Pekings Ideengeber
In der chinesischen Außenpolitik spielen Think-Tanks eine immer größere Rolle
Vielen gilt die chinesische Außenpolitik als ideologisch motiviert und dogmatisch erstarrt. Tatsächlich setzt die Führung in Peking auf kritische Analysen und pragmatische Flexibilität. In chinesischen Denkfabriken wird dabei immer stärker auf eigene Modelle eines zukünftigen Weltsystems und auf Mitspracherechte bei dessen Gestaltung gepocht.
Lange bevor die Namen der neuen Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros bekanntgegeben waren, dominierte eine Frage die internationale China-Debatte: Welche Auswirkungen würde der bevorstehende Führungswechsel auf die Positionierung Chinas im internationalen Machtgefüge haben? Einige Analysten prophezeiten eine radikale Neuausrichtung: Peking werde in der Außenpolitik einen offensiveren, nationalistischen Interessen verpflichteten Kurs einschlagen.
Wandel durch Anpassung
Dabei sind diese und ähnliche Spekulationen über die möglichen Auswirkungen des Führungswechsels nicht nur verfrüht, sondern gehen auch von fehlerhaften Grundannahmen aus. In China gibt es keine offenen Wahlen mit Politikern, die konkurrierende Programme verfolgen. Loyalität, Linientreue und die Förderung durch einen Patron in den Führungsetagen der Partei entscheiden darüber, ob und wann jemand in die oberste Machtzentrale vorrückt. Führungswechsel, so sie als friedliche Machtübertragung vonstatten gehen, sind keine radikalen Wendepunkte in der chinesischen Politik.
Das heißt jedoch nicht, dass es grundsätzlich keinen Wandel der chinesischen Außenpolitik gegeben hat. Dieser ist aber nicht in erster Linie Folge des Aufstiegs einer neuen Führungselite, sondern entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Anpassung der chinesischen Strategie an ein sich veränderndes weltpolitisches Umfeld.
Die chinesische Außenpolitik gilt vielen als ideologisch geleitet. Dieses Bild ist jedoch längst von der Patina vergangener, maoistischer Zeiten überzogen. Seit dem Eintritt Chinas in die postmaoistische Phase – Mao Zedong starb 1976, 1978 verabschiedete das Zentralkomitee die Beschlüsse für marktorientierte Reformen und die Öffnung des Landes – stützt sich die politische Führungselite bei ihrer Entscheidungsfindung auf wissenschaftliche Analysen. Diese werden von Denkfabriken erarbeitet, die in den frühen achtziger Jahren umstrukturiert und professionalisiert wurden: An die Stelle marxistisch-leninistischer Textvorlagen trat die Auseinandersetzung mit „westlichen“ Theorien und Ordnungsvorstellungen im Bereich der internationalen Beziehungen. Die Analyse des außenpolitischen Handlungsspielraums Chinas, so Deng Xiaoping, sollte die erfolgreiche Durchsetzung chinesischer Interessen bei internationalen Verhandlungen ermöglichen. Keine sozialistischen Utopien, sondern knallharter faktenorientierter Realismus prägten die frühen postmaoistischen Strategiediskurse.
Konträre Denkrichtungen
Die chinesischen Think-Tanks sind heutzutage forschungsorientiert. Viele der vormals gegenüber dem Westen abgeschotteten Denkfabriken unterhalten heute einen regen Austausch mit internationalen Think-Tanks und Forschungseinrichtungen in aller Welt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die chinesischen Interpretationen der Weltpolitik nun deckungsgleich mit den „westlichen“ geworden wären. Drei konträre Grundausrichtungen prägen das Denken der verschiedenen Forschergenerationen: Die jüngeren Mitarbeiter chinesischer Think-Tanks sind stark von westlichen Weltbildern beeinflusst. Sie sind bestens vertraut mit den internationalen Theoriebildungen, oftmals haben sie zumindest einen Teil ihres Studiums an einer Universität in den USA oder in Europa absolviert. Die ältere Generation hingegen, die im maoistischen China sozialisiert wurde, ist marxistisch-leninistischen Vorstellungen verhaftet. Eine dritte Gruppe grenzt sich von beiden Strömungen ab. Sie propagiert eine „chinesische Sicht“ auf die Welt und tritt für die Übertragung innenpolitischer Konzepte und philosophischer Traditionen Chinas auf weltpolitischer Ebene ein. Insgesamt prägen Methodenpluralismus und Ideenvielfalt das Feld der chinesischen Forschung zu den internationalen Beziehungen.
Think-Tanks übernehmen über die von ihnen geführten Debatten eine Reihe politischer Funktionen. Sie filtern und interpretieren Informationen, legitimieren durch ihre Stellungnahmen mitunter auch die aktuelle Politik und das politische System. Sie formulieren aber auch „neue“ Ideen und Konzepte. Wie aber werden diese Ideen in den offiziellen politischen Diskursen verankert? Über welche Kanäle erreichen diese die politischen Führungseliten? Da es sich bei der Volksrepublik China um ein in sich „geschlossenes System“ handelt, kann man sich dieser Frage nur über Umwege annähern.
Bekannt ist, dass die politische Führung in wichtigen Fragen die Expertise der Think-Tanks oder einzelner Berater heranzieht. Seit den achtziger Jahren ist ein Netz informeller und formeller Austauschbeziehungen zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den chinesischen Forschungseinrichtungen aufgebaut worden. Die wichtigsten chinesischen Think-Tanks für den Bereich der Internationalen Beziehungen sitzen in Peking und Schanghai. Der Grad ihrer Einflussmöglichkeiten ergibt sich aus der jeweiligen institutionellen Nähe zum Machtzentrum beziehungsweise beruht auf individuellen Netzwerken und Kontakten. Eine weitere Möglichkeit der Einflussnahme bieten die so genannten Studiensitzungen des Politbüros, die unter Hu Jintao, von 2002 bis 2012 Generalsekretär der Kommunisten Partei, fast monatlich abgehalten wurden und zu denen ausgewählte Politikwissenschaftler (oder Vertreter verwandter Disziplinen) als Referenten eingeladen werden.
Mit dem Aufkommen nichtstaatlicher Think-Tanks sehen sich die altetablierten Denkfabriken einem erhöhten Konkurrenzdruck ausgesetzt. Denn jenseits der institutionalisierten Beratungsstrukturen bieten Konferenzen und Podiumsdiskussionen, bei denen auch neu gegründete Think-Tanks auftreten, einen Weg, neue Gestaltungskonzepte ins Spiel zu bringen. Schon der Bericht des 17. Parteitags (2007) sprach Think-Tanks offiziell eine zentrale Rolle zu. 2012, im Vorfeld des 18. Parteitags, wurden sie explizit aufgefordert, ihre Ideen zur Lösung der sozioökonomischen Entwicklungsprobleme einzubringen. Während viele Dokumente nur intern zwischen Think-Tanks und Parteieliten ausgetauscht werden („neibu-Berichte“), wurden zumindest Auszüge aus Konzeptpapieren in den staatlichen Medien paraphrasiert.
Zu den einflussreichsten chinesischen Think-Tanks im Bereich der internationalen Politik zählen neben den Instituten der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) in Peking zwei dem Staatsrat zugeordnete Organe: Das China Institute of International Studies (CIIS), ursprünglich als Denkfabrik des Außenministeriums 1956 ins Leben gerufen, und die China Institutes of Contemporary International Relations (CICIR); letzterer Einrichtung wird nachgesagt, in enger Verbindung mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu stehen. Beide Institute sind in einer Phase der Distanzierung Chinas von seinem „sowjetischen Bruder“ gegründet worden. Der seit Ende der fünfziger Jahre schwelende sino-sowjetische Konflikt um das richtige Modell des Sozialismus führte damals dazu, dass China unter Mao seine eigene Sicht auf die Welt formulierte. Heute sind CIIS und CICIR im akademischen wie im politischen Kontext meinungsgestaltend. Beide verfassen Beratungspapiere für die Regierung oder ausgewählte Ministerien. Das CIIS gibt zudem die Zeitschrift International Studies (Guoji Wenti Yanjiu) heraus, das CICIR verlegt die Zeitschrift Contemporary International Relations (Xiandai Guoji Guanxi). Mittlerweile erscheinen diese auch in einer englischen Version.
Ähnlich sieht es in Schanghai aus: Dort sind als zentrale Forschungs- und Beratungszentren die Schanghaier Akademie für Sozialwissenschaften (SASS) und das Shanghai Institute of International Studies (SIIS) zu nennen; letzteres ist zugleich der Abteilung für Außenbeziehungen der Schanghaier Stadtverwaltung sowie dem Außenministerium angegliedert.
Die Landschaft der chinesischen Think-Tanks ist damit aber noch längst nicht erschöpfend abgebildet. Neben den Forschungseinrichtungen des Staatsrats, den Denkfabriken der CASS, semistaatlichen und privaten Instituten fungieren die Abteilungen für Internationale Politik an den renommierten Universitäten des Landes – allen voran die Peking-Universität, die Qinghua-Universität und die Renmin-Universität in der Hauptstadt sowie die Fudan-Universität in Schanghai – als akademische Think-Tanks. Oftmals sind die Professoren zugleich aktive Berater der Regierung. Zusätzlich zu den zivilen Denkfabriken existiert zudem eine weit verzweigte Struktur militärischer Think-Tanks, darunter das Center for Peace and Development Studies (CDPS) und das China Institute for International Strategic Studies (CIISS).
Die Parteihochschule berät auch
Weitgehend unbeachtet in der China-Berichterstattung hat sich darüber hinaus die Parteihochschule in Peking zu einem wichtigen Beratungsinstitut für die chinesische Führungselite entwickelt. Zheng Bijian, von 1997 bis 2002 Vizepräsident der Parteihochschule, gilt als Begründer der Theorie des „Friedlichen Aufstiegs“, der unter Hu Jintao zu einem Schlüsselkonzept der chinesischen Außenpolitik geworden ist. Auch mit Blick auf die Reformen im Inneren ist die Parteihochschule in den vergangenen Jahren immer wieder mit Papieren an die Parteispitze herangetreten.
Ihre Sonderrolle verdankt sie nicht zuletzt dem Umstand, dass Hu Jintao bis 2002 als ihr Präsident fungierte. Auch sein Nachfolger, Xi Jinping, hatte dieses Amt bis Anfang 2013 inne. Der Einfluss der Parteihochschule, die sich in den vergangenen Jahren als durchaus innovativ und reformoffen positioniert hat, scheint damit auch für die kommenden Jahre gesichert. Weil Xi als Sekretär des früheren Verteidigungsministers durchaus enge Beziehungen zum Militärapparat hat, könnten aber auch die Stimmen militärischer Think-Tanks in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Aus den aktuellen akademischen Publikationen und den wenigen dokumentierten Think-Tank-Debatten im Vorfeld des 18. Parteitags ist abzulesen, dass diese gegenwärtig die Rolle Chinas in den sich wandelnden globalen Strukturen überdenken. Offiziell verfolgt China keine Hegemoniebestrebungen. Allerdings würde ein Machtvakuum infolge einer Schwächung oder Neuorientierung des Westens Peking zwingen, sich sehr viel aktiver zu positionieren.
Sämtliche Beziehungen Chinas zu anderen Staaten und multilateralen Strukturen sind gegenwärtig einer kritischen Bestandsaufnahme unterworfen. Die Euphorie, die Chinas Sicht der europäischen Integrationsprozesse seit den siebziger Jahren prägte, ist verflogen. Skeptizismus hat sich breit gemacht, mit Auswirkungen auf die Ausgestaltung der chinesischen Europapolitik: China hat seinen Fokus von der supranationalen Ebene hin zu den bilateralen Kontakten mit ausgewählten Mitgliedstaaten verlagert. Internen Quellen zufolge sollen verschiedene Think-Tank-Vertreter derzeit für eine Neufassung der offiziellen chinesischen EU-Strategie eintreten. China hatte 2003 erstmals ein offizielles Positionspapier zu den sino-europäischen Beziehungen veröffentlicht, das auf den zuvor von den chinesischen Thinks-Tanks vorgelegten Analysen und Empfehlungen basierte.
Bei der Analyse der chinesischen Politik ist zu unterscheiden zwischen außenpolitischer Rhetorik, der realen problembezogenen Ausgestaltung der Außenpolitik sowie den abstrakten Weltordnungsvorstellungen, die manche Think-Tanks entwerfen. Auf diplomatischer Ebene hält China an seinen axiomatischen Grundprinzipien – territoriale Integrität und nationale Souveränität – fest. Die offizielle Terminologie hat sich nicht verändert.
Ein flexibler Pragmatismus hingegen dominiert die gegenwärtige außenpolitische Praxis. China engagiert sich in multilateralen Netzwerken und geht strategische Bündnisse ein. In den Debatten der chinesischen Think-Tanks jedoch zeichnet sich deutlich der Anspruch ab, die Welt in Zukunft nicht nur interpretieren, sondern auch mitgestalten zu wollen. An die Stelle der Theorierezeption und der Übernahme der von der internationalen Staatengemeinschaft formulierten Deutungsmuster ist das Ziel der Theorieinnovation getreten.
Politiktheorie à la chinoise
Bereits seit den achtziger Jahren widmen sich Forschergruppen in China der Formulierung einer Theorie der internationalen Politik „mit chinesischen Charakteristika“. Bei Beratungstreffen zwischen Think-Tanks und Parteieliten sowie wissenschaftlichen Konferenzen wurde diese Formel im Sommer 2012 erneut ins Spiel gebracht. Kern dieser Debatten ist es, die Beziehungen Chinas zu den zentralen Akteuren neu zu bestimmen und hieraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Ausgangspunkt ist die Annahme einer Machtverschiebung in Richtung der neuen Wirtschaftsmächte, den BRICS-Staaten. Die USA werden weiterhin als wichtiger Akteur eingestuft, allerdings nicht länger als unangefochtene Führungsmacht. Peking hat sich von starren Weltbildern losgesagt.
Auf diese Weise vollzieht China den eigenen Anspruch auf den Wiederaufstieg zu seiner einst verlorenen Zentrumsposition. Diese Entwicklung untermauern die chinesischen Think-Tanks. Sie haben „westlichen“ Bedrohungsszenarien, wonach der Aufstieg eines neuen Akteurs nur militärisch und konfrontativ erfolgen könne, ihre Vision eines „Friedlichen Aufstiegs“ entgegengestellt. Sie legitimieren somit durch ihre Analysen und Entwicklungsszenarien die gegenwärtige außenpolitische Strategie Chinas.
Zugleich aber arbeiten sie an abstrakten Modellbildungen zur internationalen Politik, die Kernelemente der chinesischen Staatsphilosophie auf die Gegenwart übertragen. Vorreiter dieser Bewegung sind Politikwissenschaftler wie Yan Xuetong (Qinghua-Universität), Ye Zicheng (Peking-Universität) oder auch Zhao Tingyang (CASS). Ihre Ansätze und Interpretationen divergieren, doch haben sie eines gemeinsam: Sie argumentieren, dass China über eine eigenständige Praxis und auch Theorie der Außenpolitik verfüge. Diese unterscheidet sich dem Anspruch nach von den im gegenwärtigen internationalen System vorherrschenden Prinzipien: Sie betont moralische Verpflichtungen und konstruiert ein Weltsystem, das durchaus auf Hierarchien beruht, jedoch ein Tauschverhältnis von Rechten und Pflichten vorsieht. Unilaterale Handlungen und Hegemoniebestrebungen sind mit diesem abstrakten Ordnungsmodell unvereinbar. Ebenso widerspricht dieser Ansatz der in der „westlichen“ Politikbetrachtung vorherrschenden Annahme, dass das internationale System per se durch Anarchie und Konflikt geprägt sei. Auch der Systemantagonismus zwischen Sozialismus und Kapitalismus wird im chinesischen Modell relativiert: Friedliche Koexistenz, gemeinsame Entwicklung und Kooperation sind die Leitthemen, die China für die Ausgestaltung der (zukünftigen) Weltpolitik anvisiert: ein Zukunftsmodell also jenseits des „Demokratischen Friedens“.
Das chinesische Gegenbild zu „westlichen“ Konzeptionen und philosophischen Grundlagen der internationalen Politik à la Hobbes, Thukydides oder Kant bringt vor allem eines zum Ausdruck: China untermauert den Anspruch, auch außenpolitisch einen eigenständigen Entwicklungsweg zu verfolgen. Dieses „chinesische Modell“ könnte mit dem globalen Aufstieg Chinas auch als Gestaltungsidee der internationalen Politik an Bedeutung gewinnen. Im Tausch für die Unterstützung und Stabilisierung des krisengeschüttelten internationalen Systems erwartet die chinesische Seite, in Zukunft an der Neugestaltung der internationalen Ordnung auch konzeptionell mitwirken zu dürfen.
Dr. Dr. Nele Noesselt ist Sprecherin des Forschungsteams „Vergleichende Regionalismusforschung“ am GIGA Institut für Asien-Studien in Hamburg.
Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 102-107