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01. Okt. 2003

Arafat ist nicht Sadat

Mangel an Maß, Realismus und politischem Mut

Zwei wesentliche Ereignisse der nahöstlichen Geschichte jähren sich in diesem Herbst: Der Jom- Kippur-Krieg (1973) und das Abkommen von Camp David (1978). Kenneth W. Stein, Nahost- Historiker aus Atlanta/USA, beschreibt, wie Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat als genialer, weitblickender Stratege den Krieg nutzte, um den Frieden – und den Sinai – von Israel zu erlangen. Und er zeigt, dass Yasser Arafat von diesem großen Vorbild nichts gelernt hat.

Der September/Oktober 2003 markiert zwei Jahrestage entscheidender Wendepunkte in der Geschichte des arabisch-israelischen Konflikts: des Jom-Kippur-Kriegs vom Oktober 1973 und der Unterzeichnung des ägyptisch-israelischen Abkommens von Camp David im September 1978. Ohne diesen Krieg hätte es das Abkommen, das die politische Landschaft des Nahen Ostens nachhaltig verändert hat, vermutlich nicht gegeben. Und in beiden spielte der ägyptische Staatspräsident, Anwar as-Sadat, die entscheidende Rolle. Im Kontext der derzeitigen Anstrengungen, einen neuen Friedensplan für Palästinenser und Israelis umzusetzen, ist es interessant, Sadats Politik in den frühen siebziger Jahren mit der aktuellen von Yasser Arafat, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde und Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), zu vergleichen.

Heute mühen sich die palästinensischen Führer damit ab, bei ideologischen Kernaussagen, die ihre nationale Bewegung angeleitet haben, Kompromisse zu finden: der endgültige Verzicht auf den bewaffneten Kampf und die Rückkehr in die frühere Heimat für die Aussicht, ihren Traum zu erfüllen, einen unabhängigen palästinensischen Staat zu errichten. Sie haben Konflikte niedriger Intensität gegen Israel unterhalten, doch gelang es ihnen nicht, ihre Aufstände gegen Israel in politische Erfolge umzumünzen. Anders als Sadat, der dramatische Aktionen starten musste, nur damit die Großmächte ihm Gehör für seine rationalen Ziele schenkten, schiebt die palästinensische Führung, die die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft genießt, Entscheidungen, die die Schaffung ihres Staates ermöglichen würden, vor sich her oder geht ihnen aus dem Wege.

In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts befand sich Sadat in einer ähnlichen Situation: in einer asymmetrischen Beziehung zu Israel, was die militärische Macht und die Distanz zu den USA anging. Doch im Gegensatz zu Arafat bemühte sich Sadat ohne Unterlass, den diplomatischen Prozess voranzubringen. Der ägyptische Staatschef benutzte den Krieg, um den Beginn von Verhandlungen zu erzwingen, die sich in spezifischen diplomatischen Ergebnissen niederschlugen; der PLO-Chef hingegen setzt Gewalt ein in Verbindung mit Verhandlungen, um das Erreichen eines diplomatischen Ergebnisses zu vermeiden.

Zahlreiche Gründe könnten ins Feld geführt werden, warum das Kernziel der Palästinenser bisher noch nicht erreicht wurde; einer davon ist die Unfähigkeit der palästinensisch-arabischen Führung, die notwendigen pragmatischen Kompromisse und damit Risiken einzugehen. Die Abneigung Arafats, das Wohl der nationalen Bewegung über seine Vorrechte als Führer zu stellen, ist nur zu offenkundig geworden und wird seit geraumer Zeit selbst von vielen Palästinensern kritisiert. Die derzeitigen Streitigkeiten innerhalb der PLO und zwischen den Fraktionen, die Arafat unterstützen oder ablehnen, erinnern in bemerkenswertem Ausmaß an die Zersplitterung, die die palästinensisch-arabische Führung vor mehr als sechzig Jahren (1936–1939) während und nach dem ersten längeren palästinensischen Aufstand und der Revolte gegen den Zionismus kennzeichnete. Kurz, Sadat hat das Schicksal seines Volkes umgestaltet; Arafat hat, obwohl er nicht weniger ein Nationalist ist, nichts erreicht, außer den Konflikt am Leben erhalten zu haben.

In den siebziger Jahren verfolgte Sadat nur ein einziges Ziel: die Förderung der nationalen Interessen Ägyptens. Er zeigte Weitsicht und Mut. Er sah sich mit Israel einem überlegenen militärischen Gegner gegenüber, dessen Führung jeder seiner Aktionen misstraute. Trotz immenser physischer und psychologischer Hindernisse veränderte er nur mit Willensstärke die politischen Konstellationen, schuf neue Realitäten und stürzte lang gehegte politische Grundannahmen um. Immer, wenn der politische Prozess stagnierte, belebte Sadat ihn wieder. Er setzte sich über die tief gehende Opposition der arabischen Welt gegen jede Art von Anerkennung oder Verhandlungen mit dem jüdischen Staat hinweg. Er löste Ägypten in voller Absicht von Moskau los und wies 1972 die sowjetischen Berater aus Ägypten aus. Er brachte sein Land nach und nach den Vereinigten Staaten näher und verschaffte somit Washington einen seiner größten Erfolge während des Kalten Krieges. Dieser Wandel zwang die Vereinigten Staaten dazu, arabische Sichtweisen in die Gestaltung ihrer Nahost-Politik einzubeziehen.

Obwohl Sadat schließlich im Oktober 1981 ermordet wurde, zum Teil, weil er Ägyptens nationale Interessen über die historische panarabische Verpflichtung auf die Befreiung Palästinas gestellt hatte, hat er Ägyptens politische Richtung erfolgreich verändert. Sein Handeln hat Kairo den entscheidenden Zeitvorsprung gegeben, um gegen die schwere Last von Ägyptens erschreckendem Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Stagnation anzugehen. Was er nicht durch Krieg erreichen konnte, erreichte Sadat durch Verhandlungen. Sein Handeln bestätigt die These, dass Führungspersönlichkeiten die Politik tatsächlich beeinflussen. Er blieb ein stolzer arabischer Nationalist, auch wenn er nützliche Kompromisse einging, weil er die Realitäten des internationalen und regionalen Umfelds richtig einzuschätzen und zu nutzen wusste.

Motor für den Wandel

Zwei Hauptziele motivierten Sadats Förderung der nationalen Interessen Ägyptens. Das erste war die dringend notwendige Ausmerzung des Makels der demütigenden Niederlage Ägyptens im Sechstagekrieg von 1967. Der Verlust des Sinai war ein schmachvoller Verlust für das Land, verschlimmert noch dadurch, dass Gamal Abdel Nassers Ägypten die arabische Welt mehr als ein Jahrzehnt lang beim Predigen von Israels Untergang angeführt hatte.

Das zweite Ziel war die Aufgabe der langjährigen Beziehung zu Moskau, weil amerikanische Technologie und Wirtschaftshilfe dort aushelfen konnten, wo es die Sowjetunion nicht konnte. Sadat wandte sich von der Sowjetunion ab, weil Moskaus Führungsriege ihm nicht die militärische, finanzielle und politische Unterstützung geben konnte, die er verlangte und die er brauchte. Sadat spielte dieses Spiel, weil er wusste, dass nur die Vereinigten Staaten Israel dazu zu zwingen konnten, eine Verhandlungslösung in Erwägung zu ziehen, die zur Rückgabe des Sinai führen würde. Zu seinem Glück hatte er die Zurückhaltung Israels, seine wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen mit Washington aufs Spiel zu setzen, sogar noch unterschätzt. Die Bewahrung dieser tiefen Beziehung hielt Israel sowohl davon ab, Ägypten anzugreifen, als es wusste, dass der Krieg am 5. Oktober 1973 beginnen würde, wie auch von der Möglichkeit, militärisch Rache an Ägypten zu nehmen, als der Krieg vorbei war und die ägyptischen Streitkräfte den Israelis ausgeliefert waren.

Der zweite Grund für die Hinwendung des ägyptischen Präsidenten zu Amerika war das Wissen, dass, obwohl die israelischen Führungspolitiker ihm selbst nicht trauen würden, sie Washingtons Bitten Beachtung schenken würden. Sadat machte den amerikanischen Präsidenten und eine Reihe von amerikanischen Außenministern zu „Vertretern“ und „Botschaftern“ Ägyptens bei israelischen Führungspolitikern. Er legte sich wie ein rohes Ei in die Hände amerikanischer Führungspolitiker; jemanden, den man nicht fallen lassen oder beiseite drängen konnte. Zu Sadats Glück bekam er in Außenminister Henry Kissinger einen Partner, der den Einfluss der Sowjetunion im Nahen Osten einschränken oder gar gänzlich eindämmen wollte. Sadat fand in Kissinger einen cleveren und verschwiegenen Diplomaten, der bei der Ausübung der Außenpolitik eine außergewöhnliche Fähigkeit an den Tag legte, taktische Entscheidungen in Hinsicht auf eine langfristige Strategie festzulegen und abzustimmen. Mit Jimmy Carter traf Sadat zudem auf einen amerikanischen Präsidenten mit einer Vorliebe für das Lösen von Problemen und einen der wenigen Amtsinhaber im Oval Office, der innenpolitische Zwänge bei der Verfolgung eines außenpolitischen Zieles außer Acht ließ.

Als eine der Verhandlungsrunden für die Rückgabe des Sinai zu scheitern drohte, lenkte Sadat mit seinem Aufsehen erregenden Besuch in Israel im November 1977 die internationale Aufmerksamkeit auf sich und brachte dadurch den diplomatischen Prozess wieder in Gang. Er redete direkt und hart mit den Israelis. „Unser Land“, sagte er den Abgeordneten der Knesset, „ist nicht zu verschachern.“ Damit forderte er die Rückgabe aller Gebiete, die Israel im Sechstagekrieg von 1967 hinzugewonnen hatte. Sadat bekam den Sinai zurück, und obwohl nicht alle Gebiete zurückgegeben wurden, hatte er dessen ungeachtet einen Prozess ins Rollen gebracht, in dem die internationale Gemeinschaft schließlich das Konzept, wonach das im Sechstagekrieg eroberte Land im Austausch für Frieden zurückgegeben werden sollte, für sakrosankt erklärte. Indem er die diplomatische Verpflichtung der Amerikaner nutzte, im Konflikt zu vermitteln, zwang er Washington, einen zweifachen Ansatz gegenüber Israel zu verfolgen, das heißt weiterhin Israels qualitative militärische Überlegenheit gegenüber jeglicher arabischer Feindkonstellation sicherzustellen, zugleich aber die arabische Sicht zu übernehmen, wonach die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten abzulehnen seien.

Während die Unterstützung für Israel in sicherheits- und außenpolitischen Belangen eine heilige Kuh blieb, haben amerikanische Präsidenten von Richard Nixon bis George W. Bush in zunehmendem Maße Israels Umgang mit den anderen seit Juni 1967 besetzten Gebieten kritisiert. Es war Sadats Regierung, die Israels Siedlungspolitik angeprangert und Präsident Carter davon überzeugt hatte, diese Ansicht zu übernehmen, die seitdem alle amerikanischen Präsidenten beibehalten haben. Sadats Politik ließ das besondere israelisch-amerikanische Verhältnis anfällig werden für Spannungen und Zerwürfnisse. Indem er diplomatische Mittel für die Befreiung des Sinai ausarbeitete, veränderte Sadat das Wesen der israelisch-amerikanischen Beziehungen.

Wie Israels Gründungsministerpräsident, David Ben Gurion, wusste Sadat,wie man taktische Entscheidungen trifft, die zu den gewünschten strategischen Ergebnissen führen. Seine politischen Optionen schienen in einem endlosen Wandel begriffen zu sein, doch er hielt an seinen Zielen fest. Listig, verschlossen, impulsiv und ungeduldig vermittelte er Außenstehenden das Bild der Unvorhersehbarkeit. Er spielte gleichzeitig auf mehreren Instrumenten, um ein und dasselbe Ziel zu erreichen. Er offenbarte keinem seiner Berater je alle Optionen, die er jeweils gleichzeitig verfolgte, und doch wiegte er viele von ihnen in dem Glauben, dass sie es seien, die die wesentlichen Entscheidungen träfen. Sadat war ein Meister politischer Überraschungen: der unerwartete Rauswurf der sowjetischen Experten im Juli 1972, der Beginn des Oktoberkriegs im Jahr 1973, die Jerusalem-Reise im November 1977 und die Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Israel.

Die Förderung der Nationalinteressen Ägyptens durch Sadat fand in einer Umwelt statt, die voll von unüberwindlichen Herausforderungen schien. Nichts aber konnte seine Initiativen stoppen, Hindernisse konnten sie nur verzögern. Er war weder naiv hinsichtlich seiner beschränkten militärischen Potenziale gegenüber Israel noch unrealistisch bezüglich Washingtons Bereitschaft, Israels Sicherheit zu wahren. Deshalb wählte er eine militärische Option, die nur das minimale Risiko eines Fehlschlags barg: Am 6. Oktober 1973 griff er zusammen mit Syrien Israel an. Nachdem seine Streitkräfte die nur schwach verteidigten Bunker entlang des Ostufers des Suez-Kanals überwunden hatten, stoppten sie im Großen und Ganzen. Durch diesen Halt signalisierte er Washington, dass er Verhandlungen, nicht unbeschränkte Gewalt, nutzen würde, um die Befreiung des Sinai zu erreichen. Wenn Sadat versucht hätte, tief in die Halbinsel vorzustoßen, wäre er nicht nur Gefahr gelaufen, Tausende von Soldaten zu verlieren, sondern hätte auch sein Ziel aufs Spiel gesetzt, die Vereinigten Staaten zu einem aktiven Engagement in Verhandlungen zu verleiten.

Indem er militärische und diplomatische Optionen kombinierte, wahrte er eine Mittelposition im vollen Bewusstsein der politischen Zwänge, die seine Entscheidungen beeinflussten. Sadat bewegte sich in einem Umfeld, in dem die Ost-West-Spannung die Aufrechterhaltung des Status quo in Konkurrenzgebieten wie dem Nahen Osten erforderlich machte. Ihm war – wie seinem Vorgänger – auch klar, dass, wenn er sich als Klient in einer bipolaren Supermachtwelt um ein gewisses Maß an Schutz und Unterstützung von der einen Seite bemühte, es einen Schwall von konkurrenzfähigen Angeboten der anderen Seite geben könnte. Was Washington und Moskau anging, so hatten sie sich für Entspannung als einer Unterbrechung des Kalten Krieges entschieden, um Konfrontationen zwischen Ost und West zu vermeiden. Entspannung erforderte eine genaue Überwachung des Verhaltens von Klienten, Stellvertretern und Verbündeten, weil sonst leicht unvorhergesehen Umstände auftreten konnten wie etwa eine ungewollte atomare Konfrontation.

Kriegsziele 1973

Der ägyptische Präsident hatte überdies eingesehen, dass Entspannung für Washington auch bedeutete, arabische Staaten aus der Umlaufbahn um die Sowjetunion heraus zu bringen. Sadat manipulierte gekonnt seine arabische Umwelt. Er plante den Krieg mit Syrien in dem Wissen, dass er einen Zwei-Fronten-Krieg brauchte, um mit einer begrenzten militärischen Leistung, die nach der Überquerung des Suez-Kanals abgebrochen wurde, einen Erfolg zu erringen. Während Syrien einen umfassenden Sturmangriff über den Suez-Kanal erwartete, teilte Sadat diese Vorstellung seines Verbündeten überhaupt nicht, was zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen dem syrischen Staatspräsidenten, Hafez al-Assad, und Sadat führte. Sadat warb vor dem Krieg erfolgreich um die Unterstützung arabischer Ölförderländer für ein Embargo gegen die USA, das er nach dem Krieg als einen Hebel nutzte, um Kissinger auch zu einem persönlichen Eingreifen für die Durchführung des Abzugs der Israelis von den Golan-Höhen zu bringen. Zwar weigerte sich Kissinger, dies offiziell anzuerkennen, doch hing die Beendigung des Ölembargos direkt von seiner Verpflichtung ab, in den quälend schwierigen israelisch-syrischen Verhandlungen eine Mittlerrolle zu übernehmen. Sadat verwies auf das israelisch-syrische Disengagement-Abkommen vom Mai 1974 als einen „Beweis“, dass nicht er allein mit Israel Abkommen unterzeichne, sondern dies unter dem Schirm gemeinsamer arabischer Aktion für die Befreiung arabischer Gebiete tue. Syrien ließ sich natürlich von den unaufrichtigen Gefühlsäußerungen nicht beeindrucken. Indem es die PLO als einzige legitime Vertretung des palästinensischen Volkes auf dem Arabischen Gipfeltreffen von Rabat im Jahr 1974 förderte, stand es fest hinter dem emotionalen Kernanliegen der panarabischen Sache.

Und dennoch war Sadat der Schlaue, denn er hatte verstanden, dass Israel nicht mit der PLO verhandeln würde. Das bedeutete, dass die PLO, solange sie der einzige legitime Sprecher des palästinensischen Volkes war, weiter Reibungen zwischen Jordanien und der PLO erzeugen würde, Reibungen, die die Verhandlungen auch weiterhin auf die ägyptischen Erfordernisse konzentrieren würden. Überdies dachte Sadat völlig zu Recht, das Israel nicht bereit sein würde, über die Zukunft der West Bank, Jerusalems oder der Golan-Höhen zu verhandeln, was erneut Kairo als einzige Adresse für Bewegung in Verhandlungen übrig lassen würde. Als Präsident Carter immer dringlicher wünschte, eine umfassende Lösung für den palästinensisch-israelischen Konflikt zu finden, und seine Bemühungen sich in der Frage der Vertretung der Palästinenser auf einer derartigen Konferenz festgefahren waren, erschütterte Sadat den Status quo, ging direkt nach Jerusalem und lenkte die Aufmerksamkeit der Diplomatie wieder zurück auf sein eigenes Ziel: die Wiedergewinnung des Sinai.

Sadat plante und führte 1973 den Oktoberkrieg, um Ägypten von den anderen arabischen Staaten abzuheben. Er sagte seinem Generalstabschef, General Abdul Gani al-Gamasy, dass „dieser Krieg nicht für die Palästinenser oder andere Araber war, sondern für Ägypten“. Er strebte eine begrenztere Schlacht an, um den USA Druck zu machen, so dass Kissinger aufmerksam werden, eingreifen und schließlich Israels Abzug vom Sinai erreichen würde. Vor dem Krieg von 1973 sagte er Said Rifai, dem politischen Berater des jordanischen Königs Hussein und später dessen Premierminister, dass er den Krieg für Bewegung, nicht für Befreiung beginnen werde. Dagegen sagte der damalige syrische Außenminister, Abdel Halim Khaddam: „Für Syrien war es ein Befreiungskrieg, kein Krieg zur bloßen Bewegung. Die Kriegsziele waren die Befreiung der Golan-Höhen und des Sinai.“ Während der Verhandlungen im Jahr 1974 über gegenseitigen Truppenrückzug mit den Israelis unter amerikanischer Schirmherrschaft sagte Sadat seinen Stabschef: „Ich mache Frieden mit den USA, nicht mit Israel.“ Ein Friedensschluss mit Israel war für Sadat kein vorrangiges Ziel, sondern es wurde ein notwendiger, wenn auch ungewollter Kompromiss. Osama el-Baz zufolge, einem damals jungen Mitarbeiter im ägyptischen Außenministerium, der jetzt ein Berater des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak ist, bestand Sadats Konzept für einen Frieden mit Israel in einer Mischung aus Nichtkrieg, der Öffnung des Suez-Kanals, der Beendigung des arabischen Boykotts im Tausch für die Rückgabe des gesamten Sinai und entsprechenden Sicherheitsabkommen, vorausgesetzt, sie würden im Einklang mit der international anerkannten Grenze zwischen Ägypten und Israel stehen.

Soweit heute bekannt ist, wusste Sadat vor dem Oktoberkrieg nicht, dass Kissinger alles Nötige tun würde, um sein Regime vor einem Sturz zu bewahren und um einen diplomatischen Prozess einzuleiten. Allerdings war ihm bekannt, dass Nixon und Kissinger Moskau als einen wichtigen Mitspieler im Nahen Osten hinausdrängen wollten. Dennoch spielte Sadat ein gefährliches Spiel, als er die Stabilität der Entspannung herausforderte und darüber hinaus Gefahr lief, dass Ägypten eine überwältigende militärische Niederlage durch die deutlich überlegenen israelischen Streitkräfte nicht aushalten würde.

Pragmatismus

Keine lebensumstürzenden Visionen hatten Sadat heimgesucht, die ihn zum Zionisten oder Israel-Freund hätten werden lassen. Es war sein Pragmatismus, der ihn akzeptieren ließ, was eigentlich tabu und nicht hinnehmbar war. Als er Jimmy Carter auf ihrem ersten Treffen in Washington im April 1977 mitteilte, dass er bereit sei, den Kriegszustand mit Israel zu beenden, nicht jedoch, Israel anzuerkennen, sagte Carter deutlich, dass Sadat nur dann den ganzen Sinai zurückbekommen würde, wenn er dafür im Gegenzug Israel offiziell anerkenne. Der ägyptische Präsident lenkte schließlich ein und sagte Carter im Vertrauen – wie dieser mir in einem Interview mitteilte –, dass Ägypten eine gesonderte Vereinbarung unterzeichnen würde, ohne vorher die Palästina-Frage endgültig gelöst zu haben oder sich um Jordaniens Weigerung, an Folgeverhandlungen teilzunehmen, zu kümmern.

Sadat betrachtete die Unterzeichnung des Abkommens von Camp David im Jahr 1978 und seinen Vertrag mit Israel im März 1979 als Zwischenschritte auf dem Weg zu Israels vollständigem Rückzug aus allen seit 1967 besetzten Gebieten. Die Abmachungen enthielten drei Teile: eine Präambel, die ausdrückte, dass die Aufnahme von ägyptisch-israelischen Beziehungen enden würde mit einem „gerechten, umfassenden und dauerhaften Frieden“ im Nahen Osten durch den Abschluss von Friedensverträgen, mit einem Palästinenser-/Westbank-Teil, der die „legitimen Rechte des palästinensischen Volkes“ anerkannte und ein Verfahren vorsah, um „volle Autonomie … mit einer Selbstverwaltungs-Körperschaft innerhalb von fünf Jahren zu errichten“.

Obwohl keine spezifische israelische Verpflichtung auf einen vollständigen Abzug aus der Westbank, dem Gaza-Streifen und Jerusalem, die Beseitigung der Siedlungen oder Vorkehrungen für eine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge erwähnt worden war, sollte die palästinensische Selbstverwaltungs-Körperschaft die israelische Zivilverwaltung ablösen. Die vorgeschlagenen palästinensischen Wahlen sollten der Auslöser sein für die Einleitung des Abzugs der israelischen Zivilverwaltung. Der dritte Teil der Abkommen skizzierte den Charakter der ägyptisch-israelischen Beziehungen, einschließlich der Beendigung „aller Akte oder Drohungen der Kriegführung, Feindseligkeit oder Gewalttätigkeit gegen den anderen, [der Herstellung] normaler Beziehungen und von Zusammenarbeit zwischen den Ländern, Beendigung des Kriegszustands, gegenseitige Anerkennung der Souveränität, territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit des jeweils anderen und unabhängig von jeglichem zu diesem Vertrag nicht gehörenden Instrument“ – was bedeutet, dass Ägypten selbst bei einem Angriff Israels auf einen anderen arabischen Staat diesem nicht ohne Bruch dieses Vertrags zu Hilfe kommen könnte.1

Die Unterzeichnung des Vertrags mit Israel bedeutete jedoch keineswegs, dass Sadat sich weniger verpflichtet gefühlt hätte, einen umfassenden Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten zu erreichen oder damit aufzuhören, die palästinensische Selbstbestimmung und die Schaffung eines palästinensischen Staates zu fordern. Genauso wenig hatten Sadat oder sein Nachfolger Mubarak einen „warmen“ Frieden mit Israel im Sinn. Im Gegenteil, Ägypten tat nur das Nötigste in seinen kulturellen, diplomatischen und politischen Kontakten mit Israel, um den Vertrag einzuhalten und nicht die Wirtschaftshilfe aus Washington zu gefährden, die seither geflossen ist. Wenn man es in historischer Perspektive sieht, unterschied sich Sadats Definition eines Friedens mit Israel, die er 1973 gegeben hat, nicht sehr von dem kalten Frieden, den er und seine Nachfolger in der Tat verfolgt haben. In den achtziger und neunziger Jahren trat Ägypten weiter für die palästinensische Sache ein und erwarb sich den Status eines Unterhändlers zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Führung. In den späten siebziger Jahren sahen Sadats arabische Genossen seinen Vertrag und die Beziehung mit Israel anders: sie beschuldigten ihn, die ägyptischen Interessen an die erste Stelle zu setzen und die arabische Konsensposition „keinen Frieden, keine Verhandlungen, keine Anerkennung“ bezüglich Israel aufgegeben zu haben. Und dennoch hatte Ägypten bis Ende der achtziger Jahre in der innerarabischen Politik seinen Platz wieder eingenommen. Sadat hatte den Präzedenzfall geschaffen, dass ein Frieden mit Israel möglich war, doch das bedeutete keineswegs auch warme und angenehmer Gefühle gegenüber diesem Land.

Anfang der siebziger Jahre erzürnte und erboste das Patt von „kein Frieden, kein Krieg“ Sadat. Krieg schien die beste, ja die einzige Möglichkeit zu sein, um Washingtons Aufmerksamkeit zu erregen und innenpolitische Kritiker zum Verstummen zu bringen. In den israelischen Führungspolitikern, mit denen er sich auseinander zu setzen hatte – Yitzhak Rabin, Menachem Begin und Moshe Dayan – fand er Gegenüber, die ihrer nationalen Sache genau so ergeben waren und schon in den vierziger Jahren gegen die Briten gekämpft hatten. Zwar trauten sie Sadat nicht über den Weg, doch hatten sie sich verpflichtet, seine Absichten auf die Probe zu stellen im Hinblick auf den Schutz israelischer Leben und der Sicherheit des Staates. Sadat wusste, was er wollte, nämlich die Rückgabe des Sinai, und die israelischen Politiker wussten bei jeder Wendung, dass die Neutralisierung der militärischen Rolle Ägyptens machbar und notwendig war. Wenn sie das erreichten, würden sie die Lebensfähigkeit Israels und seine Bewohner schützen. Im Interesse dieser Ziele waren sie bereit, fast die ganze Sinai-Halbinsel zurückzugeben, und schließlich haben dies israelische Regierungen, auch als Sadat bereits tot war, getan. Sadat, der Führer des bevölkerungsreichsten arabischen Staates, hatte Israel die Anerkennung verschafft, nach der sich dieses so lange gesehnt hatte. Diese Sehnsucht nach Akzeptanz und Sicherheit bleiben mächtige israelische Ziele, die nur die arabische Seite erfüllen kann.

Kompromisslosigkeit

Bei einem Vergleich ließe sich natürlich sagen, dass die Palästinenser eine ähnliche strategische Wahlmöglichkeit, wie sie Sadat zwischen einer Annäherung seines Landes an Washington oder an Moskau im Kalten Krieg hatte, niemals besaßen. Allerdings könnte man sagen, dass in den mehr als zehn Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, insbesondere seit Präsident Bushs Befürwortung eines palästinensischen Staates im Juni 2002,2 die Palästinenser uneingeschränkte Unterstützung genießen, sei es aus Washington, sei es aus Moskau, der Europäischen Union, den Vereinten Nationen, eben den Mitgliedern des so genannten Quartetts, die die „Roadmap“ für einen Weg aus der tagtäglichen Gewalt entworfen haben. Anders als noch vor einem Vierteljahrhundert sieht Washington heute die Befürwortung eines palästinensischen Staates als einen Weg, antiamerikanische Gefühle in der muslimischen und arabischen Welt abzubauen. Und trotzdem beharrt die palästinensische Führung auf der Position, die sie konstant seit über achtzig Jahren bezieht: keine langfristigen strategischen Konzessionen an den Zionismus oder an Israel zu machen.

Das ist eine kompromisslose Haltung des „Alles-haben-wollens“, eine Politik, die heute keine Kompromisse für eine bessere Zukunft macht. Dieser Mangel an Mäßigung, Realismus und politischem Mut hat zu schmerzhaften Verlusten geführt, einschließlich eines Zuwachses bei den jüdischen Siedlern im Westjordanland und dem Gaza-Streifen von weniger als 5000 im Jahr 1973 zu mehr als 220000 heute. Die palästinensische Gewalt seit der zweiten Intifada, die im Herbst 2000 begann, hat kein klares politisches Ziel, keines, das vergleichbar wäre mit dem Sadats vor 25 Jahren. Der Preis dieser Unnachgiebigkeit ist eine zunehmende Zahl an Toten auf palästinensischer wie israelischer Seite, eine Verschlechterung der verarmten Volkswirtschaft im Westjordanland und im Gaza-Streifen und die sinkende Zustimmung eines großen Teiles der israelischen öffentlichen Meinung, die einmal die Schaffung eines palästinensischen Staates befürwortet hatte. Einzeln und zusammen haben viele arabische Staaten die palästinensische Führung, insbesondere Yasser Arafat, gedrängt, eine weniger widerspenstige Haltung einzunehmen. Aber Arafat ist ein Mensch, der die Improvisation und das Kurzfristige liebt, kein Mensch der Strategie und klaren Ziele, wie Yezid Sayigh, ein palästinensischer Politikwissenschaftler vor zwei Jahren gezeigt hatte.3 Arafat praktiziert die Politik des persönlichen Überlebens, die darin besteht, dass Entscheidungen und Maßnahmen immer mehr auf sich selbst und sein politisches Überleben ausgerichtet sind und immer weniger auf das Schicksal Palästinas.

Arafat befindet sich in einer Sackgasse, in die er sich zum großen Teil durch versäumte Entscheidungen hineinmanövriert hat, und ist dabei Tag für Tag einer Vielzahl von Bedrohungen ausgesetzt: er kann durch Israel ermordet oder ausgewiesen werden, er kann von Washington zum Paria ernannt werden, es könnte zu einer Revolte innerhalb der gemäßigteren Teile seiner Fatah-Partei, der Mehrheitsfraktion der PLO, kommen, es könnten Abwanderungsbewegungen seiner Anhänger zu den radikaleren islamistischen Gruppen stattfinden, und nicht zuletzt könnten die alteingesessenen Bewohner des Westjordanlands und des Gaza-Streifens verzweifeln, weil Gelder und Verträge statt zu ihnen an Arafat-Getreue in Tunis weitergeleitet werden. Trotz der Rettungsanker, die ihm das Quartett und arabische Führungspolitiker immer wieder zugeworfen haben, hat er sich bis heute geweigert, einzulenken und Mut und politischen Willen zu demonstrieren. Ideologische Engstirnigkeit hat ihn daran gehindert, die Lehren aus der heutigen unipolaren Welt – insbesondere nach dem 11. September 2001 – zu ziehen, in der Terroristen zu Gesetzlosen und zu Parias der zivilisierten Welt geworden sind.

Was könnten die Palästinenser in einem palästinensischen Staat heute alles haben, hätten sie die Autonomie im Jahr 1978 nicht abgelehnt? Wie viele Leben wären verschont geblieben? Wie viel Geld hätte gespart werden können? Zwei ihrer Sache gleichermaßen ergebene arabische nationalistische Führungspersönlichkeiten haben zwei sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielt.

Anmerkungen

1  Vgl. die Texte in: Europa-Archiv, 2/1979, S.D 47 ff., und 9/1979, S. D 235 ff.

2  Vgl. die Rede des amerikanischen Präsidenten, George W. Bush, zum Nahost-Konflikt am 24. Juni 2002 in Washington, abgedruckt in: Internationale Politik, 12/2002, S. (D) 73 ff.

3  Vgl. Yezid Sayigh, Arafat and the Anatomy of a Revolt, in: Survival, Nr. 3/Herbst 2001 (43. Jahrgang), S. 47 ff.