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01. Jan. 2016

Abschied vom Trittbrettfahren

In seinem neuen Weißbuch präsentiert sich Peking verantwortungsbewusst

Spannungen zwischen China und seinen asiatischen Nachbarn haben die These vom neuerdings „aggressiveren“ Kurs der Volksrepublik befeuert. Doch auch ein Blick in Pekings militärstrategisches Weißbuch zeigt: Wenn ein Ausbau von Einflusssphären stattfindet, so über neue Handelsabkommen, nicht durch militärische Expansion.

Das Wiederaufflammen historischer Territorialstreitigkeiten zwischen der Volksrepublik China und einer Reihe von Nachbarstaaten hat eine Debatte darüber entfacht, ob dem von Peking postulierten „friedlichen Aufstieg“ nun eine neue Phase des „Auftrumpfens“ in der chinesischen Außenpolitik folge. In Analogie zur expansionistischen Machtpolitik vergangener Imperien wird dabei oft unterstellt, dass China zukünftig seine Interessen stärker offensiv und konfrontativ behaupten werde und dies mit neuen weltpolitischen Machtansprüchen einhergehe.

Problematisch an solch verein­fachenden Analogiebildungen und Zukunftsspekulationen ist, dass China allein aus der Außenperspektive als potenzieller Aggressor konstruiert wird. Die strategischen Ziele und Handlungsimperative der chi­nesischen Seite, die diese eindimensionale Interpretation womöglich widerlegen könnten, werden ausgeblendet.

Dabei lohnt der Blick auf die innerchinesische Debatte. Dass der globale Bedeutungszugewinn des Landes eine Adaption seiner außenpolitischen Positionierungsstrategie erfordert, wird nämlich nicht nur von China-Beobachtern im Westen diskutiert. Diese chinesische Debatte ist alles andere als gleichgeschaltet. Eine Vielzahl von Stimmen mit durchaus konkurrierenden Positionen und Zielsetzungen meldet sich zu Wort. Das interne Ringen um eine neue konzeptionelle Grundlage der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik für das 21. Jahrhundert ist dabei weitaus komplexer als ein Machtkampf zwischen Reformern und Hardlinern.

Die obersten Führungszirkel im Staats- und Parteiapparat sind mit Blick auf den Macht- bzw. Regime­erhalt an einer Ausbalancierung der verschiedenen Interessen innerhalb der Kommunistischen Partei (KPCh), des Militärs und der Gesellschaft bemüht. Diese Interessen sind oft nicht rein pragmatisch-rational, sondern mitunter ideologisch und auch emotional begründet. Spannungen mit Japan und die Reaktivierung amerikanischer Militärbasen im asiatisch-­pazifischen Raum befördern patriotische Strömungen, die wiederum Hardlinern in Militär und Partei in die Hände spielen.

Um alle – das heißt auch ultrapatriotische – Positionen einzubinden, setzt die chinesische Führung auf eine außenpolitische Rhetorik, die keinen Zweifel daran aufkommen lassen soll, dass eine Verletzung chinesischer Sicherheits- und Entwicklungsinteressen nicht toleriert werden kann. Im Wissen um die mit dem Topos eines „auftrumpfenden Chinas“ verbundenen Szenarien bemüht sich Peking aber zugleich darum, etwaige Bedrohungsperzeptionen zu entkräften und sich der Außenwelt als friedensbewahrender, kooperativer Mitspieler zu präsentieren.

Aktive Verteidigung

Image und Reputation spielen in der chinesischen Außenpolitik spätestens seit dem Tod Mao Zedongs 1976 eine zentrale Rolle. Den Vorwürfen einer „neuen Bestimmtheit“ begegnete Peking 2015 mit einer wenig beachteten Transparenzoffensive: Erstmals in der Geschichte der Volksrepublik veröffentlichte der Staatsrat im Mai ein Weißbuch zur chinesischen „Militärstrategie“1 vorangegangene Dokumente dieser Art waren stets unter dem Oberbegriff der Landesverteidigung vorgelegt worden.

Das Weißbuch zeugt von einem neuen Rollenbewusstsein auf regionaler wie globaler Ebene. Pekings Aktionsradius ist nicht länger auf das chinesische Staatsterritorium beschränkt – was insbesondere für die chinesische Marine von Bedeutung ist. In dem Dokument wird das Prinzip einer „aktiven Verteidigung“ verankert und das langfristige Ziel postuliert, „lokale Kriege unter Einbeziehung moderner Informationstechnologien“ führen und gewinnen zu können.

Beide Punkte sind von chinesischen Außen- und Sicherheitspolitikern lange diskutiert worden und damit kein überraschendes Novum. Ungleich bedeutender ist die offizielle Identifizierung von vier Schwerpunkten der sicherheitspolitischen Strategie. Sie umfassen drei neue Räume: die Ozeane, den Weltraum und den Cyberspace. Der vierte wird mit den Oberbegriffen „nukleare Macht“ und „nukleare Sicherheit“ beschrieben. In allen Bereichen sollen die Kapazitäten der chinesischen Streitkräfte weiter ausgebaut werden.

Mit der Aktualisierung der Militärstrategie reagiert die chinesische Führung auf Veränderungen der Sicherheitsarchitektur in Chinas regionalem Umfeld. Peking sieht sich herausgefordert, sei es im historisch ererbten Streit mit ­J­apan um die Diaoyu/Senkaku-Inseln oder in den maritimen Territorialkonflikten mit den südostasiatischen Staaten. Beschleunigt durch das gemeinsame Bündnis Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat China zugleich die Sicherheitskooperation mit Russland intensiviert; doch eine neue ­sino-russische Achse der Weltpolitik bleibt eher unwahrscheinlich. China hält weiterhin an der Idee einer multipolaren Welt fest und möchte sich nicht auf eine bipolare Blockbildung einlassen.

Der Verteidigungshaushalt wurde 2015 erneut um etwa 10 Prozent erhöht und beläuft sich offiziellen Zahlen zufolge auf rund 141 Milliarden Dollar. Damit verfügt China über das weltweit zweitgrößte Militärbudget, übertroffen nur von den USA. Kritische Analysen gehen allerdings davon aus, dass die wirklich getätigten Ausgaben weit höher liegen, da einzelne Posten unter den Rubriken Forschung und Innovation laufen und damit aus dem offiziellen Verteidigungshaushalt ­herausfallen.

Dem Vorwurf einer massiven Aufrüstung tritt Peking mit dem Argument entgegen, dass die höheren Ausgaben der Modernisierung und Professionalisierung2 der Streitkräfte geschuldet seien und zudem die Inflation eingerechnet werden müsse. Tatsächlich lagen die Verteidigungsausgaben dieses Jahrzehnt bislang relativ konstant bei etwa 2 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. Schriebe man dies allerdings fort, so würden sich die Verteidigungsausgaben bis 2020 verglichen mit dem Stand von 2010 verdoppeln; mit in absoluten Zahlen steigenden Militärausgaben stünde China allerdings längst nicht allein.

Einblicke in die Blackbox

Im Vorwort des Weißbuchs findet sich ein Bekenntnis zu einer defensiven, auf die Wahrung des Friedens abzielenden Außen- und Weltpolitik. Frieden, Entwicklung und Wohlstand werden nicht nur als Bestandteile eines unilateralen „chinesischen Traums“, sondern als gemeinsame Ziele der Weltgemeinschaft präsentiert. Die Modernisierung der chinesischen Streitkräfte stehe deshalb sowohl im Dienste nationaler als auch globaler Interessen. Implizit postulieren die Autoren des Weißbuchs somit, dass das Narrativ einer „Wende“ zu einer aggressiveren Außenpolitik auf einer Verkennung der realen Gegebenheiten und der chinesischen Strategieplanung beruhe.

Als Verursacher von Spannungen in der sicherheitspolitischen Weltlage werden in dem Dokument die USA mit ihrer „Rebalancing“-Strategie im asiatisch-pazifischen Raum sowie Japan genannt, dem Revisionismus und Streben nach einem „Umsturz“ der nach dem Zweiten Weltkrieg vereinbarten Sicherheitsordnung nachgesagt werden. Überlappende Hoheitsgewässer und konkurrierende Territorialansprüche, die zwischen den südostasiatischen Nachbarn und China bestehen, werden thematisiert, ohne dass hier einzelne Staaten gesondert aufgelistet werden.

Als allgemeine Unsicherheitsfaktoren werden „nicht herkömmliche“ Sicherheitsbedrohungen in Nordostasien, Terrorismus, Separatismus, Extremismus benannt – und Nordkorea. Peking galt bislang als ideologischer Waffenbruder des Regimes in Pjöngjang; symbolische und rhetorische Drohungen Nordkoreas an die Adresse Chinas scheinen diese alte strategische Achse jedoch endgültig infrage gestellt zu haben.

Neben regionalen Sicherheitsbedrohungen wird auch die potenzielle Gefährdung der territorialen Integrität und nationalen Souveränität Chinas angesprochen, insbesondere mit Blick auf die Grenzregionen und Sonderzonen (Taiwan, Tibet, Xin­jiang), die nach formaler Unabhängigkeit von Peking streben. Ebenso wird die Eventualität einer „Farbenrevolution“ erwähnt, betrieben von nicht genauer spezifizierten „antichinesischen“ Kräften. Dass es zu so etwas wie dem Arabischen Frühling auf chinesischem Territorium kommt, soll mit allen Mitteln verhindert werden – wie das entschiedene Vorgehen gegen die „Jasmin-Bewegung“ bereits nahegelegt hat.

Das zweite Kapitel der neuen „Militärstrategie“ benennt zwei Wegmarken der chinesischen Aufstiegspläne: Zum hundertjährigen Gründungsjahr der KPCh 2021 soll die Gesellschaft durchgehend einen „bescheidenen Wohlstand“ erreicht haben, bis zum Jahr 2049, wenn die Volksrepublik ihren hundertsten Gründungstag begehen wird, soll der Aufbau eines modernen „sozialistischen Staatssystems“ abgeschlossen sein – der von Xi Jinping proklamierte „chinesische Traum“ wäre Realität.

Wirklich neue Erkenntnisse über die Entscheidungs- und Planungsstrukturen der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik bietet das Weißbuch zwar nicht. Doch dokumentiert – und rechtfertigt – es die in den vergangenen Jahren gelebte „­Praxis“. Auffällig ist, dass an vielen Stellen die Führung des Militärs durch die Partei als ehernes Grundprinzip betont wird: Es geht der fünften Führungsgeneration also auch um eine neuerliche Einschwörung der Streitkräfte auf die entwicklungsstrategischen Ziele von Partei und Staat.

Die Zementierung von absoluter Loyalität und Gehorsam der Armee gegenüber der Partei war schon vor der Veröffentlichung des Weißbuchs im November 2014 auf einer von Xi Jinping einberufenen „Arbeitssitzung“ des Militärapparats unterstrichen worden. Diese symbolträchtige Sitzung fand in Gutian, im Westen der Provinz Fujian, statt, genau an dem Ort, an dem Mao im Dezember 1929 das Prinzip des Oberkommandos der Partei über die (revolutionäre) Armee formuliert hatte.

Xi Jinping hatte bereits im Herbst 2012 als eine seiner ersten Amtshandlungen eine Reise in den Süden des Landes unternommen und die dort stationierten Volksmarineeinheiten an ihre Verpflichtung als „Partei-­Armee“ erinnert. Auslöser dieser Visite, so online zirkulierende Gerüchte, waren Aktionen von Marineeinheiten im Konflikt mit Japan, die in ihrer Gänze nicht vorab mit Peking abgestimmt gewesen sein sollen.

In Gutian wurden die geladenen Spitzenkader des Militärs auch an den „Fall Xu Caihou“ erinnert. Der ­frühere Vize-Vorsitzende der Zen­tralen Militärkommission, gegen den im März 2014 ein Ermittlungsverfahren wegen Korruption eingeleitet ­worden war, ist der bislang rang­höchste ­Militärkader, der im Zuge von Xis ­Antikorruptionskampagne gegen „Tiger und Fliegen“, gegen mächtige ebenso wie gegen kleine Funktionäre, abserviert wurde.

Wer mit der chinesischen Suchmaschine Baidu nach Xu Caihou sucht, erzielt insgesamt 1,82 Millionen Treffer; wer den Namen des Mustersoldaten Lei Feng eintippt, der erhält mit 18,2 Millionen ein Zehnfaches an Einträgen: Man bemüht sich um eine moralische Erneuerung der Streitkräfte, die mit der allgemeinen Säuberungskampagne der KPCh einhergeht, indem die Partei Lei Feng erneut zum leuchtenden Vorbild stilisiert.

Die Antikorruptionskampagne des Präsidenten rich­tet sich zwar primär an die im administrativen Bereich des Staatssektors tätigen Kader, doch werden Zielvorgaben und Richtungsanweisungen für die Mitglieder des „militärischen Arms“ der Partei praktisch wortgleich wiederholt. Dass eine solche doppelte Ansprache an zwei Kadergruppen erfolgt, verdeutlicht die bereits fortgeschrittene Entkopplung von Partei- und Staatsapparat auf der einen Seite und den Streitkräften auf der anderen. Von den 25 Mitgliedern des 2012 neu besetzten Politbüros haben lediglich zwei zugleich eine Funktion in der Volksbefreiungsarmee, und schon seit 1997 ist im Ständigen Ausschuss des Politbüros kein Militär mehr vertreten. Zwar kann man nicht von einer Transformation reden, aber die konzeptionelle Neubestimmung der Rolle des Militärs für die postmaoistische chinesische Politik schreitet fort.

Fragile Sicherheit

Der chinesische Sicherheitsbegriff ist in den vergangenen Jahren sukzessive ausgedehnt worden und umfasst heute auch die strategischen Sicherheitsinteressen in anderen Weltregionen.3 Chinesische Unternehmen haben ihre Aktivitäten auf neue Regionen ausgeweitet und sind von lokalen Kriegen und bewaffneten Konflikten unmittelbar betroffen. Zudem ist das Land auf Rohstoff- und Energietransporte angewiesen und benötigt stabile und sichere Transportwege. Wurde China lange vorgeworfen, ein „Trittbrettfahrer“ in Fragen der globalen Konflikt- und Krisenbewältigung zu sein, wird Chinas „neues“ Sicherheitsengagement jenseits der unmittelbaren Küstengewässer nun als Herausforderung angesehen.

Die „westlichen“, vornehmlich in neorealistischer Literatur zu findende Projektion eines aggressiveren Chinas legitimiert indirekt den amerikanischen „pivot to Asia“, ignoriert jedoch, dass die partielle Neupositionierung Chinas ihrerseits auf die Wahrnehmung einer Einkreisung durch neu aufgelegte militärische Sicherheitsbündnisse zurückgeht. „Access denial“, die Kontrolle und Schließung der maritimen Versorgungs- und Transportkorridore für chinesische Im- und Exporte im Zuge von Containment-Maßnahmen, ist das Bedrohungsszenario, vor dem gegenwärtig präemptive Gegenstrategien entworfen werden.

So betreibt China die Diversifizierung seiner Handelspartner und setzt sowohl auf See- als auch auf Landrouten. Neu ist allerdings, dass hierzu eine eigenständige, langfristig vertraglich abgesicherte und auf chinesische Standards ausgerichtete Infrastruktur aufgebaut wird. Die „Neue Seidenstraße“ soll ein Netz über den Globus spannen, das aus so vielen Knotenpunkten besteht, dass der temporäre Ausfall eines einzelnen Peking noch lange nicht gefährden würde. Sicherheitsstrategische Überlegungen werden damit zu einem Baustein der chinesischen Entwicklungsstrategie.

Wenn also derzeit ein Ausbau chinesischer Einflusssphären stattfindet, so über neue Handelsabkommen, nicht aber durch militärische Expansion. Die chinesische Konzeption von Sicherheit beruht auf einem komplexen und zugleich äußerst fragilen mehrdimensionalen Gebilde, in dem das Militär nur ein, wenn auch elementarer Baustein von vielen ist.

Die im Weißbuch angesprochene Modernisierung der Streitkräfte und die Fokussierung auf neue Sicherheitsfelder sollten nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind im Zusammenhang mit der Neubestimmung von Chinas Rolle im globalen Geschehen zu lesen. Dass Diskrepanzen zwischen offiziellen Selbstbildern und dem außenpolitischen Handeln, wie es aus der Außenperspektive wahrgenommen wird, auftreten können, ist dabei alles andere als ein rein „chinesisches Phänomen“.

Prof. Dr. Dr. Nele Noesselt lehrt am ­Institut für Politik­wissenschaft mit dem Schwerpunkt Ostasien/China der Universität Duisburg-Essen (IN-EAST).

  • 1Die englischsprachige Fassung ist abrufbar unter: http://eng.mod.gov.cn/Database/­WhitePapers/
  • 2Die chinesische Führung kündigte 2015 zugleich eine Reduzierung der Truppenstärke um 300 000 Mann an. Damit wäre die Volksbefreiungsarmee (mit derzeit noch 2,3 Millionen Soldaten) aber auch weiterhin zahlenmäßig die größte der Welt. Die Professionalisierung und Restrukturierung der Streitkräfte hat Saskia Hieber auf die Formel „Red Soldier 2.0“ gebracht, die treffend den hybriden Charakter der ideellen Grundlagen beschreibt, die die chinesische Außen- und Verteidigungspolitik bestimmen. Kennzeichnend sind u.a. die ­Reaktivierung „maoistischer“ Slogans bei gleichzeitiger Ausweitung potenzieller Konflikt­zonen auf nichttraditionelle, u.a. virtuelle Räume.
  • 3Diese Orientierung wurde ex post mit dem 2013 veröffentlichten Weißbuch „The Diversified Employment of China’s Armed Forces“ offiziell der Sicherheitsstrategie als neues Teilelement hinzugefügt: http://news.xinhuanet.com/english/china/2013-04/16/c_132312681.htm
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 88-93

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