Alle Macht dem Mittelmaß
Russlands politische Elite sitzt fester im Sattel als der Westen denkt
Russlands Machthaber sind weit davon entfernt, zugunsten einer jungen, liberaleren Generation abzutreten. Im Gegenteil: Unfähige Bürokraten haben das Land mit einer Kombination aus wirtschaftlicher Freiheit und politischen Restriktionen fest im Griff – und integrieren junge Ja-Sager einfach in ihr neofeudales System.
Eine unter westlichen Beobachtern verbreitete Lesart des russischen Systems geht so: Russland droht, in den Totalitarismus abzugleiten, doch ebenso wie einst in der Sowjetunion werden sich die Machthaber über kurz oder lang dem wachsenden Druck einer erstarkenden Zivilgesellschaft beugen müssen. Die derzeitige autoritäre Kehrtwende führen ausländische Experten im Allgemeinen auf das Wesen der russischen Staatselite zurück: Diese rekrutiert sich überwiegend aus den Silowiki, also den Vertretern der Sicherheitsstrukturen, vor allem der Geheimdienste und des Militärs. Diese Lesart erlaubt einen optimistischen Blick in die Zukunft: Entweder erwacht die russische Zivilgesellschaft zu neuem Leben und reißt das Steuer herum, wie sie es 1989/91 vermeintlich schon einmal tat. Oder die gegenwärtige Elite altert und verlässt die politische Bühne aus freien Stücken. So oder so – am Horizont winkt ein Happy End.
Leider sind all diese Annahmen falsch. Aus Russland wird sicher keine „Sowjetunion reloaded“. Seine Bürger haben uneingeschränkten Zugang zu Informationen, sie genießen Reisefreiheit, besitzen Privateigentum und wirtschaften, wie es ihnen passt. Natürlich sind politische Restriktionen immer noch an der Tagesordnung, und demokratischen Standards wird Russland, wie Präsident Dmitri Medwedew jüngst selbst zugab, nur „zu einem gewissen Grad“ gerecht. Auch machen einige Russen ihrem Unmut Luft – sie beklagen das gegenwärtige Regime und den verbreiteten Machtmissbrauch von Polizei, lokalen Behörden und Oligarchen, die eng mit der herrschenden Klasse verbandelt sind. Doch alles in allem erweist sich das System stabil. Seine Stärke entspringt einem einfachen Prinzip: Es ist um Einiges leichter, Schwierigkeiten individuell zu meistern, als staatlichen Institutionen kollektiv den Kampf anzusagen. Weil Korruption eben nicht die Geißel ist, wie man es im Westen auszudrücken pflegt, sondern wesentlicher Bestandteil des Systems. Korruption ist für die russische Gesellschaft der Kitt, der alles zusammenhält.
Geißel der Gesellschaft
Diese auf Korruption basierenden sozialen Beziehungen ergeben das Bild eines neofeudalen Systems. Das dürfte nicht allzu sehr überraschen, war dies doch ungefähr der Stand der sozioökonomischen Entwicklung Russlands, bevor es unter kommunistischer Herrschaft in eine sieben Jahrzehnte währende Eisstarre verfiel. Nun ist es wieder aufgetaut.
Das System funktioniert nach einer bestimmten Logik: Wladimir Putin führte das Prinzip der „vertikalen Hierarchie“ ein, das auf dem simplen Mechanismus basiert, Macht in Geld und Geld in Macht umzuwandeln. Ganz gleich, auf welcher Ebene der Hierarchie man steht: Ein gewisses Maß an Korruption und Klientelismus wird nicht nur toleriert, sondern vorausgesetzt. Jeder erwartet uneingeschränkte Loyalität und genügend Schmiergeld, um wiederum den eigenen Vorgesetzten bestechen zu können. Das System fußt zwar auf der ökonomischen Freiheit des Einzelnen, doch von vorsichtigen politischen Beschneidungen dieser Freiheiten profitieren etliche Nutznießer. Dieser neue Feudalismus ist zwar vielschichtiger und komplexer als der alte, doch die Funktionsweise ist dieselbe: Die Schwachen zahlen „nach oben“, die Starken schützen „nach unten“.
Ohne ökonomische Freiheiten kann das russische System nicht existieren, daher gibt es keine Auferstehung der Sowjetunion. Doch gleichzeitig bergen diese Freiheiten eine große Gefahr, denn sie sind unvereinbar mit den Prinzipien feudaler Herrschaft. Russland wird folglich in naher Zukunft weder einem europäischen Land noch den USA gleichen; es wird weder kollabieren noch sich radikal entwickeln. Es wird einfach bleiben, wie es ist. Und der Hoffnungsschimmer, den die Zukunft vermeintlich bereithält, wird einer stalinistischen Weisheit alle Ehre machen: Je mehr man sich dem Horizont nähert, desto weiter rückt er in die Ferne.
Heutzutage, sagt man eigentlich, muss sich selbst ein stabiles System ständig entwickeln, um seinen Status quo zu erhalten – und deshalb glauben viele, dass der gegenwärtige Zustand nicht lange währen kann. Präsident Medwedew, derzeit einer der glaubwürdigsten Befürworter einer russischen Modernisierung, schätzt die Gefahren richtig ein. Er scheint zu begreifen, dass aus den Kräften, die momentan Russlands Stabilität garantieren, unmöglich jener Innovationsgeist hervorgehen kann, den das Land bräuchte, um turbulente Zeiten durchzustehen. Doch Medwedew steht in Putins Schatten. Es gelingt ihm weder, den inneren Machtzirkel noch die breite Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Gefahren real sind.
Medwedew täuscht sich aber, wenn er glaubt, das System sei instabil, auch wenn er in der Annahme recht geht, dass es niemals florieren wird. Russland ist keine Diktatur, sondern ein verhältnismäßig freier Staat; das gegenwärtige Regime beruht eher auf Konsens denn auf Repression. Dass dieses Regime in naher Zukunft ins Wanken geraten könnte, ist nicht sehr wahrscheinlich.
Noch abwegiger ist der Gedanke, KGB-Mitarbeiter aus der Sowjetzeit seien für die Defizite der gegenwärtigen Ordnung verantwortlich. Anhänger dieses Erklärungsmodells übersehen zwei wichtige Tatsachen: Erstens vergessen sie, dass der quasi-autoritäre präsidentielle Führungsstil während der „demokratischen Phase“ in den neunziger Jahren unter Boris Jelzin entstand, als dieser das Parlament auflöste und eine neue Verfassung durchsetzte, die nahezu alle Beschränkungen seiner Macht aufhob. Der Status des russischen Präsidenten glich dem des deutschen Führers nach dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933. Seither ist die Vorstellung, es gebe keine Alternative zum aktuellen Staatsoberhaupt oder dessen designierten Nachfolger, ein wesentlicher Bestandteil russischer Politik. Mit den Überresten des KGB-Personals hat das aber herzlich wenig zu tun.
Zweitens vergessen sie, dass die militärische und geheimdienstliche Vergangenheit eines Großteils der russischen Elite diese nicht zwangsläufig zu Demokratiegegnern macht. Unter ihnen gab es viele ehrliche und kompetente Mitarbeiter; in der maroden Sowjetunion galt die KGB-Elite über Jahrzehnte hinweg als vergleichsweise fortschrittlich. Das Problem sind also nicht die Silowiki, sondern die „negative Selektion“, also die Art und Weise, wie sowohl ehemalige Demokraten als auch ihre Gegner den Nachwuchs der politischen Elite rekrutieren.
Tyrannei der Inkompetenz
Das Phänomen Wladimir Putin spiegelt die Tatsache wider, dass russische Machthaber in den neunziger Jahren lieber mittelmäßige Funktionäre ohne nennenswerte Errungenschaften im Präsidentenamt sahen als erfahrene Politiker wie Jewgeni Primakow oder Juri Luschkow, die damals beide sehr populär waren.
Der Aufstieg Putins, der es in der Sowjetunion gerade einmal zum Oberstleutnant geschafft hatte und es als Bürgermeister von Sankt Petersburg vor allem wegen seiner Korruptionsaffären zu einiger Bekanntheit brachte, steht exemplarisch für jene Personalpolitik: Unfähige Bürokraten hieven noch unfähigere Bürokraten auf wichtige Posten, erleichtert darüber, dass ihnen diese geballte Mittelmäßigkeit nicht gefährlich werden kann. Die russische Staatselite krankt folglich weniger an mächtigen Oligarchiestrukturen als vielmehr an der Tyrannei der Inkompetenz.
Ein paar Beispiele: Sergei Iwanow wurde als Spion 1981 nach London entsandt, von dort aus weiter nach Finnland – bestimmt nicht, um ihn für seine herausragenden Leistungen zu belohnen – und schließlich nach Kenia, wo er die Aufgabe hatte, das Netzwerk des russischen Geheimdiensts in Ostafrika abzuwickeln. Heute ist er stolzer stellvertretender Ministerpräsident.
Oder Boris Gryslow, ein ehemaliger Ingenieur, berühmt durch die Erfindung eines Wasserfilters, der angeblich jede Verschmutzung und selbst radioaktive Partikel zu beseitigen vermochte. (Forscher einer russischen Hochschule wiesen freilich später nach, dass der Filter nutzlos war.) 2001 wurde er zum Innenminister, 2003 zum Vorsitzenden der russischen Staatsduma berufen, der Volkskammer des Parlaments, wo er sich mit der Ansicht hervortat, die Duma sei „nicht der Ort für Debatten“. Der derzeitige Verteidigungsminister, Anatoli Serdjukow, war bis 2000 Geschäftsführer eines Möbelladens und kann nur unter äußerster Anstrengung einen Zerstörer von einem Schleppkahn unterscheiden. Die Liste ließe sich beliebig fortführen.
Dieser Typ Politiker versucht oft, seine Unwissenheit mit erkauften Doktortiteln oder Professuren zu kaschieren. Serdjukow beispielsweise machte seinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften 1994 per Fernstudium; 2000 erlangte er seinen Doktortitel, sechs Jahre später folgte seine Ernennung zum Professor, während er als Leiter des föderalen Dienstes für Steuern und Abgaben tätig war. Heute gibt es unter den 450 Duma-Abgeordneten 71 Professoren (zum Vergleich: Im 110. US-Repräsentantenhaus gibt es keinen einzigen, im 17. Deutschen Bundestag nur drei). Das wesentliche Merkmal der gegenwärtigen russischen Staatselite, nämlich völlige Ignoranz, versteckt sich mehr schlecht als recht hinter einer Fassade der Wissenschaftlichkeit. Diese No-Names kommen aus dem Nichts, feiern unerhörte Erfolge und besetzen Spitzenämter. Alles, was sie können, ist öffentliche Gelder stehlen, bestechen und vor Dienstherren katzbuckeln, die fast genauso inkompetent sind wie sie selbst. Das erklärt mehr als alles andere die unterirdische Performance der gegenwärtigen russischen Regierung.
Russlands politische Elite ist eindeutig inkompetenter als es die herrschenden sowjetischen Funktionäre waren, doch Anzeichen der Entprofessionalisierung finden sich überall in der Gesellschaft. Nur noch 14 Prozent der russischen Hochschulabsolventen sind Ingenieure (in Deutschland sind es 29, in China fast 42 Prozent). Die berufliche Karriere wird vor allem durch persönliche Beziehungen begünstigt; Erfahrung und Leistung fallen kaum ins Gewicht. Gazprom-Vorstandsvorsitzender Alexei Miller etwa hatte keinerlei Erfahrung in der Energiewirtschaft, als er auf den Spitzenposten der Firma gehoben wurde; die Fördermenge des Konzerns fiel – selbst bei steigenden Gaspreisen – von 523,2 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2000 auf 461,5 Milliarden im Jahr 2009. Auch der Vorstandsvorsitzende von Rosatom und ehemalige Ministerpräsident Sergei Kirijenko hatte keinerlei Expertise im Kernenergiesektor; nur einer der elf Atommeiler, die er Russland bei seiner Ernennung im Jahr 2005 versprochen hatte, ging bisher tatsächlich ans Netz. Doch was bedeutet die rasante Entprofessionalisierung der russischen Elite? Vor allem bedeutet sie, dass es sehr populär ist, ein Bürokrat auf Lebenszeit zu sein – denn dort liegt das Geld.
Jung, geldgierig – und konservativ
Mit der Entprofessionalisierung geht noch eine weitere Entwicklung einher: Die Kapitalflüsse in die Wirtschaft sind gewaltig gestiegen, vor allem wegen der hohen Ölpreise. Die Einnahmen des Föderationshaushalts stiegen von 1,2 Billionen Rubel im Jahr 2001 auf 8,2 Billionen Rubel im Jahr 2008; die russische Währung legte gegenüber dem Dollar von 29,5 auf 24,9 Rubel pro Dollar zu. Das erlaubte russischen Bürokraten, die Summen, die sie durch Bestechung und andere inoffizielle Vergünstigungen verdienten, um ein Vielfaches zu erhöhen. Schätzungen des führenden russischen Korruptionsexperten Georgij Satarow zufolge stiegen die Schmiergeldzahlungen während Putins Präsidentschaft von 33 auf mehr als 400 Milliarden Dollar.
Daraus folgt zweierlei: Erstens ist der öffentliche Dienst gerade für jene jungen Menschen attraktiver geworden, die nicht zu den brillantesten und besten gehören. Das Durchschnittsalter eines Polizeileutnants liegt bei 42 Jahren (in der späten Sowjetunion lag es bei 57 Jahren), ein Steuerbeamter ist im Durchschnitt 33. Von 109 Studenten in einem Seminar, das ich 2008 an einer der westlichsten Universitäten Moskaus abgehalten habe, der Higher School of Economics, träumten immerhin 88 von einer Karriere im öffentlichen Dienst. Je jünger und gebildeter, könnte man daraus folgern, desto konservativer ist die russische Staatselite. Und das wiederum spricht gegen die Hoffnungen jener ausländischen Wissenschaftler, die postsowjetische Führungsriege werde irgendwann aussterben und einer liberalen Generation Platz machen.
Die zweite Entwicklung ist sogar noch offensichtlicher: Nicht nur lässt sich der öffentliche Sektor „auspressen“, mit dem Geld lassen sich auch einflussreiche Positionen erkaufen. So sitzen geschätzte 49 Millionäre und sechs Milliardäre in der Staatsduma, 28 Millionäre und fünf Milliardäre im Föderationsrat. Zum Vergleich: Silvio Berlusconi ist der einzige Milliardär, der jemals innerhalb der EU-15 einen Parlamentssitz innehatte. Da die Duma und der Föderationsrat aus vom Kreml handverlesenen Abgeordneten bestehen, braucht es wenig Fantasie, um sich vorzustellen, wie diese schwerreichen Politiker an ihre Ämter gekommen sind. Sie bezahlen die Mächtigen mit ihrem Reichtum und ihrer Loyalität, und diese wiederum revanchieren sich mit ihrer schützenden Hand – alles Merkmale eines feudalen Systems. Zugleich geben sich die russischen Minister alle Mühe, den Bürgern glaubhaft zu versichern, dass sie im Jahresdurchschnitt nicht mehr als 100 000 Dollar verdienen.
Daraus folgt für Politik und Wirtschaft: Es werden erfolgreiche, während der vergangenen zehn Jahre gegründete Unternehmen immer öfter in De-facto-Familienunternehmen umgewandelt. Wem, wenn nicht der Familie, soll man denn auch vertrauen in einer Gesellschaft mit einem so großen Defizit an sozialem Kapital? Der Patrimonialismus ist ebenso institutionalisiert wie der Feudalismus, und immer läuft es darauf hinaus, dass eine Hand die andere wäscht. Jeder weiß, dass die wertvollsten Bauflächen in Moskau Jelena Baturina gehören, der reichsten russischen Unternehmerin, Gattin des früheren Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow. Ähnliches gilt für die russische Republik Baschkortostan, wo Ural Rachimow, Sohn des langjährigen Präsidenten Murtasa Rachimow, die gesamte Öl- und Petroleumindustrie kontrolliert.
Den öffentlichen Dienst unterwandern inzwischen ganze Clans: Anatoli Serdjukow war beispielsweise Verteidigungsminister im Kabinett seines Vaters, Ministerpräsident Viktor Zubkow; die derzeitige Gesundheits- und Sozialministerin, Tatiana Galikowa, ist mit dem Industrie- und Handelsminister Viktor Kristenko verheiratet. Noch pittoresker geht es in den russischen Republiken zu: In Tschetschenien folgte der 29-jährige Ramsan Kadyrow seinem Vater Achmat ins Amt, der 2004 ermordet wurde. Die nordkaukasische Republik Dagestan wird seit Februar 2010 von Magomedsalam Magomedow regiert, dem Sohn des ehemaligen dagestanischen Präsidenten Magomedali Magomedow, der das Präsidentenamt von 1983 bis 2006 innehatte. Dieses Muster wiederholt sich auf allen Machtebenen.
Doch genug der Geschichten, denn, so drückte es einmal ein scharfsinniger Beobachter aus, die Vielzahl von Anekdoten ergibt noch keine belastbaren Zahlen. Viel wichtiger ist ohnehin, wie die russische Elite das Land regiert. Sie tut es ganz beiläufig, mit einem Minimum an institutionalisierter Rechtsstaatlichkeit, und beruft sich mit größter Selbstverständlichkeit auf ihre bürokratische Immunität.
Seit der „Unabhängigkeit“ Russlands von der Sowjetunion hat es fünf Parlamentswahlen gegeben, jede unter anderen gesetzlichen Voraussetzungen. Die Duma verabschiedet circa 400 neue Gesetze pro Jahr, sechsmal mehr als der US-Kongress. Wenn die Abgeordneten nicht gerade damit beschäftigt sind, neue Gesetze zu verabschieden, dann ändern sie die bestehenden. Einige dieser Gesetze werden schlicht mit der Absicht verabschiedet, ein bestimmtes Unternehmen zu zerschlagen oder seine Besitzer zum Verkauf zu zwingen. Eine verbreitete Praxis ist die Erhebung einer Anklage der Steuerbehörden oder Staatsanwaltschaft gegen Unternehmer, die dann ihren Konzern verkaufen und außer Landes fliehen müssen. Anschließend führen Anwälte mit „mehr Erfahrung“ juristische Gründe auf, warum das Urteil angefochten und das Unternehmen neuen Käufern angeboten werden müsse.
In Russlands spektakulärstem Steuerprozess wurden Michail Chodorkowski und Platon Lebedew 2005 wegen Steuerhinterziehung zu langen Haftstrafen verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, von 2000 bis 2003 keine Steuern gezahlt zu haben. Doch keiner der Steuerbeamten, die den Vorwürfen zufolge die gefälschten Steuererklärungen geprüft und abgesegnet hatten, wurde belangt. Tatsächlich war Chodorkowskis und Lebedews Verbrechen nicht Steuerhinterziehung, sondern der Versuch, sich der neofeudalen Hierarchie zu entziehen und sich über den ihnen darin zugewiesenen Platz zu erheben.
Ein kleines Stück vom Kuchen
Russland ist heute ein Unternehmerstaat: Politische Probleme werden gelöst, als seien es wirtschaftliche – und umgekehrt. Das übergeordnete Ziel der herrschenden Staatselite ist der Erhalt eines Systems, das inkompetenten Machthabern erlaubt, den Wohlstand des ganzen Landes zu verwalten. Und es steht nicht zu hoffen, dass sich das mit dem Abdanken dieses Personals und dem Nachrücken einer neuen Generation ändern wird.
Die vergangenen zehn Jahre zeigen, dass genügend Gesellschaftsschichten vom Erhalt des aktuellen Systems profitieren, auch wenn es durchaus anfällig für externen Druck ist. Immer mehr Menschen schließen sich diesem System an, um mit möglichst wenig Mühsal, Risiko und Aufwand „ihr“ Stück vom großen Kuchen abzugreifen. Für die Machthaber ist es daher ein Leichtes, Unterstützer zu gewinnen und jede sich formierende Oppositionsbewegung im Keim zu ersticken.
Diese Unterstützer rekrutieren sie vor allem an russischen Universitäten und Oberschulen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Erstens konzentriert sich die akademische Ausbildung in Russland heute überproportional auf Sozialwissenschaften. Daran ist zunächst nichts auszusetzen, doch die Qualifikation des Lehrpersonals ist meist so mangelhaft, dass die Dozenten ihren Studenten oft nichts weiter als ihre eigene Sicht der Dinge vermitteln, sprich: ideologisch eingefärbte Inhalte. Nicht selten sind es ausgerechnet Vertreter der Staatselite, die in peinlich hoher Zahl die Spitzenpositionen an neu gegründeten Universitäten und Fakultäten besetzen.
An der besten russischen Universität, der Moskauer Lomonossow-Universität, gab es 1989 nur 17 Fakultäten. Heute sind es 39, darunter die Faculty of World Politics, deren Dekan der Duma-Abgeordnete Andrei Kokoschin ist, die Faculty of Public Administration, geleitet vom neuen Stabschef der Regierung, Wjatscheslaw Wolodin, sowie die Higher School of Television, die dem ultrakonservativen Kolumnisten Vitali Tretjakow unterstellt ist. Natürlich sind sie alle Funktionäre der Partei Einiges Russland; der Rektor der Universität gehört dem Moskauer Regionalrat der Partei Einiges Russland an.
Hinzu kommt, dass sich das Immatrikulationssystem in den vergangenen Jahren dramatisch verändert hat. Während die Zulassungsprüfungen früher von den Oberschulen durchgeführt wurden, gibt es nun ein einheitliches Staatsexamen, das auch Studenten aus entlegenen Provinzen Zugang zu den städtischen Universitäten verschafft. Diese Jugendlichen bringen meist eine schlechte Sekundarschulbildung mit und müssen sich plötzlich mit ihren deutlich besseren Kommilitonen aus den Großstädten messen. Ziemlich schnell lernen sie, dass politische Loyalität in diesem ungleichen Wettbewerb durchaus von Vorteil sein kann – was wiederum eine weitere Runde feudalen Tauschhandels einläutet.
Auch heute lebt nur ein kleiner Teil der Studenten ausschließlich vom Geld der Eltern. Die meisten jobben neben dem Studium, meist in einem Umfeld, das von Hierarchiebewusstsein, Disziplin und Rationalisierungszwängen geprägt ist. Unter solchen Bedingungen scheint Opportunismus das einzig rationale Verhalten zu sein. Ein Student aus einer entlegenen Kleinstadt, der von unprofessionellen Dozenten unterrichtet wird, von dem ihn umgebenden Luxus zutiefst beeindruckt ist und mehrere Jahre für einen Konzern arbeitet, der nichts produziert, ist ein idealer Nachrücker. Auf diese Weise werden jedes Jahr Unmengen junger Landeier zu Stadtmenschen geformt; die herrschende Schicht züchtet sich ihren Nachwuchs selbst heran – und kann sich sicher sein, dass sie nahezu alle potenziellen Störenfriede in ihr neofeudales System integriert.
Eine weitere Nachwuchsreserve ist der russische Sicherheitsapparat, den vor allem Putin stark ausbaute. Die Sicherheitsorgane gewannen an Macht und Einfluss. Heute sind in Russland mehr als 200 000 Berufsoffiziere im aktiven Dienst. Über 1,1 Millionen Soldaten unterstehen dem Innenministerium; mehr als 300 000 dienen im Inlandsgeheimdienst FSB; rund 200 000 Personen arbeiten bei Generalstaatsanwälten, weitere 150 000 sind in diversen Ermittlungskomitees tätig. Etwa ebenso viele Menschen arbeiten für Steuerermittler; mehr als 100 000 sind bei der Zollbehörde und im Föderalen Migrationsdienst beschäftigt – kleinere Behörden wie die Anti-Drogen-Behörde und viele andere nicht mitgerechnet. Insgesamt sind mehr als 3,4 Millionen Menschen, also fast zwölf Prozent der arbeitenden männlichen Bevölkerung, in Organisationen und Behörden beschäftigt, die den Prinzipien der vertikalen Hierarchie und des unbedingten Gehorsams huldigen und in denen die Korruption verwurzelt ist.
Damit nicht genug: Sie sind zudem zutiefst ineffizient. Die Kriminalitätsrate in Russland ist zwischen 2000 und 2009 nicht gesunken, die Terroranschläge in den Städten wurden nicht verhindert und gerade einmal vier Prozent der durch russisches Staatsgebiet geschmuggelten oder in Russland gehandelten Drogen werden von der Polizei beschlagnahmt. Angesichts dieses Versagens neigen die Behörden zur Verschleierung im großen Stil. Jedes Jahr heißt es in den Berichten des Inlandsgeheimdiensts FSB, Hunderte von Terroranschlägen seien verhindert worden. Diese Berichte sind jedoch so vertraulich, dass niemand die tatsächliche Effektivität der Geheimdienste beurteilen kann.
Es ist aber bemerkenswert, dass 89 Prozent aller wegen Mord und schwerer Körperverletzung angeklagten Straftäter vor Gericht landen, während die Aufklärungsrate für Wirtschaftsverbrechen gerade einmal bei 9,8 Prozent liegt – was darauf schließen lässt, dass Polizei und Unternehmer die übrigen Fälle „in freundlichem Einvernehmen“ lösen.
Der Preis für die Bestechung eines Verkehrspolizisten liegt bei durchschnittlich 2000 Rubel (etwa 70 Dollar); einen solchen Job als „man on duty“ zu ergattern, kostet selbst in der Provinz bis zu 50 000 Dollar. Die am weitesten verbreitete Haltung gegenüber Polizisten ist Misstrauen und Hass. Im November 2010 wurden im Dorf Kuschewskaja in der Region Krasnodar zwölf Menschen erstochen aufgefunden, zuvor hatten Gangs die Dorfbewohner über zehn Jahre lang terrorisiert. An die Polizei wandte sich allerdings niemand, denn zu den Verdächtigten gehörten auch etliche Polizisten und Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland. Solche „Vollzugsbehörden“ voller junger Aufsteiger mit großem Ehrgeiz und keinerlei Verdiensten bilden das Milieu, aus dem die Machthaber ihren Nachwuchs rekrutieren.
Mit dem goldenen Löffel
Die nächstliegenden Nachrücker sind natürlich die Nachkommen der Staatselite selbst, die Söhne und Töchter der Spitzenfunktionäre. Dmitri Patruschew zum Beispiel, der älteste Sohn von Nikolai Patruschew, von 1999 bis 2008 Chef des Inlands-geheimdienstes FSB, wurde im Mai 2010 im Alter von 32 Jahren zum Geschäftsführer von Rosselchoz ernannt, der viertgrößten russischen Bank. Sergei Matwienko, Sohn von Valentina Matwienko, Gouverneurin von Sankt Petersburg, ist nun Vorsitzender von VTB-Development, dem Immobilienzweig der staatlichen VTB-Bank – er gehört mit 37 Jahren zu den jüngsten russischen Milliardären. Sergei Iwanow, Sohn des Vize-Ministerpräsidenten, war gerade einmal 25, als er zum Vizevorsitzenden der Gazprombank ernannt wurde, dem Finanzzweig von Gazprom – und so weiter, und so fort.
Man kann sicher sein, dass die Kinder der Spitzenfunktionäre in zehn bis 15 Jahren mindestens ein Drittel aller wichtigen Posten in der Verwaltung und im Management besetzen werden. Und es ist völlig klar, dass keiner von ihnen auch nur den geringsten Anlass hat, das bestehende System zu verändern. Sie sind der Adel des neuen Feudalismus; ihre eigenen Kinder werden, wie sie, mit dem goldenen Löffel im Mund geboren.
Etwas weniger offensichtlich ist die Einbindung der „intellektuellen Schicht“ in das System. Diese so genannte Expertengemeinschaft besteht aus Ökonomen, Sozialwissenschaftlern, Historikern und Journalisten und hatte jahrelang wenig miteinander zu schaffen. Zwar hat die große Mehrheit der führenden Meinungsmacher und Experten mit den großen, regierungsfreundlichen Thinktanks nach wie vor nichts zu tun, doch es dürfte nicht allzu schwierig sein, etliche von ihnen in von der Regierung finanzierten Programmen und Initiativen unterzubringen. Die eigenen Ansichten prominent verbreiten, im Fernsehen auftreten, bei offiziellen Veranstaltungen auf der Gästeliste stehen, Zugang zu Fördermitteln erhalten – all diese Privilegien sind ein unwiderstehlicher Köder, mit dem die Mächtigen jegliche Opposition zurückstutzen können.
Die Klügsten wandern aus
Wie steht es also um Russlands beste und klügste Köpfe? Welche Zukunft haben sie in einem neofeudalen Staat? Während Putins Präsidentschaft war es der jungen, liberalen Generation kaum möglich, irgendeine Art von legalem Protest zu äußern. In den vergangenen zehn Jahren hat sich in Russland keine neue Partei mehr offiziell registrieren lassen. Bei den beiden einzigen Registrierungen, die es gab, ging es lediglich um Zusammenschlüsse von bereits existierenden kleineren Parteien. Für ein Referendum benötigt man zwei Millionen Unterschriften, doch selbst wenn man diese Bedingung erfüllt, würden die meisten Referenden letztlich doch mit fadenscheinigen Argumenten für ungültig erklärt werden. Mit einer Ausnahme dominiert in allen regionalen Parlamenten die Regierungspartei Einiges Russland. Die Anzahl der talentierten Köpfe, die auswandern, liegt jenseits aller Vorstellung. Zwar sind keine exakten Zahlen bekannt, doch die Schätzungen belaufen sich auf 40 000 bis 45 000 Personen pro Jahr; über drei Millionen russische Staatsbürger leben heute dauerhaft in der Europäischen Union.
Davon wiederum profitiert das Mittelmaß, das sich immer weiter verbreitet. Präsident Medwedew hat begriffen, wie gefährlich diese Entwicklung ist; er versucht, die Massenflucht zu stoppen, indem er Enklaven wie das Wissenschaftszentrum Skolkowo gründet, das sich langfristig zu einer Art russischem Silicon Valley entwickeln könnte. Trotzdem sind Medwedews Bemühungen aller Wahrscheinlichkeit nach zum Scheitern verurteilt – vor allem, weil die Behörden versuchen, ausländische Wissenschaftler und ausgewanderte russische Staatsbürger mit hohen Gehältern zu locken und damit der Kommerzialisierung der Wissenschaft Vorschub leisten. Andre Geim, der im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Physik erhielt, sagte unlängst, er werde niemals nach Russland zurückkehren.
An all dem lässt sich zweierlei ablesen: In Russland wurde ein System geschaffen, in dem die Staatsmacht zu einem erdrückenden Monopol gefunden hat. Die Schaltstellen werden hauptsächlich von Freunden und Kollegen Wladimir Putins – dem Erfinder dieses Systems – kontrolliert und von pflichtbewussten, aber wenig talentierten Aufsteigern loyal verwaltet. Alle großen Konzerne sind mit den staatlichen Institutionen eng verwoben oder werden gleich ganz von ihnen kontrolliert. Die Vermögen, die in den vergangenen zehn Jahren angehäuft wurden, befinden sich in den Händen von Putin-Freunden oder von Personen, die ihm geholfen haben, seine „Negativ-Vertikale“ aufzubauen. Darum wird der Wettbewerb innerhalb der Staatselite abnehmen, die Qualität der Verwaltung weiter sinken und alles, was an effektivem Management noch übrig ist, über kurz oder lang zusammenbrechen. Trotzdem wäre es für die politische Klasse ein völlig unlogischer Schritt, diese Entwicklungen zu stoppen.
Gleichzeitig drängt eine riesige gesellschaftliche Gruppe in dieses System hinein, und das keineswegs mit dem Wunsch, es abzuschaffen (anders als in den letzten Jahren der Sowjetunion). Es ist so wie beim Pyramidentrick des Finanzbetrügers Charles Ponzi: Sie alle lassen sich von der Hoffnung anstecken, dass sie klein anfangen und irgendwann groß rauskommen – und es dann besser haben als jene, die sich dem System von vorneherein verweigern.
Im Grunde hat die Staatselite eines der reichsten Länder der Welt gekapert und privatisiert. Und sie ist so dankbar für dieses Privileg, dass es in ihrem Interesse liegen könnte, Putin für zwölf weitere trostlose Jahre als Präsident in den Kreml zurückzuwählen. Bis dahin sind die jungen liberalen Jahrgänge, an die der Westen so große Hoffnungen geknüpft hat, erwachsen. Die mittelmäßigen unter ihnen werden in das System übergehen. Die besten unter ihnen aber werden, daran besteht kein Zweifel, nicht länger in Russland leben wollen.
Prof. WLADISLAW INOSEMZEW ist Ökonom und Direktor des Center for Post-Industrial Studies in Moskau.
Internationale Politik 2, April 2011, S. 101-111