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01. Sep 2013

Ankunft in der Realität

China zwischen Traum und Wirklichkeit einer neuen Weltordnung

Die chinesische Führung hat einen neuen außenpolitischen Slogan: den „chinesischen Traum“. Dieser steht symbolisch für den Anspruch, einen zentralen Platz im internationalen System einzunehmen. Zugleich treiben Pekings außenpolitische Denker Überlegungen für die Reform der globalen Ordnung um – auch jenseits ideologischer Formeln.

Zu den ersten Amtshandlungen Xi Jinpings in seiner Funktion als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas gehörte der Besuch einer Ausstellung im chinesischen Nationalmuseum mit dem Titel „Der Weg des Wiederaufstiegs“. Der Topos des Aufstiegs zu altem Glanz und neuer Stärke durchzieht als roter Faden die chinesische Geschichte. Jede politische Führungsgeneration greift darauf zurück und schreibt eine neue Varia­tion des Themas.

Der Slogan des „chinesischen Traums“, den Xi Jinping nun ins Spiel gebracht hat, dient hierbei als Projektionsfläche für die diversen Wünsche und Erwartungen, die die Gesellschaft umtreiben. Es ist ein gemeinsamer Traum von Reichtum und Wohlstand, wobei die Vorstellungen divergieren, wie dieser zu erreichen sei. „Was ist der chinesische Traum? Für mich ist die Wiederentstehung der chinesischen Nation der größte Traum unserer Nation seit dem Beginn der Neuzeit. In diesem Traum sind die Wünsche mehrerer Genera­tionen enthalten. Er steht für die gesammelten Interessen des ganzen chinesischen Volkes. Er ist unser gemeinsamer Traum“, unterstrich Xi Jinping.

Der chinesische Traum kann aber nicht nur als Oberbegriff für ein nationales Wohlstands- und Entwicklungsmodell gedeutet werden. Er steht auch für den Anspruch nach gleichberechtigter Teilnahme, Mitsprache und Mitgestaltung der Weltpolitik. Implizit umfasst dieser Traum folglich auch Vorstellungen, wie die Welt idealiter beschaffen sein und wie China sich innerhalb dieser Strukturen positionieren sollte. Bei der Konzeption dieser reformierten Ordnung bindet China symbolisch die Staaten des Globalen Südens ein. So präsentierte Xi Jinping bei seinen Reisen nach Russland und Afrika den chinesischen Traum als universelle Zukunftsutopie der Weltgemeinschaft.

Selbst- und Weltbilder im Umbruch

Dabei zeichnet sich im chinesischen weltpolitischen Denken in jüngster Zeit gleichzeitig eine Wende hin zur kritisch-realistischen Analyse der realen Machtverhältnisse ab. Die Ideen einer harmonischen Weltordnung und einer harmonischen Gesellschaft, bei denen konfuzianische Vorstellungen eines Goldenen Zeitalters auf das 21. Jahrhundert übertragen wurden und als zentrale Slogans der Regierung Hu Jintaos dienten, werden in den politischen Stellungnahmen der neuen Führung zwar weiterhin referiert. Insgesamt aber finden sich in der innerchinesischen akademischen Debatte gegenwärtig weit mehr Analysen konkreter außenpolitischer Ereignisse als ideologisch gestützte Exegesen außenpolitischer Formeln.
Weiterhin operieren chinesische Wissenschaftler allerdings mit einem stark idealisierten Selbstbild Chinas, das sich nicht auf eine einzige Identität reduzieren lässt, sondern verschiedene, durchaus widersprüchliche Narrative in sich vereint. Jede von diesen folgt einer eigenen Logik und hat konkrete Implikationen für Chinas diplomatische Argumentationsmuster. Zhang Weiwei, der in den achtziger Jahren als Dolmetscher des Wirtschaftsreformers Deng Xiaoping arbeitete und zu den führenden Verfechtern eines „chinesischen Modells“ zählt, hat in seinem Bestseller „The China Wave“ ausgeführt, dass China nicht einfach als ein Staat, sondern als eine Zivilisation mit eigenen Entwicklungsspezifika zu sehen sei. Westliche Modellbilder wären folglich nicht übertragbar, ebenso würden Theorieannahmen, die sich auf „Staaten“ beziehen, bei der Anwendung auf China an die Grenzen ihrer Deutungskraft stoßen.

Zugleich aber dominiert in der offiziellen Selbstwahrnehmung Chinas die Identität als Entwicklungsland. So wird bei internationalen Abkommen stets darauf verwiesen, dass China sich noch in einer Phase der nachholenden Entwicklung befinde. Folglich könne das Land nicht die gleichen Kosten und die gleiche Verantwortung tragen wie die reichen Industrienationen. Parallel hierzu aber wird auch formuliert, dass China ein sozialistischer Staat sei, der gegenwärtig einen Wiederaufstieg zu seiner einstigen Machtposition als „tianxia“, als Großmacht und Zentrum der zivilisierten Welt, durchlaufe. Wenngleich China in Anbetracht seines rasanten ökonomischen Aufstiegs zumindest aus westlicher Sicht eigentlich eher als Großmacht denn als Entwicklungsland einzustufen wäre, hält doch China formal weiterhin an diesem noch auf die maoistische Phase zurückgehenden hybriden Selbstbild fest.

Machtverlust der USA als Dilemma

Diverse einheimische Studien widmen sich gegenwärtig der Konzeptualisierung Chinas in einem sich wandelnden internationalen Umfeld. Besondere Aufmerksamkeit wird dem Dilemma geschenkt, das aus einem relativen Machtverlust der USA resultieren würde. China sieht sich derzeit nicht in der Lage, an die Stelle der USA zu treten und ein mögliches Machtvakuum zu füllen. Auch eine G-2-Ordnung, in der China gewissermaßen als Juniorpartner der USA aufträte, wird abgelehnt. Multipolarität gilt weiterhin als unerreichtes Idealmodell einer globalen Ordnung.
Gewissermaßen als Kompromiss zwischen ideologischen Grundkonzepten und außenpolitischer Realität findet sich gegenwärtig in China der Ansatz, die Weltordnung mit dem Slogan „Viele Großmächte, eine Supermacht“ zu beschreiben. In diesem Modell sind die USA weiterhin zentraler Akteur, die Weltpolitik wird jedoch, dem Anspruch nach, von einer Vielzahl an Staaten mitgestaltet.

Mit jedem Schritt, der China tiefer in das Geflecht der globalen Interaktionen eintreten lässt, erhöht sich der Druck, Weltordnungsmodelle zu entwerfen, die nicht nur symbolisch die Haltung der chinesischen Regierung in bestimmten Fragen legitimieren, sondern auch aktiv zur globalen Problemlösung beitragen. Mit Chinas artikuliertem Anspruch auf Mitsprache geht auch die Verpflichtung zur konstruktiven Mitgestaltung einher.

Chinesischen Think-Tanks ist bewusst, dass China nicht länger die bestehenden Strukturen kritisieren kann, ohne umsetzbare Alternativen vorzubringen. Mit Blick auf die Weltpolitik bedeutet dies aber, dass Konzepte formuliert werden müssen, die von der Mehrheit der Staaten befürwortet werden und nicht dezidiert aus einer chinesischen Perspektive heraus entwickelt worden sind. Dennoch reflektieren auch diese „globalen“ Modelle zwangsläufig Chinas systemspezifische Strukturen: So werden Interaktionsprinzipien, die auf demokratisch-liberalen Ordnungsvorstellungen beruhen, in der chinesischen Debatte kategorisch abgelehnt.

Globalmacht-Ambitionen?

Erste Vorstöße der Volksrepublik China, die eigenen Interessen und Gestaltungsideen aktiver in die globale Debatte einzubringen, finden sich insbesondere im Bereich der globalen Finanzordnung. China verfügt mit seinem rapiden Wirtschaftswachstum und den immensen Devisenreserven in Höhe von 2,5 Billionen Euro über ein durchaus ernstzunehmendes Verhandlungspotenzial in den Debatten über die Ausgestaltung des globalen Finanzsystems. Die Wahrnehmung Chinas in den Augen der westlichen Staatengemeinschaft hat sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise deutlich gewandelt; die Erwartungen, dass China als Retter in der Euro-Krise fungieren und die Weltwirtschaft stabilisieren könnte, waren in politischen Stellungnahmen nahezu omnipräsent.

Da alle Staaten, auch die der nördlichen Welthalbkugel, aufgrund der bestehenden gegenseitigen Abhängigkeiten ein konkretes Interesse an einer schnellen Restabilisierung des globalen Finanzsektors haben, sind in diesem Teilbereich der globalen Politik durchaus neue Kompromisse und Umstrukturierungen zu erwarten. Ohne die Beteiligung Chinas, das mittlerweile zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht und zum größten Gläubiger der USA avanciert ist, wird sich keine Lösung finden lassen. Das aber wirft die Frage auf: Welche Ziele verfolgt die VR China? Welche Grundüberlegungen prägen ihre Positionierung in den Verhandlungen über eine Reform der internationalen Finanzinstitutionen?

Bereits im März 2009 hatte der Leiter der chinesischen Nationalbank, Zhou Xiaochuan, für die Ablösung des Dollars als internationale Leitwährung und die Schaffung einer neuen, supranationalen Währungseinheit plädiert. Dieser Vorstoß ist auch beim ersten Gipfeltreffen der BRIC-Staaten im Juni 2009 aufgegriffen worden, die eine Reform der Bretton-Woods-Institutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank) einforderten. Auf dem BRICS-Gipfel 2013 im südafrikanischen Durban einigten sie sich grundsätzlich auf die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank, gedacht als Alternative zur Weltbank.

Im Unterschied zu dieser soll die Vergabe von Krediten, so die von China vorgelegte Praxis, aber ohne Konditionen und unabhängig von den politischen und ideologischen Systemstrukturen in den Empfängerländern erfolgen. Durch diesen Schritt verdeutlichten die BRICS-Staaten symbolisch, dass sie sich nicht an die normativen Vorgaben des „Washington Consensus“ anlehnen. Eine Substitution der bestehenden Institutionen durch diese Alternativstrukturen ist jedoch nicht abzusehen.

Etappenziel: Mitsprache

China arbeitet nicht auf einen radikalen Umsturz der bestehenden Finanzarchitektur hin, sondern – und dies ist gewissermaßen die erste Dimension des chinesischen Traums – strebt zunächst einmal eine angemessene, der wirtschaftlichen Stärke des Landes entsprechende Mitsprache bei weltpolitischen Fragen und bei der Ausgestaltung der globalen Ordnung an. Erste Erfolge konnte China mit der 2010 vereinbarten Quotenreform des IWF für sich verbuchen. Sobald diese Quotenneuregelung umgesetzt ist, wäre China hinsichtlich Kapitaleinlagen und Stimmrechten der drittwichtigste Mitgliedstaat des Fonds. Zudem sind seit dem Jahr 2008 chinesische Wirtschaftswissenschaftler in stellvertretende Führungspositionen bei IWF und Weltbank aufgerückt, was nicht zuletzt ein neues Eingeständnis der sich abzeichnenden Machtverschiebungen durch die westliche Staatengemeinschaft widerspiegelt. Zugleich eröffnet dies Möglichkeiten, chinesische Ordnungsvorstellungen in internationalen Organisationen zu verankern. Justin Yifu Lin, der von 2008 bis 2012 als Vizepräsident der Weltbank fungierte, gilt nicht nur als Chefkonstrukteur der ökonomischen Entwicklungsstrategie Chinas, sondern hat seine wirtschaftstheoretischen Grundüberlegungen auch in die Weltbank eingebracht. Er argumentiert, dass Schocktherapien zum Scheitern verurteilt seien, wie das Beispiel der Sowjetunion belege, und der einzig adäquate Weg für die Entwicklungsländer in einer Kombina­tion aus Kapitalismus und staatlicher Planung bestehe.

Die verstärkte Sichtbarkeit Chinas in den internationalen Finanzinstitutionen ist einerseits den Umbruchprozessen im internationalen System geschuldet. Andererseits ist sie aber auch Ausdruck erster Erfolge der strategischen Überlegungen chinesischer Think-Tanks zur Frage der globalen Positionierung des Landes. In den vergangenen Jahren sind Schritte zur Steigerung der globalen finanzökonomischen Stärke des Landes intensiv diskutiert worden. Kern der neuen Strategie ist die Internationalisierung der chinesischen Währung. Grenzüberschreitender Handel soll verstärkt in Renminbi abgewickelt werden, in Hongkong ist ein „Offshore“-Markt für Renminbi aufgebaut worden, China hat Swap-Abkommen mit ausgewählten Partnern abgeschlossen. In der Forschung zu Aufstieg und Fall von Großmächten wird eine direkte Kopplung zwischen der internationalen Verbreitung einer Währung und der globalen Bedeutung des Staates angenommen, der diese ausgibt. In diesem Sinne hätte China bereits einen, wenn auch noch zögerlichen Kurs in Richtung Globalmacht eingeschlagen.

Strategische Widersprüche

Chinas „Going-global“-Strategie bedingt, dass die politische Führung nun vor neuen Herausforderungen steht. So hat Peking begonnen, auf Krisen in Konfliktregionen jenseits des asiatisch-pazifischen Raumes zu reagieren. Seit 2009 beteiligt sich Peking zur Sicherung seiner Energietransporte mit eigenen Marineschiffen an der Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Eine aktive „Einmischung“ Chinas in die innenpolitischen Entwicklungen und Angelegenheiten anderer Staaten jedoch stünde im Widerspruch zu den in den fünfziger Jahren fixierten „Fünf Prinzipien der Friedlichen Koexistenz“, auf die sich die chinesische Außenpolitik offiziell weiterhin stützt.

Wenn sie aber ihre Rohstoffversorgung langfristig sicherstellen und die Sicherheit ihrer im Ausland tätigen Arbeiter und Unternehmer gewährleisten möchte, so führt auch für China kein Weg an einer Neukonzeptualisierung des Interventionsgedankens vorbei. Humanitäre Interventionen, so ein derzeit in China diskutierter Vorschlag, sollen dann erlaubt sein, wenn sie der Wiederherstellung der Ordnung dienen und der betroffene Staat diesen zustimmt.

Diese Einschränkung des „Responsibility to Protect“-(R2P)-Gedankens – der ja eigentlich die Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft zum Eingreifen auch gegen den Willen des betroffenen Staates vorsieht – zeigt einmal mehr, dass die in China diskutierten Ordnungsmodelle die normativen Grundprinzipien der internationalen Politik nicht unhinterfragt übernehmen.

Chinas spätes Nachdenken über die Berechtigung humanitärer Interventionen ist nicht im luftleeren Raum entstanden: Aus primär strategischen Überlegungen heraus hat China beispielsweise die Interventionen der internationalen Staatengemeinschaft in Libyen ermöglicht. Genau genommen stand und steht dies aber im direkten Widerspruch zu Chinas Grundprinzip der Nichteinmischung. Insofern dient die theoretische Reflexion über Interventionen der rückwirkenden Legitimation dieses Schrittes, wobei die „neue“ chinesische Auslegung des R2P-Gedankens zugleich nicht so weitgehend sein darf, dass sich hieraus ein Interventionszwang in der Syrien-Frage ableiten ließe.

Neuer Sinn für Realitäten

Aus Chinas aktiverer Rolle im globalen System ergeben sich Handlungszwänge und Handlungsbeschränkungen für die Außenpolitik, die eine Neubestimmung der chinesischen Strategie erfordern. Chinesische Think-Tanks diskutieren derzeit, wie sich die Volksrepublik im Sinne der Wahrung ihrer nationalen Interessen aktiver po­sitionieren könnte, ohne hierdurch das Misstrauen der internationalen Staatengemeinschaft zu wecken und neue Bedrohungsszenarien heraufzubeschwören. Eine wenig kommentierte, aber einschneidende Entwicklung in Chinas Außenpolitik ist die aktive Teilnahme an Netzwerken und multilateralen Verhandlungsrunden wie den BRICS-Gipfeltreffen und den ­G-20-Runden. Dies könnte eine Taktik sein, um chinesische Interessen zu internationalisieren, scheint jedoch zugleich ein Eingeständnis zu sein, dass globale Politik nicht auf bilateraler Ebene allein gestaltet werden kann.

Doch nicht nur China ist mit Blick auf die Formulierung seiner Konzep­tion der Weltpolitik langsam in der Realität angekommen. Spätestens mit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise haben auch die Weltbilder des Westens einen Realitätsschock erfahren. Bei der zukünftigen Ausgestaltung der globalen Finanzordnung wird es deshalb auch darum gehen, Utopien und überkommene Weltbilder aufzugeben und die Positionen Chinas und Europas neu zu bestimmen.

Dr. Dr. Nele Noesselt ist Sprecherin des -Forschungsteams -„Vergleichende Regionalismusforschung“ am GIGA Institut für Asien-Studien in Hamburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 100-105

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