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26. Febr. 2021

Wenn alte Reiche kollidieren

Russlands Verhältnis zur Türkei und zu China erklärt sich nicht zuletzt aus der Geschichte. Aus ihr speist sich auch die weiter handlungsleitende Doktrin des „nahen Auslands“.

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Bild: Eine junge Frau schenkt einem Veteranen Blumen in Kiew
Moskau reagiert äußerst empfindlich auf Nachbarstaaten, die sich von Russland distanzieren wollen. Das Bild zeigt einen Veteranen des Zweiten Weltkriegs in Kiew – damals gehörte die Ukraine noch zur Sowjetunion.
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Der jüngste militärische Konflikt in Berg-Karabach endete mit einem entscheidenden Sieg Aserbaidschans über Armenien und der Rückgabe eines Großteils der von Armenien zwischen 1992 und 1994 besetzten Gebiete. Im postsowjetischen Raum wurde dieses Ereignis gemeinhin als Premiere wahrgenommen: Erstmals erlangte eine Zentralregierung die Kontrolle über eine rebellische Provinz zurück.





Klar ist derweil, dass der Berg-Karabach-Konflikt die erste militärische Auseinandersetzung ist, in der ausländische Soldaten auf ehemals sowjetischem Boden kämpften. Mittlerweile ist offensichtlich, dass die Türkei in dem Konflikt nicht nur Nachschubgüter, sondern auch Kommandeure und wahrscheinlich auch Ankara-treue Söldner zur Verfügung stellte. Eine Entwicklung, die durchaus als geopolitisches Erdbeben in Russlands Hinterhof betrachtet werden darf und die in Zukunft unter Politikern und Politologen noch für viele Diskussionen sorgen dürfte.



Das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei ist eine Beziehung, deren Bedeutung gemeinhin unterschätzt wird und die zudem in einem größeren Kontext betrachtet werden muss. Im Berg-Karabach-Konflikt reagierten Moskau und Ankara sehr ähnlich und verfolgten bei genauerer Betrachtung sogar mehr oder minder die gleiche Strategie.



Es gilt aber auch, ein Stück aus der Gegenwart zurückzutreten, um die Wurzeln der russischen Außenpolitik offenzulegen, denn: Die weitverbreitete Meinung, das demokratische Russland unter Boris Jelzin habe völlig anders gehandelt als der autoritäre Staat von Wladimir Putin, ist nicht ganz richtig. Vielmehr scheint es bei genauerer Betrachtung, dass Moskau sich bis heute nie an seine neue Rolle gewöhnt hat und erst recht nicht daran, dass die postsowjetischen Republiken hin und wieder auf eigene Faust handeln.



Die Formel für die ehemaligen Sowjetrepubliken lautete in Russland stets „souverän, aber nicht unabhängig“. Den postsowjetischen Raum bezeichnete man in Moskau zudem gern als „nahes Ausland“ – im Gegensatz zum realen oder „fernen Ausland“. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR sollte dieser Begriff signalisieren, dass die neuen Grenzen Russlands nicht endgültige Grenzen bleiben würden.



Im Laufe der Jahre veränderte sich seine Bedeutung jedoch erheblich. Zunächst behauptete der Kreml, man habe eine „besondere Verantwortung“ für die Gebiete in der direkten Nachbarschaft. Nicht umsonst wurden russische Friedenstruppen in Moldawien und in Georgien eingesetzt. Doch später äußerten russische Verantwortliche immer öfter ihr Unbehagen über die bestehenden postsowjetischen Grenzen. So etwa der ehemalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, der das auf der Krim liegende Sewastopol als „russische Stadt“ bezeichnete.



Mit militärischer Gewalt

Als die ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum begannen, sowohl der NATO als auch der Europäischen Union beizutreten, löste das in Moskau große Sorge aus. Zwar war man sich mehr oder weniger bewusst, dass diese Staaten zwischen dem „nahen“ und dem „fernen Ausland“ eine Art Mittelstellung einnahmen. Spätestens durch den Umstand, dass andere Länder in der russischen Nachbarschaft schon bald ähnliche Ansprüche anmeldeten, änderte sich die Haltung des Kremls jedoch. Von nun an reagierte die russische Regierung jedes Mal äußerst empfindlich, wenn eine ehemalige Sowjetrepublik sich mit der Stationierung ausländischer Truppen oder dem Beitritt zu einem nichtrussischen Militärbündnis befasste – wie im Fall von Georgien und der Ukraine 2008, den Putin in seiner berühmten Rede auf dem NATO-Russland-Gipfel in Bukarest direkt ansprach.



In der Folge änderte Russland sein Vorgehen und begann, Gewalt gegen jene Nachbarstaaten anzuwenden, die versuchten, sich von Russland zu „distanzieren“. Erstmals erkannte Moskau die zwei abtrünnigen georgischen Republiken Abchasien und Südossetien an und förderte diese ganz unverhohlen durch seine Außenpolitik. Etwa zur gleichen Zeit ergriff der Kreml eine symbolische Maßnahme, indem er verlauten ließ, dass all jene, die auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion lebten, schnelleren und einfacheren Zugang zu einer russischen Staatsbürgerschaft bekommen würden. Zwar hatte Russland schon zuvor illegal russische Pässe verbreitet, um seine Position im nahen Ausland zu stärken. Nun schuf Moskau dafür jedoch erstmals mehr oder minder legale Kanäle. 2020 erklärte sich die Russische Föderation in einem weiteren symbolträchtigen Schritt zum rechtlichen Nachfolgestaat der Sowjetunion; ein Schritt, den bis dahin kein anderes ehemaliges Imperium je gewagt hatte.



Sonderinteressenzone

In Russland rechtfertigte man diese Maßnahmen mit einem argumentativen Dreiklang. Erstens sei der außenpolitische Kurswechsel eine Frage der „nationalen Sicherheit“ und solle verhindern, dass das Ausland Einfluss auf den postsowjetischen Raum nehme. Zweitens gelte die Strategie dem Schutz der zahlreichen „Russen“ (wobei nicht klar war, ob damit Bürger der Russischen Föderation, ethnische Russen oder „Menschen, die die russische Kultur und den orthodoxen Glauben als ihre eigenen betrachten“, gemeint waren) im nahen Ausland. Und drittens sei eine enge Bindung an die ehemaligen Sowjetrepubliken nur natürlich, da sie ihre wirtschaftliche und finanzielle Stabilität nicht zuletzt Russland zu verdanken hätten – ein Punkt, der immerhin teilweise der Wahrheit entspricht: Man geht davon aus, dass allein das heutige Belarus durch seine enge Bindung an Moskau seit 2000 indirekt rund 100 Milliarden US-Dollar erhalten hat.



Zusammengenommen sollten all diese Argumente erklären, warum Russland das „nahe Ausland“ immer mehr als eine Art Sonderinteressenzone betrachtete. Um die eigenen Interessen zu sichern, bediente sich Moskau dabei einer Politik, die man auch als Förderung „gemanagter Instabilität“ bezeichnet: Indem es politische oder wirtschaftliche Probleme in den Nachbarländern schuf, machte sich Russland unentbehrlich. Wirklich gelöst wurde mit Moskaus Hilfe nur ein einziger postsowjetischer Konflikt: der tadschikische Bürgerkrieg von 1992–1994. In allen anderen Fällen versuchte der Kreml, den fragilen Status quo in seiner Nachbarschaft mit sinnlosen Debatten und leeren Versprechen jahrzehntelang aufrechtzuerhalten.



In den vergangenen Jahren kam ein weiteres Element hinzu, das man als „historisches Gedächtnis“ bezeichnen könnte. Heutzutage ist es üblich, Russland entweder mit der Sowjetunion oder dem Russischen Reich zu vergleichen. Russland gilt als Siegernation im Zweiten Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland, obwohl es das weißrussische Volk war, das in diesem Krieg die meisten Opfer zu beklagen hatte, und die Ukrainer die meisten Soldaten der sowjetischen Armee stellten. Diese bewusste Geschichtsklitterung schuf die Umstände, unter denen Russland heute als alleinige Macht ein besonderes Anrecht auf das „nahe Ausland“ formuliert. Kurzum: Russland hat es vollbracht, dass sein „nahes Ausland“ von anderen Staaten – mit Ausnahme der Türkei – nur noch als das „ferne Ausland“ betrachtet wird.



Zwei multikulturelle Reiche

Wie Russland war auch die Türkei jahrhundertelang ein mächtiges multikulturelles Imperium, das sich aus verschiedenen Territorien und Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzte. Genau wie die slawischen Völker lebten auch die Turkvölker in einem riesigen Gebiet, das sich von Sibirien bis zur Adria erstreckte. Und so wie sich das Russische Reich als „Hüter“ des orthodoxen christlichen Glaubens und Beschützer der vielen orthodoxen Völker in Südosteuropa stilisierte, so präsentierte sich das Osmanische Reich jahrhundertelang als Verteidiger des politischen Islams. Nicht umsonst kontrollierte es von 1517 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die beiden wichtigsten muslimischen Heiligtümer und galt vielen Muslimen jenseits formaler Grenzen als „natürlicher Verbündeter“.



In ihrer langen Geschichte führten die beiden Reiche mindestens zwölf Kriege gegeneinander, angefangen von ihrem ersten Aufeinanderprallen 1568 bei Astrachan bis hin zur letzten Schlacht um Bitlis im Jahr 1916. Es sei daran erinnert, dass die Krim-Khane Vasallen der osmanischen Sultane waren, die Mitte des 16. Jahrhunderts versuchten, Moskau zu erobern. Gleichzeitig war die Idee der Rückeroberung Konstantinopels in der russischen Elite bis zum Ersten Weltkrieg eine der obsessivsten Doktrinen überhaupt. Vor allem zeigte sich der Konkurrenzkampf der beiden Reiche jedoch daran, in wie vielen Gebieten sich ihre Einflusssphären historisch gesehen überschnitten: von strategischen Punkten wie Izmail im Westen bis nach Tabriz im Osten – und in fast allen Territorien, die dazwischen lagen: Bessarabien, die Krim, Asow, die Halbinsel Taman, Abchasien und Kar. All diese Gebiete gehörten einst entweder zum Osmanischen oder zum Russischen Reich.



Historisch gesehen lassen sich diese Randgebiete nicht nur als die Peripherie der russischen Welt verstehen, sondern auch als die Grenzterritorien der türkischen Welt. Die Nordküste des Schwarzen Meeres, die Krim, die georgische Küste sowie große Teile Armeniens und Aserbaidschans sind nicht nur für Russland das „nahe Ausland“, sondern auch für die Türkei. Dementsprechend ist es kein Zufall, dass das Konzept, mit dem Moskau heute seine Ansprüche im postsowjetischen Raum sichern will, entlang der südlichen Peripherie nach hinten losgegangen ist. Denn hier kann die Idee des „nahen Auslands“ ebenso gut von Ankara gedacht werden. Nicht umsonst bezeichnete die Türkei Aserbaidschan zuletzt offen als „Bruderland“. Der Berg-Karabach-Konflikt ist deshalb so einzigartig, weil er sich genau an der Nahtstelle zweier ehemaliger Imperien entwickelt hat.



Noch ähnlicher sehen sich das heutige Russland und die Türkei, wenn man ihre Außenpolitik der jüngsten Jahrzehnte betrachtet. Russland besetzte die ukrainische Krim unter dem Vorwand, die dort lebende Bevölkerung russischer Abstammung wolle die Unabhängigkeit und fordere Schutz vor ukrainischen „Nationalisten“. Ähnlich argumentierte auch die türkische Regierung, als sie 1974 die Besetzung von Nordzypern anordnete – angeblich, weil dort eine Wiedervereinigung Zyperns mit Griechenland drohte.



Immer wieder gingen die Türkei und Russland in der Vergangenheit auf Kollisionskurs, vor allem dort, wo sie ihre Kerninteressen bedroht sahen, etwa in Syrien oder Libyen. Beide Regierungen sind zudem überzeugt davon, dass ihre Landsleute auf der Krim unterdrückt und diskriminiert wurden (oder werden). Zuerst schritt Moskau ein, um eine angebliche ethnische Säuberung zu verhindern, jetzt ist es die türkische Führungsriege, die behauptet, sie müsse die Interessen der Krimtataren und der Muslime auf der Halbinsel unterstützen und könne dort deshalb keineswegs die russische Souveränität anerkennen.



Meiner Ansicht nach spiegelt sich in diesem Streit der Kampf zweier ehemals mächtiger Imperien, die dabei sind, ihre Nachbarschaftspolitik zu überdenken. Zwar waren es die Russen, die den Begriff des „nahen Auslands“ prägten. Doch es waren die Türken, die in Nordzypern erstmals nach ihm handelten.



Unbeeindruckt von Chinas Aufstieg

Experten argumentierten, dass Moskau erst jetzt erkannt habe, dass Ankara die größte Armee Europas besitzt, inklusive moderner Munition und einer größeren Armada als die russische Schwarzmeerflotte. Das allein reicht als Erklärung für die russische Unruhe jedoch nicht aus. Denn schaut man nach Osten, dann arbeitet dort mit China ein viel stärkerer und geopolitisch viel aggressiverer Gegenspieler an dem Ausbau seiner Einflusssphäre, ohne dass es Russland aus der Fassung bringt. Im Gegenteil: Bisher lassen der chinesische Vormarsch in Zentralasien und der Ausbau der Belt and Road Initiative Russland mehr oder weniger kalt.



Dabei wirkt China inzwischen wie eine Supermacht, die sich stärker in die Belange der Region einmischt als Russland. Chinesische Direktinvestitionen in Kasachstan sind fast doppelt so hoch – und in Usbekistan sogar fast zehn Mal so hoch – wie die russischen. China ist außerdem größter Handelspartner Turkmenistans, Tadschikistans und Kirgisistans, und sein Einfluss in der Region wächst – auch auf den unterentwickelten russischen Osten. Doch es gibt keine Anzeichen für eine eskalierende geopolitische Rivalität, was nicht nur auf das starke chinesisch-russische Bündnis zurückzuführen ist, das von Moskau sehr geschätzt wird, sondern auch auf drei andere wichtige Faktoren.



Erstens hat China nie längerfristige Kriege mit dem Russischen Reich geführt und stand nie in direkter geopolitischer Konkurrenz zu Moskau. Zweitens führte Russlands Eroberung Zentralasiens nie zu einer echten kolonialen Präsenz in der Region. Und drittens hat China eine lange Grenze mit Russland und wird daher in erster Linie als Nachbar und nicht als Konkurrent um „Zwischenstaaten“ betrachtet. Zudem war China über Jahrtausende ein mono-ethnisches Reich, das nur selten seine „natürlichen“ Grenzen überschritt.



Russland war stets ein kontinentales und kein Übersee-Imperium. Damit unterscheiden sich die russischen Beziehungen zu seinen ehemaligen Territorien wesentlich vom Verhältnis, das die großen europäischen Imperien zu ihren Territorien pflegten. Russland – wie auch die Türkei – behandelte seine Kolonien und Besitztümer wie Teile seines eigenen Territoriums: ein Umstand, der es für die russische politische Elite heute viel schwieriger macht, die Gebiete als unabhängige Staaten anzuerkennen.



Diese Haltung fördert die Beziehungen zu den unabhängigen Nachbarstaaten natürlich nicht gerade. Denn die Staaten im postsowjetischen Raum werden von Moskau eher als „teilweise souveräne“ Entitäten verstanden. Nicht zuletzt deshalb hat Russland seine Nachbarn nie wirklich ernstgenommen und Verträge mit ihnen oft eher als lose Absichtserklärungen verstanden. Auch deshalb hat die Eurasische Wirtschaftsunion keine Befugnisse, die nicht von den Staatsoberhäuptern (mit anderen Worten: Russland) bestätigt werden müssten – und bei der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit wurde kein Bündnisfall ausgerufen, als über Armenien im Vorfeld ein russischer Hubschrauber von aserbaidschanischen Kampfjets abgeschossen wurde.



Zbigniew Brzeziński, Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, hat einmal bemerkt, dass „Russland ohne die Ukraine aufhört, ein eurasisches Imperium zu sein“. Und deren heute weitgehend „imaginäre“ Kontrolle scheint wichtiger denn je. Die Ukraine ist zwar seit drei Jahrzehnten ein souveräner Staat. Doch dieser Umstand befeuert den russischen Imperialismus eher, als dass er ihm den Wind aus den Segeln nimmt.



Als ehemaliges Imperium besteht für Russland ein großer Unterschied zwischen der Peripherie und dem Grenzland. Während erstere von eher geringem Interesse ist (so etwa Turkmenistan und Kamtschatka), sind die Staaten in Grenzgebieten – also jene Länder, die zwischen dem imperialen Kern und dem Herzland historischer Rivalen liegen – von besonders großer Bedeutung. So wurde die Ukraine jahrhundertelang von Moskau als Grenzland und nicht als einfache Peripherie betrachtet. Der Südkaukasus hingegen könnte sich zu einem für die Region sehr bedeutsamen Grenzgebiet entwickeln, sollte Russland die armenisch-aserbaidschanische Rivalität nur durch die Linse eines russisch-türkischen Wettstreits sehen.



Ein Verständnis des postsowjetischen Raumes als Flickenteppich konkurrierender „Quasi-Grenzgebiete“ könnte unsere Sicht auf dieses riesige Territorium und die dortigen politischen Entwicklungen enorm bereichern.

Prof. Dr. Vladislav Inozemtsev ist Senior Associate im Russland- und Eurasien- Programm des Center for Strategic and International Studies in Washington, DC.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 77-82

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