Die europäische Krise
Das große Projekt in Gefahr: Europas Wirtschaft bleibt hinter dem globalen Wachstum zurück
An der politischen Front fehlt es Europa an einer gemeinsamen Richtung. Die große Vision einer immer enger zusammenwachsenden Europäischen Union und einer wissensbasierten Wirtschaft von Weltklasseniveau erlitt mit der Ablehnung der EU-Verfassung durch die Franzosen und Niederländer einen schweren Rückschlag. Kaum jemand zweifelt daran, dass die politische Situation und die schwache Konjunktur in diesen Ländern das Wahlergebnis beeinflusst haben. Grundsätzlich jedoch ist die Ablehnung der europäischen Verfassung Ausdruck einer zunehmenden Verunsicherung der Bevölkerung über das Tempo der europäischen Integration. Es ist ein Signal aus zwei wichtigen europäischen Ländern an die politische Elite Europas, dass die Vision eines immer stärker integrierten, erweiterten Europas für ihren Geschmack zu weit bzw. die wirtschafts- und außenpolitischen Ziele in die falsche Richtung gehen. Ohne größere Korrekturen ist die Verfassung mehr oder weniger gestorben.
An der wirtschaftlichen Front ist es Europa nicht gelungen, seine Versprechen zu halten – die es unvorsichtigerweise und sehr detailliert in der Agenda von Lissabon niedergelegt hat. Das Wirtschaftswachstum der letzten 10 bis 15 Jahre ist deutlich hinter dem globalen Wachstum zurückgeblieben, nicht zuletzt weil die Globalisierung für die Industrieländer neue Herausforderungen brachte. Dies ist jedoch kein gesamteuropäisches Phänomen, da in einigen Ländern am europäischen Rand eine sehr dynamische Konjunktur zu verzeichnen ist – z.B. in Irland und Mitteleuropa, die im Gegensatz zu der Beinahestagnation in einigen großen kontinentaleuropäischen Ländern steht, insbesondere in Italien und Deutschland. Die Bevölkerungsentwicklung ist nur einer der Gründe für diese schwache Entwicklung. In Wirklichkeit sitzt das Problem sehr viel tiefer, wie die mangelhafte Produktivitätsentwicklung erkennen lässt.
Es besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass das schwache Wachstum auf dem europäischen Kontinent hauptsächlich darauf zurückzuführen sei, dass es an Strukturreformen fehle. Reformen werden seit langem gefordert. Das Problem ist jedoch, die Widerstände gegen sie zu überwinden. Es gibt nach unserer Erkenntnis im europäischen Modell zwei Sollbruchstellen: Erstens wurde das Modell hauptsächlich zum Schutz der Arbeitnehmer (oder Produzenten) geschaffen, aber eindeutig auf Kosten der Verbraucher. Schon zur Zeit der Zollunion in den fünfziger Jahren kam die gemeinsame Agrarpolitik hinzu, um die Agrarpreise (und die Produktion) zu sichern, was in anderen Teilen der Welt höhere Lebensmittelpreise verursachte. Im Einzelhandel haben Schutzverordnungen indirekt für höhere Handelsspannen auf Kosten der Verbraucher gesorgt.
Eine Änderung der politischen Einstellung zu Gunsten der Verbraucher und damit zu Lasten der Arbeitnehmer und Produzenten wird nicht einfach sein, da diese Gruppen über starke Organisationen verfügen und eine mächtige Lobby haben. Manche Staaten am europäischen Rand haben es jedoch vorgemacht. In einigen dieser Länder kam es zu Auseinandersetzungen, andere schafften es durch Überzeugung – welcher Weg gewählt wird ist egal, aber Kontinentaleuropa muss dringend diesen Dialog angehen.
Zweitens hat Europa eine lange Tradition mächtiger Gewerkschaften, durch die eine Kultur des Arbeitnehmerschutzes zu Lasten und auf Kosten der Arbeitslosen entstanden ist. Die Tatenlosigkeit auf diesem Gebiet zeigt sich an dem schwachen Austausch zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit und umgekehrt. Die Folge ist, dass der Arbeitsmarkt immer mehr zu einem zweigeteilten System wird, wobei diejenigen, die einen regelmäßigen Arbeitsplatz haben, sich wenig für die schwierige Situation derer interessieren, die keine Arbeit haben.
Es sollte eine der obersten Prioritäten Kerneuropas sein, die Arbeitsmärkte flexibler zu gestalten: Arbeitnehmerschutz sowie Hemmnisse gegen Einstellung und Kündigung müssen einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden. Die Kombination aus großzügigem Arbeitslosengeld und sonstigen Sozialleistungen, einer Steuerstruktur mit Besteuerung der Personalkosten und Mindestlöhnen begünstigt Dauerarbeitslosigkeit. Auch das System der Tarifverhandlungen trägt dazu bei, eine Anpassung der Lohnkosten an die relative Produktivität zu verhindern. Deutschland, Frankreich und Italien haben deutlich strengere Arbeitsschutzgesetze im Vergleich zu Großbritannien und den nordischen Ländern.
Den europäischen Institutionen ist es auch nicht gelungen, die nationalen Regierungen dazu zu bringen, die notwendigen Reformen durchzuführen. Normalerweise ist es sinnvoll, die kurzfristigen Schmerzen, die mit Strukturreformen einhergehen, vorübergehend durch steuer- oder geldpolitische Lockerungen zu lindern. Europa hat sich jedoch den Einsatz aktiver makroökonomischer Maßnahmen zur Stärkung der Nachfrage selbst versagt. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist als zweitbeste Lösung anstelle einer gemeinsamen Finanzpolitik geschaffen worden, da ein finanzpolitischer Föderalismus nicht in Frage kam und die EZB ihre eigene Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen musste. Die Konsequenz war, dass diese beiden Institutionen implizit die Durchführung struktureller Reformen verhinderten, da für kurzfristige Schmerzen keine Mittel der Linderung vorhanden waren.
Der einzige Trost ist, dass die vom Brüsseler Konsens ausgehende sanfte Disziplinierungswirkung andererseits dazu beigetragen hat, ein besseres makroökonomisches Gleichgewicht zu schaffen als in den USA und Teilen Asiens. Dies bedeutet, dass wenn erst einmal das Vakuum der Strukturreformen beseitigt und eine aktive Nachfragepolitik in Gang gesetzt wird, die Voraussetzungen für eine langfristige Wachstumsbelebung relativ günstig sind. Damit dies aber geschehen kann, braucht Europa entweder Politiker mit außergewöhnlichen Führungsqualitäten, die bereit sind, die kurzfristigen negativen Auswirkungen der notwendigen Reformen durchzustehen oder aber eine Überarbeitung der Institutionen, so dass diese Auswirkungen durch finanz- und/oder geldpolitische Maßnahmen abgefedert werden können. Im Idealfall bekommt Europa sogar beides.
Solange diese Reformen aber nicht in Angriff genommen werden, wird das Wachstum auf dem europäischen Kontinent hinter dem Rest Europas und der Welt herhinken. Dies bedeutet, dass sich die europäische Kooperation und Solidarität immer schneller in Luft auflösen könnten. Und dieser Prozess würde letztlich dann auch das europäische Projekt selbst gefährden.
Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 62 - 63