Architekt aus Leidenschaft
Buchkritik
„Ich habe Gewissensbisse, wer hat ein Verbrechen für mich?“ – Europas Schuldkomplex lähmt den Kontinent. Er bietet das perfekte Alibi dafür, sich von Amerika und dem Rest der Welt abzuschirmen. Ein Irrweg, meint Pascal Bruckner. Die Demokratien des Westens müssen stark sein, um nicht von den Kräften der Tyrannei besiegt zu werden.
Der Jesuit Louis Bourdaloue, ein Prediger am Hofe Ludwigs XIV., unterschied in der Nachfolge des heiligen Bernhard von Clairvaux vier Arten des Gewissens: das gute ruhige (Paradies), das gute aufgewühlte (Fegefeuer), das schlechte aufgewühlte (die Hölle) und das schlechte friedliche (die Hoffnungslosigkeit). Pascal Bruckner zählt das heutige Europa zur letzten Kategorie. Denn in den Augen des französischen Philosophen dürfte es noch nicht allzu oft geschehen sein, dass die Eliten eines Kontinents mit solch ungeheurer Begeisterung ein kollektives Schuldgefühl entwickeln, ja sogar die Fehler der anderen auf sich nehmen und – Zitat – laut ausrufen: „Ich habe Gewissensbisse, ich habe Gewissensbisse, wer hat ein Verbrechen für mich?“
Dieses Schuldgefühl kommt den Europäern nach Bruckners Analyse gelegen, da es das Alibi für den Rückzug aus der Verantwortung liefert. Das heutige Europa begehrt in seinen Augen keine Eroberungen, es möchte sich vielmehr von der Welt abtrennen und vor allen Stürmen in Sicherheit bringen. Es möchte sich in den Kokon der Reue einschließen und sich nur noch um sein Schlaraffenland der Supermärkte, des Wohllebens und des Hedonismus kümmern. Eine Sichtweise, die freilich, so muss man anfügen, angesichts immer neuer Auslandseinsätze europäischer Soldaten, immer neuer humanitärer Missionen und immer neuer diplomatischer Vermittlungsbemühungen in den Krisenherden dieser Welt nicht allzuviel mit der Realität gemein hat.
Und dennoch: Die Schlussfolgerung, die Bruckner aus seinem europakritischen Pamphlet zieht, ist richtig: Die transatlantischen Bande sind zu erneuern. Denn so wenig die Europäische Union ohne die Vereinigten Staaten auskommt, so wenig kommen diese ohne Europa aus. Trotz des gegenseitigen Argwohns sind Europäer und Amerikaner auf Gedeih und Verderb dazu verurteilt, wieder zusammenzufinden und sich die Lasten zu teilen. Die Demokratien des Westens müssen so stark sein, dass sie nicht von den Kräften der Tyrannei besiegt werden können.
Auch Bruckners Bauplan für eine neue Brücke über den Atlantik ist, wenn schon nicht neu, so doch solide: Wenn Europa auch nur ein wenig globalen Einfluss behalten will, dann muss es neben seinem großen amerikanischen Nachbarn ein zweites Staatengebilde aufbauen, das eine neue politische Form aufweist und auf dem freiwilligen Verzicht eines Teiles der nationalen Souveränität beruht. Allen Predigern eines westlichen Schismas, die die Scheidung einreichen wollen und im Atlantik ein metaphysisches Gewässer sehen, das zwei unvereinbare Philosophien trennt, hält Bruckner entgegen, dass diese Rivalität in einen Wettstreit zwischen zwei Blöcken umgewandelt werden muss, die viel voneinander lernen können, was Wagemut und Vorsicht angeht. Denn nach Bruckners transatlantischem Psychogramm gilt es, amerikanisches Ungestüm durch europäische Bedachtsamkeit und europäische Vernunft durch amerikanische Dynamik zu ergänzen. Ihm geht es nicht darum, zwischen der Alten und der Neuen Welt zu wählen, da gerade die dialektische Kollision zu Leidenschaft und fruchtbaren Kontrasten führt. Ihm geht es um eine Annäherung der beiden zerstrittenen Hälften des Westens. Denn sie sind und bleiben auf absehbare Zeit zusammen mit Indien und Japan die Garanten der pluralistischen Regierungsformen. Mit mehr Leidenschaft als bei Bruckner ist das selten gefordert worden. Eine Leidenschaft, die geradezu amerikanische Züge trägt, zumindest nach dem Maßstab ihres europäischen Analytikers.
Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa. München: Pantheon 2008, 256 Seiten, 12,95 €
Dr. THOMAS SPECKMANN, geb. 1974, ist Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Internationale Politik 4, April 2008, S. 136 - 137