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01. Mai 2009

Acht Stufen, verzweifelt gesucht…

Brief aus ... Odessa

Gehört die Ukraine zum Westen oder liegt ihr Platz eher im Kulturraum des Ostens? In Odessa scheint man unschlüssig zu sein, welcher Weg einzuschlagen wäre. Die einstige kosmopolitische Hafenmetropole am Schwarzen Meer ist Exempel dafür, welche Verwüstungen das totalitäre 20. Jahrhundert hinterlassen hat – präsentiert jedoch auch zaghafte Zeichen eines möglichen Neubeginns.

Natürlich ist da zuerst die legendäre weiße Treppe aus „Panzerkreuzer Potemkin“. Odessa und die Treppe, das gehört im kollektiven Kulturgedächtnis zusammen wie sonst wohl nur Rick’s Café und „Casablanca“. Doch blickt am oberen Ende der 192 Stufen der Statuenkopf des innovationsfreudigen Herzogs Richelieu – ein Nachfahre des Kardinals, der als Stadtgouverneur von 1803 bis 1814 Zarin Katharinas Traum von einer weltzugewandten Handelsstadt im Süden verwirklicht hatte – hinunter auf ein klotziges Schiffsterminal aus sowjetischer Zeit. Es ist die zu Beton gewordene Idee, die Stadt vom Meer zu trennen, zu der auch die bis zur Orangenen Revolution 2004/05 regierenden Postkommunisten ihr Scherflein beigesteuert hatten: Gerahmt von einem Gewirr Eisenbahnschienen voll rostiger Güterwagons, wird das ganze Areal gekrönt von einem 16stöckigen Hotelmonstrum. Führte die Treppe früher direkt zum Wasser, ist nun sichtbar, was das mehr als sieben Jahrzehnte hier herrschende Regime von einer Architektur hielt, die den Gedanken von Offenheit mit der Lust an merkantilem Austausch verband: nichts. Für eine Art Stadtautobahn wurden der Treppe mehr als nur acht symbolische Stufen genommen – der urbane, womöglich auch noch südlich-anarchisch geprägte Bürger sollte zum gehorsamen homo sovieticus werden.

Es ist aktenkundig, wie stark das Politbüro im fernen Moskau dieser Stadt misstraut hatte und welche Ansiedlungsstrategien es sich ausdachte, um den einst so bunten Flickenteppich grau zu färben. Über die einstige „Perle des Schwarzen Meeres“ ließe sich auch heute noch sagen: Operation gelungen, Patient nachhaltig paralysiert. Die Mienen der vorbeihastenden Einheimischen verraten keine Regung; in ihrer eher bäuerlich denn städtisch anmutenden Homogenität kein Hauch früherer ethnischer und kultureller Vermischung aus Russen, Juden, Armeniern, Griechen, Türken, Tataren oder Italienern. Bereits die Oktoberrevolution hatte die Ober- und Mittelschicht vertrieben und die Kleinbürger verproletarisiert. Im Zuge der nazideutschen und rumänischen Besetzung waren dann 99 000 Juden ermordet worden, 19 000 allein am 23. Oktober 1941 im Hafen von Odessa.

Und heute? 2007 wurde die Oper wieder eröffnet, ein reich verziertes Haus im Stil des Wiener Barock. Eine kleine Insel ist auch das Viertel um die Deribasovskaya-Straße, die an Odessas ersten Gouverneur erinnert, den Spanier José de Ribas: Ihm ist das schachbrettartige Straßenmuster zu verdanken. Wieder eingefügtes Katzenkopfpflaster, kleine Cafés und eine tatsächlich an ein Miniatur-Mailand erinnernde glasdachbeschirmte Ladenpassage an der ehemaligen „Straße der Roten Armee“. Restaurierte orthodoxe Kathedralen, unzählige vor dem Verfall gerettete Bürgerhäuser, an den Straßenecken ein paar Pferdedroschken für die überschaubare Anzahl von Touristen, dazu verglaste Werbeplakate wie in jeder anderen europäischen Stadt. Die überall beworbene Zigarettensorte trägt den protzigen Namen „Kapitalist“, und im Café Salieri hängt ein riesiger, permanent Boxwettkämpfe präsentierender Flachbildschirm, während sich über Lautsprecher ein sanfter Joe Dassin verzweifelt bemüht, doch noch ein wenig Champs-Elysées-Flair zu verbreiten. Nannte sich Odessa nicht einmal „Klein-Paris“? Gegenüber das possierlich hergerichtete Hotel „Mozart“, das in der Lobby mit dem Foto des bislang einzigen prominenten Gastes wirbt: Sylvester Stallone. Der „ukrainsky Techno“, der auf die seltsam stoisch wirkenden Gäste herunterprasselt, ist nichts weiter als konstanter Lärm, um eine gigantische kulturelle Lücke, ein geistiges Vakuum auszufüllen. Gnade, denkt der Besucher, wenn dies die Odessaer Moderne ist: Geradezu gewalttätig beschallt, während auf der Speisekarte in einem auf asiatische Lounge-Bar-Atmosphäre getrimmten Lokal Geschmacklosigkeiten wie Tsunami-Salat angeboten werden und die Autoschlüssel der jungen Neureichen auf das Teakholz-Imitat knallen, um gesellschaftlichen Status zu beweisen.

Dennoch. Zumindest die Straßen tragen keine Namen mehr wie „Feliks Dscherschinskij“ oder „Proletarskij Boulevard“. Auch leuchtet im Stadtzentrum wieder die alte Hauptsynagoge – bis 1993 war das Gotteshaus als Turnhalle benutzt worden. Ein Hinterhofhaus, das früher dem KGB diente und dessen Concierge noch immer das sowjettypische „Njet!“ aus dem zahnlosen Mund spuckt, ehe man doch durch die wurmstichige Pforte eingelassen wird, beherbergt heute den jüdischen Kultur- und Bildungsverein „Migdal“. In der Nezhinskaya, vormals Franz-Mehring-Straße, klebt schließlich neben einer verriegelten Hoftür ein an die poröse Hauswand geklebter Zettel: Odessa Jewish Museum. Ring and it will be open! Vielleicht ist gerade dies ja eine Art Beginn: eine vorsichtige Wiedergeburt der einst so mondänen Stadt aus dem Geist der Erinnerung.

MARKO MARTIN lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Jüngst erschien von ihm: „Sonderzone. Nahaufnahmen zwischen Teheran und Saigon“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2009, S. 98 - 99.

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