IP

01. Mai 2005

Achtung Europa: Die BRICs kommen!

Ökonomie

Wenn die Europäer nicht global konkurrenzfähiger werden, dürften die großen Entwicklungsländer sie bald wirtschaftlich überholen: Was dann, Europa?

Gemessen am nominalen Bruttoinlandsprodukt (in Dollar) ist China durchaus in der Lage, bis 2041 die USA zu überholen und zur größten Volkswirtschaft der Welt zu werden, schrieb Goldman Sachs im Jahr 2003. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt wird dann möglicherweise Indien sein, und das BIP der vier so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) könnte bis zum Jahr 2050 höher sein als das der G-6, also der G-7 ohne Kanada.

„Mit den BRICs träumen: ein Blick ins Jahr 2050“ hatten wir unsere Analyse seinerzeit genannt – „träumen“, weil unser Szenario zwar eintreten kann, aber nicht eintreten muss. Denn die Träume der BRIC-Staaten können nur dann Realität werden, wenn diese Länder weit reichende wirtschaftliche und soziale Reformen durchführen. Und das ist keineswegs sicher.

Eine Reihe interessanter Fragen wirft unser Szenario aber in jedem Fall auf. Sind die Ambitionen der BRIC-Staaten für den Rest der Welt gut oder schlecht? Liegt die mögliche Entwicklung der BRICs im Interesse der derzeitigen G-7? Wie sollten die europäischen G-7-Staaten auf die zunehmende Bedeutung der BRICs reagieren? Denn in unserem Szenario wird das chinesische BIP bereits 2010 größer sein als das deutsche. Bis 2050 würde Chinas BIP fast 45 Billionen Dollar betragen und damit mehr als fünfmal so groß sein wie das von Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien zusammen.

Auch wenn man sich dies heute kaum vorstellen kann, so steht doch eines fest: Wenn China und Indien so stark wachsen wie von uns projiziert, dürften die nächsten 15 Jahre eine große Herausforderung für die G-7 sein. Sogar eine Neuauflage der turbulenten Siebziger ist denkbar. Damals sorgten deutlich höhere Rohstoffpreise für einen Inflationsanstieg, der eine straffere Geldpolitik in den G-7-Staaten erforderlich machte. Eine Phase der Stagnation war die Folge. Die steigende Energie- und Rohstoffnachfrage der BRIC-Staaten könnte die Import- und Produzentenpreise der G-7-Staaten erneut deutlich steigen lassen. Wahrscheinlich wächst die weltweite Energienachfrage in den nächsten zehn Jahren um beinahe drei Prozent jährlich. Auch verstärkte Bemühungen um die Erschließung neuer Rohstoffquellen werden einen Anstieg der Energiepreise nicht verhindern können: Das Angebot wird zwar ebenso steigen, die durchschnittlichen Produktionskosten werden aber höher sein als heute. Und die G-7-Staaten könnten sich erneut zu einer strafferen Geldpolitik veranlasst sehen.

Dennoch ist es unserer Meinung nach angesichts des abnehmenden Wirtschaftswachstums in den meisten G-7-Staaten im Interesse aller, dass die Träume der BRICs wahr werden. Denn wenn die BRICs schwächer wachsen als in unserem Szenario, würde sich auch das Wachstum der Weltwirtschaft von zurzeit etwa 3 bis 3,5 Prozent verringern. Wenn China und Indien langsamer wachsen, hätte das erhebliche Auswirkungen auf das Weltwirtschaftswachstum der kommenden 50 Jahre. Zu leiden hätten exportorientierte Branchen.

So wünschenswert der Erfolg der BRICs ist, so groß ist die Gefahr, dass die europäischen G-7-Staaten erheblich an Bedeutung verlieren. Für sie gibt es nur eine Möglichkeit, ihren relativen Abstieg zu verhindern: Sie müssen ihre Produktivität steigern und Maßnahmen ergreifen, um den Rückgang ihrer Erwerbstätigenzahlen durch Einwanderer auszugleichen. Besonders wichtig ist dies für Japan und die EU. Ohne grundlegende Arbeitsmarktreformen und erhebliche Produktivitätszuwächse wird Europa dazu verurteilt sein, eine Nebenrolle auf der Weltbühne zu spielen. Zwar mögen bis dahin viele Firmen mit Exporten nach China und Indien das Geschäft ihres Lebens gemacht haben, aber die europäischen Politiker würden in der Regel nicht mehr zum Kreis derer gehören, die einst als Nachfolger der G-7 mitbestimmen, wie sich die Welt dreht.

Der kürzlich erzielte Kompromiss über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, die Lissabon-Agenda und insbesondere die Verzögerung bei der Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie sind große Enttäuschungen. Denkweise und Führungsstil der europäischen Politiker müssen mutiger werden, und die Zeit drängt. Sie sollten jenen Faktoren größere Beachtung schenken, die hinter den Traumszenarien für die BRIC-Staaten stehen. Und das sind vor allem zwei: die Demographie und das Produktivitätswachstum. China und Indien verfügen über ein enormes Potenzial, weil sie auf viele Arbeitskräfte zurückgreifen können.

Europa kann auf die Herausforderung der BRICs reagieren, indem es versucht, seinen Blick stärker nach außen zu richten als derzeit üblich. Europa kann seine Produktivität steigern, indem es für eine bessere Ausbildung sorgt und sicherstellt, dass die Währungsunion endlich ihr volles Potenzial entfalten kann. Diese Bemühungen können durch eine gezielte Einwanderungspolitik ergänzt werden, mit der die Zahl von Menschen im arbeitsfähigen Alter erhöht wird – also genau durch das Gegenteil dessen, was zurzeit praktiziert wird.

Auch sollten sich die europäischen Politiker dazu äußern, was sie gemeinsam erreichen wollen. Es hat wenig Sinn, bis 2010 die wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft der Welt sein zu wollen, wenn man nicht zu den notwendigen Schritten bereit ist. Auch ist es wenig sinnvoll, an einem Projekt wie der Währungsunion teilzunehmen, wenn man noch immer Wettbewerbsbeschränkungen aufrechterhält. Notwendig ist etwa, der europäischen Dienstleistungsbranche zu gestatten, sich einem europaweiten Wettbewerb vollständig zu öffnen. Dann können 70 Prozent der EU-Volkswirtschaft von stärkerem Wachstum profitieren. Einen solchen Prozess zu stoppen, weil französische und deutsche Politiker den Status quo bewahren wollen, ist weder verantwortungsvoll noch Erfolg versprechend.

Ebenso unangemessen ist die in Teilen der EU sehr reservierte Haltung gegenüber einem Beitritt der Türkei und der Ukraine. Es ist zwar verständlich, dass in EU-Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit zurzeit entsprechende Vorbehalte geäußert werden. Dabei wird aber übersehen, dass der Beitritt dieser beiden großen und sehr dynamischen Volkswirtschaften einen Produktivitätsschub auslösen kann, der letztlich auch dem Arbeitsmarkt zugute kommt. Arbeitsplätze werden nicht dadurch geschaffen, dass man die Grenzen schließt, sondern indem die eigene Volkswirtschaft produktiver und international wettbewerbsfähiger wird. Wachstum ist nur möglich, wenn die dafür erforderliche Zahl gut ausgebildeter Arbeitskräfte zur Verfügung steht, und ohne Wachstum bleibt auch die Arbeitslosigkeit hoch. Die EU kann nur dann mit den erfolgreichsten Volkswirtschaften der Welt konkurrieren, wenn sie ähnliche Rahmenbedingungen schafft wie diese. So einfach ist das – zumindest in der Theorie.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 78 - 79.

Teilen

Mehr von den Autoren