, war das nur zwei Wochen nach Amtsantritt als Generalsekretär der KP Vietnam seine erste Auslandsreise. Chinas Präsident Xi Jinping zog alle Register, um To Lam Vietnams Bedeutung für China zu demonstrieren. Xi nannte Vietnam eine „Priorität der nachbarschaftlichen Diplomatie“.

Derweil lehnt sich Hanoi militärisch enger an Washington an, den früheren Feind. 2023 wurde eine strategische Partnerschaft vereinbart, die Handel und Verteidigung umfassen soll. In zahlreichen Wirtschaftssektoren, von Sportschuhen bis zu Halbleitern, macht Vietnam China als Produktionsstandort Konkurrenz; die Löhne sind hier noch niedriger. Gleichzeitig sind Vietnam und China Glieder weltweiter Elektroniklieferketten. China verkauft Vietnam Halbleiter, Batterien, Smartphones, Vietnam China Bildschirme und (andere) Halbleiter. 

Vietnam blickt auf ein Jahrhundert der Kriege zurück. 1940 wurde die damalige französische Kolonie von Japan besetzt. Nach dessen Kapitulation 1945 marschierten chinesische Truppen in Vietnam ein; die Franzosen kehrten zurück und führten ab 1946 einen Krieg gegen die Unabhängigkeitsbewegung, der 1954 mit der Teilung Vietnams endete. Dieser Konflikt ging nahtlos in den 20-jährigen Vietnam-Krieg über, in dessen Verlauf die USA 7,5 Millionen Tonnen Bomben auf Vietnam abwarfen, das Doppelte dessen, womit sie während des Zweiten Weltkriegs Europa und Asien bombardierten. 

Der Vietnam-Krieg endete 1975 mit dem Sieg des Nordens über die USA und der erzwungenen Wiedervereinigung. 1979 überfiel China Vietnam, weil Hanois Truppen im Nachbarland Kambodscha das Schreckensregime der Roten Khmer unter Pol Pot gestürzt hatten, der mit Peking verbündet war. 

Im Südchinesischen Meer streiten Viet­nam und China seit zwei Jahrhunderten um kleine Inseln, die zum Teil auch von Taiwan, den Philippinen und Malaysia beansprucht werden. Im Januar 1974 führten Hanoi und Peking eine eintägige Seeschlacht um die Paracel-Inseln. Seither kommt es öfter zu kleinen Zusammenstößen. 2014 brachte China eine Ölplattform in vietnamesische Gewässer, 2019 ein Vermessungsschiff. Bewaffnete Auseinandersetzungen gab es seit 50 Jahren nicht.

Seit 1995 ist Vietnam Mitglied der ­ASEAN, der Staatengemeinschaft Südostasiens, die im Westen gerne als Schwatzbude abgetan wird, weil sie keine einheitliche Ideologie vorgibt. Der frühere UN-Botschafter Singapurs Kishore Mahbubani hält aber gerade das für eine Qualität: So habe die ASEAN den 650 Millionen Einwohnern einer der „balkanisiertesten Regionen der Welt“ (Mahbubani) Frieden und Wohlstand gebracht. Die ASEAN ist der fünftgrößte Wirtschaftsblock der Welt – mit 6 Prozent Wirtschaftswachstum. Außerdem sei „niemand gerne allein mit einem Elefanten in einem Raum“, so Mahbubani mit Blick auf China, mit dem die ASEAN seit zwei Jahren über das Freihandelsabkommen RCEP verbunden ist. RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) gehören neben den zehn ASEAN-Staaten (Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam) auch China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland an.


Bambus-Diplomatie

Vietnam ist auch Mitglied der CPTPP, wie die Transpazifische Partnerschaft (TPP) heißt, seit Donald Trump die Teilnahme der USA kurz nach seinem Amtsantritt 2016 mit großem Tamtam zurückzog. 

Angesichts der vielen Verbindungen fragt man in Washington, auf wessen Seite Vietnam eigentlich sei; den Vietnamesen aber stellt sich diese Frage nicht. Ein Politiker, der sich nicht gegen China stellen könne, tauge nicht zum Präsidenten ­Vietnams, sagen sie hier – einer, der nicht mit China zusammenarbeiten könne, aber auch nicht. Nur einer, der beides gleichzeitig schaffe, habe es verdient, Vietnam zu führen. Der im Juli verstorbene Staats­präsident Nguyen Phu Trong prägte für die Außenpolitik des Ausbalancierens den Begriff der „Bambus-Diplomatie“: Bambus neigt sich im Wind, ist aber stark genug, Stürme auszuhalten. 

Statt mit dem Konfuzianismus sollte der Westen sich mit der Geschichte Ostasiens beschäftigen

David Kang, Politologieprofessor an der University of Southern California (USC), formuliert es anders. Aus seiner Sicht wollen die Länder Ost- und Südostasiens keine Stellung zu China beziehen, sondern „auf den fahrenden Zug aufspringen“. Westliche Historiker führen das auf „asiatische Werte“ zurück oder auf den Konfuzianismus. Für sie war China die paternalistische Macht einer hierarchischen Weltordnung. So mag es einst gewesen sein – heute gibt die Wirtschaft den Ausschlag. Wenn der Westen Ostasien erklärt, behilft er sich gerne mit dem Etikett „Konfuzianismus“. Dabei muss man, um die Beziehungen in der Region zu verstehen, ihre lange Geschichte kennen. 


Durch die westliche Linse 

„Warum gibt es keine nichtwestliche Theorie über internationale Beziehungen?“ fragten der britisch-kanadische Politikwissenschaftler Barry Buzan und der Inder Amitav Acharya vor 15 Jahren. Die politische Theorie, und damit teilweise auch die Praxis, seien weltweit westlich geprägt; dabei passten weder China noch Japan in westliche Kategorien. Politische Theorie sei nicht wie Physik, deren Gesetze überall gelten. Doch der Westen tue so, als ob es eine universelle politische Theorie gebe. Und als ob jedes Land, wenn es erstarke, andere zu dominieren versuche, wie John Mearsheimer behauptet. 

Der Kanadier Robert Cox schrieb schon 1986, politische Theorie diene stets irgendjemandem. Sie verfolge stets einen Zweck, meistens die Interessen des Westens, in Ostasien heute jene der USA. Doch die Vertreter der englischsprachigen Welt verstünden es meisterhaft, ihre Eigeninteressen als Analyse zu verschleiern. 

In Ostasien gab es – länger als in Europa – stabile zwischenstaatliche Konzepte; das Tributsystem etwa, wonach der Stärkere, das Kaiserreich China, sich als Schutzmacht der sonst souveränen ­kleineren Nachbarn verstand, die dem Thron dafür Tribute entrichteten. Das kurbelte auch den bilateralen Handel an. 

Korea, Japan, China und Vietnam sind seit 1000 Jahren politische Einheiten. Ihre Region war lange stabil, bis die Kolonialmächte kamen und ihr zwischenstaat­liches Gefüge zerstörten. 

Kein westlicher Gelehrter hat seine Tunnelsicht auf Ostasien offener demonstriert als der einflussreiche Harvard-Professor Graham Allison. Allison sieht die USA und China in einer „Falle des Thukydides“, benannt nach dem Athener Strategen und Historiker Thukydides, der im 5. Jahrhundert vor Christus über die Rivalität zwischen Athen und Sparta schrieb. Ein Krieg sei nahezu unvermeidlich, wenn eine aufstrebende Macht die Hegemonie einer bestehenden Großmacht bedrohe, so Allison. In der typischen Manier amerikanischer Politikwissenschaftler, die gerne Äpfel mit Orangen vergleichen, bemüht Allison 16 Beispiele aus den vergangenen 500 Jahren als Belege für seine These. In 12 von 16 Fällen sei es zum Krieg gekommen. 

14 seiner 16 Beispiele, die ihm als Analogie zum Krieg zwischen zwei Stadtstaaten auf dem Peloponnes vor 2400 Jahren dienen, fand Allison in Europa. Die beiden Beispiele aus Ostasien, die er anführt – den Krieg zwischen Russland und China 1904/05 und den Pazifischen Krieg zwischen den USA und Japan während des Zweiten Weltkriegs – taugen nicht zur Bestätigung seiner These. Weder Russland am Pazifik noch die USA in Ostasien waren Hegemonen, die die aufsteigende Großmacht Japan bekämpften. Es ging vielmehr um Kolonien, Korea, die Mandschurei, Südostasien und weite Teile Chinas.

Wer immer den Begriff eines neuen Kalten Krieges prägte, Graham Allison stand Pate. Das scheint ihm selbst inzwischen unheimlich. Im Januar warnte er in einem Interview vor einer Dämonisierung Chi­nas. Auch US-Präsident Joe Biden lehnte vor einem Jahr in Hanoi das „Denken in Begriffen des Kalten Krieges“ ab. Die USA wollten China nicht isolieren, sondern Wirtschaftswachstum und Stabilität fördern. „Ich will China wirtschaftlich erfolgreich sehen, aber es soll sich an die Regeln halten.“

Das halbe Jahrhundert seit dem Sieg ­Vietnams über die USA und dem Abzug der letzten amerikanischen Soldaten aus Saigon war für die Länder Ost- und Südost­asiens friedlicher als jede Phase seit Beginn der europäischen Kolonialherrschaft in der Region. Damals mussten die meisten von ihnen um ihr Überleben fürchten. Ihre Wirtschaften seien phänomenal gewachsen und international integriert, so David Kang. Auf die eine oder andere Weise in ihrer Existenz bedroht seien im Grunde nur noch Taiwan und Nordkorea. 

Angesichts dieser Geschichte kann es kaum verwundern, dass das aufstrebende, prosperierende Vietnam sich noch mehr als andere Länder nach allen Seiten absichern möchte, ob man das nun „Bambus-Diplomatie“ nennen will oder nicht. 


Philippinen | Mitte August rammte ein Schiff der chinesischen Küstenwache zwei philippinische Boote, die dabei beschädigt wurden. Verletzte gab es keine. Die Philippinos waren unterwegs zum Sabina Shoal, einem Atoll in den ­Spratly-Inseln. China warf ihnen anschließend vor, die Kollision absichtlich herbeigeführt zu haben. 

Zu Scharmützeln dieser Art kommt es in letzter Zeit immer wieder – kein anderes Land wird öfter von China schikaniert als die Philippinen. Die chinesische Küstenwache setzt zuweilen Wasserkanonen gegen philippinische Fischer ein. Die ­Spratly-Inseln haben strategische Bedeutung, zudem werden hier Erdgas­vorkommen vermutet. Sie werden von China, Vietnam, Taiwan und den Philippinen beansprucht, einige der mehr als 100 Inseln sogar von Malaysia und Brunei. 

Aus Sicht Manilas liegen die nördlichen Spratlys in seiner exklusiven Wirtschaftszone. Der ständige internationale Schiedsgerichtshof in Den Haag hat diese Lesart 2016 bestätigt, zumal Chinas Außenministerium schon 1932 die 750 Kilometer weiter nordwestlich gelegenen Paracel-Inseln als südlichsten Teil Chinas bezeichnet hatte. Peking ignoriert das Urteil von Den Haag.

Wie nach ähnlichen Zwischenfällen forderte Manila Peking auf, das „aggressive, unprofessionelle und illegale“ Verhalten seiner Küstenwache zu stoppen, betonte aber, es wolle den Konflikt diplomatisch lösen. Die Philippinen würden nie einen ersten Schuss abfeuern, wozu, wie es in Manila zuweilen heißt, China den kleineren Nachbarn provozieren wolle. 


Außenpolitisch inkompetent

Für nicht weniger als 333 Jahre ihrer Geschichte standen die Philippinen unter spanischer Kolonialherrschaft. Die Spanier hatten das Reich der 2000 bewohnten Inseln 1565 nach ihrem damaligen König, Philipp II., benannt. Die Macht jedoch lag primär in den Händen der katholischen Kirche. Bis heute sind 79 Prozent der Philippinos Katholiken. Als sich Ende des 19. Jahrhunderts neben den Philippinos auch weitere Kolonien gegen Madrid auflehnten, kam es zum spanisch-amerikanischen Krieg. Das Inselreich fiel als Beute an die Amerikaner. Es blieb – über die japanische Besetzung im Zweiten Weltkrieg hinaus – bis 1946 eine Kolonie der USA. 

Obwohl die Philippinen über eine Verteidigungsallianz an die USA gebunden sind, wollen auch sie es vermeiden, ­definitiv zum Lager einer der beiden Großmächte zu gehören. Ihr Handelsvolumen mit China ist so groß wie jenes mit den USA, auch sie sind nun ein Glied von Hightechlieferketten. 

 Anders als Hanoi hat Manila in den vergangenen Jahrzehnten keinen Balanceakt probiert. Seine Außenpolitik hat sich jeweils mit neuen Präsidenten neu orientiert. Unter Diktator Ferdinand Marcos (1965–1986 im Amt), der das Land plünderte, war es eng an Washington gebunden. Corazon Aquino, die erste Präsidentin nach dessen Sturz, musste 1991 auf Druck des Senats die auf den Philippinen verbliebenen US-Basen schließen – als letzter Schritt der Entkolonialisierung. 

In den 1950er Jahren eines der wohlhabendsten Länder Ostasiens, hinken die Philippinen heute Südkorea, Indonesien oder Thailand hinterher

Trotz einiger Zwischenfälle um Inseln vereinbarte Präsidentin Gloria Arroyo (2001–2010) eine engere Zusammenarbeit mit Peking; ihr Nachfolger Benigno Aquino lockerte diese nach neuen Konflikten im Südchinesischen Meer wieder und band Manila enger an die USA, mit denen er ein „erweitertes Verteidigungsbündnis“ unterzeichnete. Der korrupte Populist Rodrigo Duterte (2016–2022) machte das de facto rückgängig. Der gegenwärtige Präsident, Ferdinand Marcos jr., der Sohn des einstigen Diktators, tritt China gegenüber selbstbewusster auf, hat aber auch das Bündnis mit Washington erneuert. 

Dieses Hin und Her lässt die Philippinen aussehen, als seien sie leicht unter Druck zu setzen. Mit dem Ostasien-Experten Philip Bowring kann man auch sagen, dass die Philippinen, seit 1986 eine Demokratie, seit ihrer Unabhängigkeit kein Glück gehabt hätten mit der von wenigen Familien dominierten Politik. In den 1950ern eines der wohlhabendsten Länder Ostasiens, reicher als Südkorea, Indonesien und Thailand, hinkt man heute diesen Ländern hinterher. Die Politdynastien verhindern eine ökonomische und gesellschaftliche Modernisierung, so Bowring. Und: Ihre Außenpolitik sei inkompetent.


Südkorea | Südkorea ist der Musterschüler der Tigerstaaten, die sich nach einem im 19. Jahrhundert in Japan entwickelten Konzept rasant modernisiert haben. Keine andere Wirtschaft ist so rasch gewachsen wie die Südkoreas, kein Land schneller reich geworden. Von 1910 bis 1945 eine japanische Kolonie, dann vom Korea-Krieg zerstört, war Südkorea 1962 eines der ärmsten Länder der Welt, strukturell ein typisches Land des Globalen Südens. ­Heute ist es eine Industriegroßmacht, ein ­führendes Exportland, der zehntgrößte ­Rüstungsexporteur der Welt und ein ­Entwicklungshilfe-Geberstaat. 

Das Erfolgsprinzip der Tigerstaaten war einfach, die Umsetzung nicht so ganz. Sie erforderte große Opfer der Bevölkerung. In einem ersten Schritt substituierten alle Tigerstaaten die Importe und setzten auf Export. Südkoreas Diktator Park Chung-hee versprach eine „Wirtschaftsrevolu­tion“, dafür rationierte er sogar Reis, um ihn nicht importieren zu müssen. 

Auf der Makroebene verordneten die Regierungen der Tigerstaaten ihren Wirtschaften einen strikten Plan. Park deklarierte 1962 seinen ersten Fünfjahresplan, den er zusammen mit Unternehmern formuliert hatte und regelmäßig ­aktualisierte. Für die Umsetzung erhielten diese Privatfirmen, meist im Besitz von Familien, günstig Staatskredite und Privilegien, zudem genossen sie Protektion. 

Bei der Umsetzung und an der Basis ließ der Staat anders als im Sozialismus den freien Markt spielen. Nach diesem Modell wurden anfänglich arbeitsintensive Industrien, etwa die Textilproduk­tion, später Zukunftsbereiche, sogenannte „Sonnenaufgangsindustrien“, durchgepeitscht. In Südkorea waren das die Stahl­industrie, die Chemie, dann der Schiffbau, die Autoindustrie und die Elektronik. ­Seoul verfügte für keinen dieser Industriezweige über die nötigen Voraussetzungen, hatte aber mit allen Erfolg. 


Strategische Mehrdeutigkeit

Nicht nur Taiwan, Hongkong, Singapur, Malaysia, Thailand und später Vietnam folgten diesem Modell; auch China selbst tat es, wie Premier Zhu Rongji (1998–2003) einmal einräumte. In den frühen Phasen dieser Reformen war kein Tigerstaat demokratisch; die Härten, die der Bevölkerung zugemutet wurden, wären in Demokratien kaum durchsetzbar gewesen. 

Taiwan stand von 1949 bis 1987 unter Kriegsrecht, Südkorea war bis zum Jahr 1987 eine Militärdiktatur. Park knebelte die Presse, unterdrückte die Opposition, kontrollierte das Militär, warf Gewerkschafter und Dichter ins Gefängnis und ließ sie foltern. Gleichwohl halten viele Südkoreaner die Erinnerung an Park in Ehren. Er habe sie wohlhabender und ihr Leben besser gemacht.

Bevor Park seine Wirtschaftsrevolu­tion anschob, war Südkorea ein instabiler Klientelstaat der USA; Washington finanzierte das halbe Staatsbudget. Beziehungen zu China pflegte Seoul seit dem Korea-Krieg keine. 1983 begann eine zaghafte Normalisierung, 1992 nahmen China und Süd­korea diplomatische Beziehungen auf. Dann ging es schnell: Die Kontakte wurden vertieft, 2015 trat ein bilaterales Freihandelsabkommen in Kraft. 

Kein Land der Region scheint dazu bereit, sich ­einer Koalition zur Eindämmung Chinas anzuschließen, nicht einmal Japan

Heute sind Südkorea und China eng miteinander verflochten. Von Hightech und Autos bis hin zum Kosmetische-Chirurgie-Tourismus und der Pop-Kultur hat sich das bilaterale Handelsvolumen der Länder seit 1992 von sechs Milliarden Dollar auf 313 Milliarden mehr als verfünfzigfacht. Um die Mitte des vergangenen Jahrzehnts waren mehr als 40 000 süd­koreanische Firmen in China aktiv. 

Zum Verdruss von Tokio und Washington nahm Südkoreas konservative Präsidentin Park Geun-hye, die Tochter des einstigen Militärdiktators, 2015 auf dem Tiananmenplatz in Peking an einer Militärparade zum Jahrestag des Sieges über Japan teil. Das war ein Signal der „strategischen Mehrdeutigkeit“, die Seoul für sich in Anspruch nahm und nimmt.

Im Jahr 2017 erlaubte Südkorea den USA, südlich von Seoul eine Raketenabwehr zu stationieren. Das sorgte für Verstimmung in China, Peking verhängte Handelsboykotte. Die Auseinandersetzung wurde jedoch binnen eines Jahres beigelegt, die Raketenabwehr blieb. 

Gleichwohl hatte der Streit Folgen: 2014 sagten 60 Prozent der Südkoreaner in einer Umfrage, sie hätten ein positives Bild von China; heute blicken 82 Prozent kritisch auf den großen Nachbarn. Ähnliche Einbrüche der Popularität Chinas registrieren auch andere Länder.

Das Handelsvolumen zwischen China und Südkorea geht zurück. Der Elektronikkonzern Samsung etwa, der 1992 seine erste Fabrik in Huizhou eröffnet hatte, produziert seit 2021 nicht mehr in China. Er hat seine Smartphone-Fertigung nach Vietnam und Indien verlegt. Als Gründe werden die steigenden Löhne angeführt. Außerdem seien Chinas eigene Smartphones mittlerweile ausgezeichnet, und es gäbe Handelshindernisse. Der Marktanteil von Samsung, weltweit die Nummer eins, ist in China von 20 Prozent 2013 auf 2,5 Prozent im Jahr 2020 gefallen; heute liegt er unter 1 Prozent. 


Geschäft ist Geschäft

Südkoreas Präsident Roh Moo-hyun (2003–2008) hatte von einer ostasiatischen Gemeinschaft geträumt, vergleichbar der EU oder ASEAN. Damit griff er die panasiatische Idee auf, die vor hundert Jahren in Japan, Korea, Indien und in China in verschiedenen Schattierungen kursiert hatte. 

Südkoreas derzeitiger Präsident, der konservative Yoon Suk-yeol, war 2022 mit dem Versprechen angetreten, die Beziehungen zu China würden im „gegenseitigen Respekt“ stabil bleiben. Allerdings deuten Peking und Seoul diese Formel unterschiedlich. China versteht darunter, dass Südkorea sich nicht in Pekings Kerninteressen einmischt, insbesondere Taiwan. Seoul erwartet seinerseits, dass es in Fragen der nationalen Sicherheit keine Rücksicht auf China nehmen muss. 

Immerhin: Als die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi nach ihrem provokanten Besuch in Taiwan vor einem Jahr in Seoul Halt machte, weigerte sich Präsident Yoon, sie zu treffen. Er ließ sich beim Biertrinken fotografieren, er sei im Urlaub. Das Außenministerium erklärte, ein Treffen mit Pelosi wäre nicht im Interesse Südkoreas.

Umgekehrt kam es in Peking nicht gut an, dass Seoul einen Beitritt zum QUAD zu erwägen schien, dem „strategischen Dialog“ der USA mit Japan, Indien und Australien, einer Allianz von mehr theo­retischer als praktischer Bedeutung. USC-Professor David Kang ist überzeugt: Kein Land der Region sei bereit, sich einer Koalition zur Eindämmung Chinas anzuschließen, „ich glaube, nicht einmal Japan“. Die Länder hätten über Jahrhunderte gelernt, mit China zu leben. „Das Business von Ostasien ist Business, und das hat unglaublich gut funktioniert, es garantierte 50 Jahre Stabilität und machte alle reicher“, so Kang. Nur die USA würden mit einem „Militär-zuerst“-Blick auf die Region schauen. 

Bei den südkoreanischen Parlamentswahlen im April kassierten Yoons Konservative eine bittere Schlappe. Die Demokratische Partei, die schon zuvor im Parlament die absolute Mehrheit hielt, vergrößerte diese noch. Yoon wird die kommenden drei Jahre gegen das Parlament regieren; das ist fast eine Garantie für die Fortsetzung von Südkoreas „­strategischer Mehrdeutigkeit“.


Japan | Reinlichkeit sei einer der wenigen originellen Züge der japanischen Zivilisation, notierte der englische Japanologe Basil Hall Chamberlain 1904. „Fast alles andere hat seine Wurzeln in China.“ Auch Japan gehörte zur Sinosphäre. Bis 1549 erkannte es China als Hegemon an und entsandte Tributdelegationen. Nach zwei gescheiterten japanischen Versuchen im 16. Jahrhundert, Korea und dann auch China zu erobern, isolierte sich Nippon für zweieinhalb Jahrhunderte. Es duldete nur kleine Handelsdelegationen aus den Niederlanden und China, die in Nagasaki in Ghettos wohnen mussten. 


Modell der fliegenden Wildgänse

Zwischenstaatliche Beziehungen ging Japan keine mehr ein, bis man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aufgeschreckt von den Opiumkriegen und dem Vordringen der Kolonialmächte, eine radikale Modernisierung, Industrialisierung und Militarisierung beschloss. Oberflächlich begann sich Japan zu verwestlichen. Es wurde zur regionalen Großmacht, derweil China zum „kranken Mann in Fernost“ verkümmerte. 1895 besiegte Tokio China, 1905 Russland. Es besetzte Taiwan und Korea als Kolonien und 1931 die Mandschurei, Chinas Nordosten. Dann griff es mit unheimlicher Brutalität nach immer weiteren Teilen von China und Südost­asien. Bis zur Kapitulation 1945.

Ähnlich wie die Nazis wollte Japan „­Lebensraum“ und Rohstoffe, die Propaganda machte die Japaner zur Herrenrasse, prädestiniert, Asien zu führen. Es kursierte sogar die These, die Japaner seien gar keine Asiaten. Das japanische Militär beging entsetzliche Gräueltaten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde ­Japan zur regionalen Großmacht, derweil China zum „kranken Mann in Fernost“ verkümmerte

Sieht man genauer hin, dann entdeckt man noch eine andere Seite, die keine im Namen des Kaisers begangenen Untaten rechtfertigt oder schmälert, aber auch andere Intentionen offenbart. Tokio behauptete, es wolle Asien von den westlichen Kolonialmächten befreien: Asien den Asiaten. Als „großasiatische Wohlstandssphäre“ sollte eine von Japan geführte panasiatische Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft entstehen. Letztlich war das nur Propaganda, doch eine mit einem beachtenswerten Hintergrund.

Der Wirtschaftswissenschaftler Akamatsu Kaname publizierte dazu 1935 ein Konzept, wonach das wirtschaftlich stärkere Japan einer zweiten Reihe von Ländern väterlich unter die Arme greift, indem es dort die Produktion von Rohmateria­lien, später den Aufbau einer Leichtindustrie fördert, auch zum eigenen Nutzen. Die Länder der zweiten Reihe würden den nächsten helfen. „Modell der fliegenden Wildgänse“ nannte Akamatsu sein Konzept. Wildgänse sind ein häufiges Motiv der alten japanischen Lyrik. 

Demnach stieg die Leitgans Japan auf, gefolgt vom Schwarm, der ihr in V-Formation folgten sollte. Das Modell blieb Modell, irgendwo archiviert. Doch außer in der Mandschurei und etwas Infrastruktur in Taiwan und Korea baute das militaristische Japan nichts auf, seine Armee wütete und zerstörte nur. Die Wildgänse könnten durchaus als nichtwestliches Konzept für internationale Beziehungen gedeutet werden, zumal das Modell eine Hierarchie der Länder impliziert; etwas, das das westfälische Modell nicht kannte. Im Westen wies man das Modell jedoch als „bloß beschreibend“ zurück.

Die Wildgänse ließen sich durchaus als nichtwestliches Konzept für internationale Beziehungen deuten

Nach dem Krieg revidierte Akamatsu seine Wildgänse-Metapher zunächst und veröffentlichte sie für einen Aufstieg unabhängiger Staaten Ostasiens 1962 erneut. Nun wurde vieles davon umgesetzt, Japan wurde zum größten ausländischen Investor in mehreren Ländern, insbesondere in Vietnam, das Tokio ab 1992 als privilegierten Handelspartner behandelte. Schon 1996 baute Honda eine erste Motorrad-­­Fa­brik bei Hanoi. Der frühere japanische Premier Shinzo Abe, ein Rechtskonservativer, ging so weit, Vietnams kommunistische Regierung für ihre Wertegemeinschaft mit Japan zu loben. Er meinte, beide Länder seien gegen China – was für beide nicht stimmte, aber in Abes Weltbild passte.

Japan investierte auch früh in die Modernisierung Chinas; private Unternehmen pumpten jährlich rund zehn Milliarden US-Dollar ins Reich der Mitte. Gleichsam als stille Leitgans hat Japan nach Akamatsus Modell ohne Hierarchie-
Anspruch maßgeblich zum raschen Aufstieg Ostasiens beigetragen.


Status quo oder „unmöglicher Spagat“ 

Wenn Japan und China es in mehr als 1000 Jahren nicht gelernt haben, eine gleichberechtigte Nachbarschaft zu führen, dann hat das auch damit zu tun, dass sie bis vor Kurzem nie gleichzeitig starke Staaten waren. Dennoch haben sie seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1972 erhebliche Fortschritte gemacht. Natürlich, alte Konflikte flammen regelmäßig auf. Etwa der Disput um die Senkaku-Inseln, dessen Lösung Japans Premier Tanaka Kakuei und sein chinesischer Amtskollege Zhou Enlai 1972 weise einer künftigen Generation überantworteten. Oder Streitereien wie die über die Verklappung von Kühlwasser aus dem havarierten AKW Fukushima ins Meer. 

Doch keine der Auseinandersetzungen hat zu ernsthaften Zwischenfällen geführt. Seit einem halben Jahrhundert üben Japan und China eine Nachbarschaft, die besser sein könnte, aber noch nie so gut war, seit beide starke Staaten sind – und die wesentlich besser ist als ihr Ruf.

In den 2000er Jahren lebten rund 50 000 Japaner in Schanghai, 150 000 in ganz China, heute noch etwas mehr als 100 000. Auch japanische Unternehmen verschieben Produktionen in andere Länder. Umgekehrt lebten 1980 etwa 50 000 Chinesen in Japan, heute 700 000 – genau genommen mehr, Tokio bürgert jährlich rund 4000 Chinesen ein. Tourismus ist für Japan zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. 2019 besuchten zehn Millionen Chinesen Japan; diese Zahl wurde seit der Pandemie noch nicht wieder erreicht.

Manchen rechtskonservativen Politikern ist Japans militärische Abhängigkeit von den USA ein Dorn im Auge, aber sie halten den „nuklearen Schutzschirm“ Washingtons für unverzichtbar. Die Regierung richtet deshalb großzügige Lippenbekenntnisse an Washington, Japan kauft Waffensysteme, wenn die USA das fordern, es beherbergt Militärbasen und nimmt an Planspielen und Manövern teil. Aber seine Armee strukturell oder strategisch zu modernisieren, das hat Japan bisher versäumt. 

Japans enge wirtschaftliche Verflechtung mit Peking spielen Japans Konservative gerne herunter. Sie reden von internationalen Beziehungen, die „sich auf Regeln stützen“ und implizieren, China tue das nicht. Das politische Japan weiß nicht, was es will. Damit könnte es sich in eine Lage manövrieren, in der es zu einem unmöglichen Spagat gezwungen würde. Wahrscheinlicher ist, dass es beim Status quo bleibt und Japan und China als Nachbarn leben. Wie seit 50 Jahren.           

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 32-41

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Christoph Neidhart lebt als freier Autor in der Nähe von Tokio. Er war von 2007 bis 2019 Japan-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und des Zürcher Tages-­Anzeigers.

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