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01. März 2012

Zwischen Schweiß und Träumen

Die Franzosen hadern mit der Krise, ihren Politikern und sich selbst

Es sind schwere Zeiten, die die Grande Nation durchlebt. Die meisten Franzosen fühlen sich heute ärmer als zum Amtsantritt von Nicolas Sarkozy vor fünf Jahren. Und dieser legt noch einen drauf: Selten hat ein Präsident so viele unbeliebte Maßnahmen kurz vor den Wahlen angekündigt.
Kann er so seinen Herausforderer François Hollande überholen?

Wenn in Frankreich die Schließung eines Unternehmens droht, dann müssen sich die Politiker in Marsch setzen. Das gilt besonders für die Wahlkampfzeiten, in denen sich Regierungsvertreter und Opposition in den Fabrikhallen buchstäblich über den Weg laufen. So gaben sich kürzlich Forschungs­minister Laurent Wauquiez und der sozialistische Politiker Arnaud Montebourg beim französischen Wäschehersteller Lejaby im Département Haute-Loire südlich des Zentralmassivs die Klinke in die Hand.

Zu politisch motivierten Rettungsversuchen kam es auch bei der Fähr­gesellschaft Seafrance, beim Konsumentenfinanzierer Cofinoga und bei Photowatt, einem Hersteller von Solarmodulen. Bei der Ölraffinerie Petroplus an der Seine 130 Kilometer nordwestlich von Paris kreuzten sich am gleichen Tag die Wege von Indus­trieminister Eric Besson und des ehemaligen sozialistischen Premierministers Laurent Fa­bius. Nicht weniger als sieben Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im April und Mai pilgerten zu dem Ölverarbeiter, um vor den 550 Beschäftigten für die Rettung der Arbeitsplätze zu plädieren. Aufgrund der Überkapazitäten auf dem europäischen Raffineriemarkt haben die Verantwortlichen bisher aber keine Lösung gefunden.

Im Pariser Finanzministerium versucht eine eigene Einheit von Beamten, das Comité interministériel de restructuration industrielle (Ciri), schlingernden Unternehmen diskret aus der Zwickmühle zu helfen. Das Ciri vermittelt größeren Mittelständlern Kreditgeber und Investoren, stellt kostenlose Wirtschaftsprüfer zur Verfügung, hilft beim Ausarbeiten von Geschäftsplänen und organisiert staatliche Finanzierungsmittel. Seit der Finanzkrise 2008 ist die Abteilung besonders gefragt. 79 Unternehmen mit mehr als 120 000 Mitarbeitern leistete das Ciri 2010 Hilfestellung, etwa doppelt so viel wie 2007.

Die Regierung wird niemals „die Arme hängen lassen“, wenn es um die Rettung von Arbeitsplätzen gehe, sagte im Januar Premierminister François Fillon – natürlich bei einem Fabrikbesuch. In vielen Ländern geraten regierende Politiker unter Druck, wenn Werke schließen und Arbeitsplätze verloren gehen. In Frankreich aber empfinden die Politiker einen besonders großen Handlungsbedarf. Die Franzosen sind auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts weniger als andere Völker bereit, einem Schumpeterschen Konzept der schöpferischen Zerstörung zu folgen. Der Glaube an den Staat als Schlichter von Konflikten und als Beschützer vor sozialem Ungemach hat in Frankreich bekanntlich eine lange Tradition. Die Finanzkrise des Jahres 2008 mit ihren offensichtlichen Exzessen der Finanzwelt hat die Skepsis vor den privaten Kräften des freien Marktes noch verstärkt.

Auch Präsident Nicolas Sarkozy ist ein Anhänger dieses Credos, selbst wenn er zumindest in seiner Rhetorik als einer der wirtschaftsliberalsten Staatsführer Frankreichs gelten kann. Spätestens seitdem Sarkozy 2004 den französischen Industriekonzern Alstom durch eine staatliche Beteiligung vor der Übernahme durch Siemens rettete, glaubt er fest an die Berechtigung wirtschaftlicher Interventionen durch die öffentliche Hand. Im Fall von Alstom hat der Eingriff auch durchaus Erfolg gehabt. Einige Jahre später verkaufte der Staat seine Beteiligung gewinnbringend, und Alstom blieb französisch. Seine aktive Industriepolitik entspricht auch seinem Naturell des „Machers“, der nicht tatenlos dem Niedergang französischer Unternehmen zusehen kann, sondern der Erwartung der Bürger entsprechend die Ärmel hochkrempelt.

Eine schwache Industrie

Doch wie sieht die Bilanz dieser Politik aus? Sarkozy hat sie in einem Fernsehinterview Ende Januar selbst erstaunlich schonungslos umrissen: 500 000 Industriearbeitsplätze hat Frankreich im vergangenen Jahrzehnt verloren. In einem Bericht einer Regierungskommission zur französischen Industrie (anlässlich der „Etats généraux de l’industrie“ 2010) ist nachzulesen, dass der Anteil der Stellen in der Industrie an der Gesamtbeschäftigung zwischen 2000 und 2008 von 16 auf 13 Prozent sank.

In seinem Buch „Frankreich ohne Fabriken“ blickt der Ökonom Patrick Artus vergleichend ins Ausland: Danach trägt das verarbeitende Gewerbe in Frankreich nur noch 14 Prozent zur Wertschöpfung im Lande bei. In Deutschland sind es doppelt so viele, in Italien mehr als 23 Prozent, und der Durchschnitt im Euro-Raum liegt mit gut 22 Prozent noch deutlich über Frankreich. Die Schwäche der Industrie hat sinkende Anteile der französischen Exporte auf dem Weltmarkt zur Folge. Zwischen 1993 und 2003 exportierte Frankreich noch regelmäßig mehr als es importierte, doch seit dieser Periode steigt das Außenhandelsdefizit kontinuierlich und hat im vergangenen Jahr den Rekordwert von rund 70 Milliarden Euro erreicht.

Der Dienstleistungssektor kann die industrielle Schwäche nicht ausgleichen, so dass sich der Abzug der Industrie auf die allgemeine Beschäftigung durchschlägt: Die Arbeitslosenquote hat laut Eurostat im Dezember 2011 9,9 Prozent erreicht, das ist ein Fünftel mehr als in Deutschland. 2,9 Millionen Franzosen sind bei den Arbeitsämtern als arbeitslos registriert; wenn man noch jene hinzunimmt, die nur wenige Stunden arbeiten, sind es gut vier Millionen. Seit zwölf Jahren ist die Arbeitslosigkeit nicht mehr so hoch gewesen.

Nüchtern muss inzwischen auch Präsident Sarkozy feststellen: Die Masse der französischen Unternehmen ist international nicht wettbewerbsfähig. Die Speerspitze der Wirtschaft – die im Börsenindex CAC versammelten 40 größten Aktiengesellschaften – vermitteln ein trügerisches Bild. Diese 40 Konzerne sind in der Regel gut geführt und international breit aufgestellt, doch sie sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, zumal Frankreich als Absatzmarkt sowie als Produktionsstandort für viele nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Ein Konzern wie Renault etwa verkauft nur noch ein Viertel seiner Autos in Frankreich und hat mehr Beschäftigte im Ausland als in der Heimat.

Ungleich wichtiger für die Politiker und den Wirtschaftsstandort Frankreich sind die zahlreichen kleinen und mittelgroßen Unternehmen. 60 Prozent der Franzosen arbeiten in Firmen mit weniger als 250 Mitarbeitern. Doch diese Kategorie ist verwundbar, wenn nicht schon angeschlagen. Die kleinen Betriebe sind oft nicht expansiv genug, viele schrecken vor Verkäufen und Investitionen im Ausland zurück und bleiben daher meistens klein. Folglich gibt es auch zu wenig exportorientierte große Mittelständler. „In Deutschland gibt es 400 000 kleine und mittelgroße Unternehmen, die exportieren. In Frankreich sind es nur 100 000“, klagt ­Handelsminister Pierre Lellouche. „Wir müssen unser Angebot verbessern.“ Als ein Mangel gilt eine unzureichende Produktpalette im hochwertigen Segment. Abgesehen von der Luxusgüterindustrie, wo große Konzerne wie LVMH und PPR die Branche nach oben ziehen, begnügen sich viele französische Unternehmen infolge von niedrigen Investitionen in Produktion, Forschung und Entwicklung mit dem mittleren bis niedrigen Qualitätsbereich. Dort aber sind sie für Billiganbieter aus dem Ausland leicht angreifbar, denn die Produktion am Standort Frankreich ist teuer. Über etliche Jahre lagen die Lohn­steigerungen über den Zuwächsen an Produktivität. Eine Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften wie in Deutschland kannte Frankreich nicht, und der Staat trieb die Arbeitskosten mit hohen Sozialabgaben zusätzlich in die Höhe.

Unternehmen als Selbstbedienungsläden

An diesem Punkt sollte sich die Politik in der Pflicht fühlen. Doch jahrzehntelang betrachteten wechselnde französische Regierungen die Unternehmen als eine Art Selbstbedienungsladen, den sie vermeintlich ungestraft mit Steuern und Abgaben belegen konnten. Das gilt vor allem für die Sozialbeiträge der Arbeitgeber, aber auch für die vergleichsweise hohe Körperschaftssteuer, selbst wenn diese viele Schlupflöcher zulässt. Wieder kann hier Sarkozy als Kronzeuge angeführt werden, der ungeachtet seiner Amtsführung in den vergangenen fünf Jahren kürzlich ein wahrheitsgetreues Zeugnis ablegte: „Bei einem Beschäftigten mit 4000 Euro Bruttogehalt zahlt ein deutsches Unternehmen 840 Euro Sozialabgaben im Monat, in Frankreich aber das Doppelte“, sagte er im Fernsehen. Die Rechnung der Unternehmen ist somit leicht erstellt: Je mehr Beschäftigte in Frankreich gehalten werden, desto teurer wird es.

Wie ein Gefängniswächter dem Gefangenen, legt der Staat den Unternehmen eine schwere Kugel ans Bein. Denn aus zwei Gründen braucht er hohe Mittel: Der französische Staat gibt mehr aus als andere Länder, und das Sozialsystem benötigt für die Umverteilung viel Geld. Auf 56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sind die Staatsausgaben unter Sarkozy geklettert, sechs Prozentpunkte mehr als im Durchschnitt der EU. Nur Irland und Dänemark hatten 2010 höhere Staatsausgaben. Die Sozialausgaben sind auf 20 Prozent des BIP gestiegen, „einer der höchsten Werte in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)“, wie die in Paris ansässige Organisation in ihrem jüngsten Länderbericht schreibt. Die krisenbedingte Ausweitung der Arbeitslosigkeit hat die Sozialausgaben zusätzlich aufgebläht.

Eine weitere Ursache ist der traditionell große Beamtenapparat Frankreichs. Sarkozy hat zwar mit einer gegen großen Widerstand durchgesetzten Regel gegenzusteuern versucht: Nur einer von zwei in Ruhestand gehenden Beamten wurde ersetzt. Doch die so eingesparten 150 000 Stellen entsprechen nur sieben Prozent der staatlichen Belegschaft. Sarkozy ließ auch mindestens die Hälfte der Einsparungen durch Gehaltserhöhungen an die verbliebenen Beamten zurückfließen. Die der Pariser Kontrolle entgehenden Regionen, Départements und Kommunen stellten in den vergangenen Jahren zudem munter neues Personal ein.

Die Effektivität des französischen Staatsdiensts gilt dabei übrigens als gering, wenn man dem World Bank Governance Indicator Glauben schenkt. Danach liefern unter den großen OECD-Ländern nur der öffentliche Dienst von Italien, den Vereinigten Staaten und Japan schlechtere Leistungen.

Die hohen Staatsausgaben hat sich Frankreich bisher auch deshalb geleistet, weil sich der Staat am Kapitalmarkt leicht verschulden konnte. Seit 1975 hat keine französische Regierung mehr einen ausgeglichenen Haushalt präsentiert. Doch es fanden sich immer wieder Investoren, die bereitwillig die französischen Staatsanleihen zeichneten. Ein steigender Anteil kam davon aus dem Ausland, sodass die ausländischen Finanziers heute zwei Drittel der französischen Staatsschuld halten. Der letzte Zahlungsausfall Frankreichs liegt schließlich lange zurück, das war im Jahr 1797. Der Bankier Michel Pébereau warnte 2005 in einem Bericht vor der „Leichtigkeit der öffentlichen Verschuldung“, doch obwohl seine Studie von der Regierung beauftragt worden war, blieb sie ungehört.

Spätestens an einem Freitag, den dreizehnten – nämlich den 13. Januar 2012 – fand die vermeintliche Sorglosigkeit aber ein jähes Ende. Frankreich verlor an diesem Tag das seit den siebziger Jahren gehaltene AAA-Höchstrating von Standard & Poor’s. Die Herabstufung erschütterte die gesamte politische Klasse Frankreichs. Nicht mehr auf Augenhöhe mit Deutschland zu stehen, erzeugte einen tiefen Schock. Seit dem 13. Januar darf in keiner Wahlkampfrede die Erläuterung einer Strategie zur Schuldeneindämmung fehlen. Dabei sind die Fakten seit langem bekannt. Frankreich blickt heute auf eine Staatsschuld von rund 85 Prozent des BIP. Das ist viermal so hoch wie in den siebziger Jahren. 1788, neun Jahre vor dem letzten Zahlungsausfall, hatte die Staatsschuld Frankreichs auch die 80-Prozent-Grenze überschritten, berichten Wirtschaftshistoriker. Heute warnen Ökonomen, dass ab der 90-Prozent-Grenze eine Schuldenspirale droht, die schwer unter Kontrolle zu bringen ist.

Sarkozys Endspurt

Unter Sarkozy stieg die Fremdfinanzierung um knapp 500 Milliarden Euro. Diesen Hinweis lässt sich der in den Umfragen führende Präsidentschaftskandidat François Hollande von der Sozialistischen Partei selten entgehen. Die beiden Hauptkontrahenten, Hollande und Sarkozy, wollen die staatliche Neuverschuldung bis 2013 von 5,4 auf 3 Prozent des BIP senken. Doch sie schlagen unterschiedliche Wege ein. Hollande setzt auf eine höhere Belastung von Wohlhabenden und großen Unternehmen. Eine staatliche Mittelstandsbank soll die Kreditlücke auf dem privaten Bankenmarkt schließen. Kleinunternehmen werden steuerlich entlastet.

Sarkozy dagegen will in den vergangenen Monaten verpasste Reformchancen ergreifen und verlangt den Franzosen große Anstrengungen ab. Dabei geht er ein hohes politisches Risiko ein, denn seine Vorschläge unter dem Leitziel der Wettbewerbs­fähigkeit sind unpopulär. Die Mehrwertsteuer will Sarkozy von 19,6 auf 21,2 Prozent erhöhen, obwohl diese Steuer bekanntlich die ärmeren Schichten härter trifft als die reicheren. Auch der für die Konjunktur wichtige Konsum der Haushalte könnte darunter leiden. Die erhofften Steuereinnahmen sollen allein den Unternehmen zugutekommen, indem ihre Sozialbeiträge sinken. Für die Arbeitnehmer ist keinerlei Beitragsentlastung vorgesehen. Zudem will der Präsident die gesetzlich vorgeschriebene Wochenarbeitszeit von 35 Stunden, nach deren Überschreitung Überstundenzuschläge bezahlt werden müssen, zugunsten der Unternehmen weiter auflockern. Nach seinem Willen sollen Gewerkschaften und Arbeitgeber in den Betrieben individuelle Arbeitszeitmodelle aus­handeln dürfen, die Lohnverzicht gegen Beschäftigungssicherung vor­sehen. Die Arbeitszeit soll an die Auftragslage angepasst werden können. Wenn Unternehmen und Gewerkschaften sich auf solche Modelle einigen, wäre dies das faktische Ende der 35-Stunden-Woche.

Selten hat ein französischer Präsident so viele unbeliebte Maßnahmen kurz vor den Wahlen angekündigt. Obendrein zitiert Sarkozy unablässig Deutschland als das leuchtende Beispiel. Mit dem Verweis auf „le socialiste Gerhard Schröder“, der Reformen durchsetzte, zu denen Hollande niemals in der Lage sei, will Sarkozy gegen die Linke punkten. Doch er geht das Risiko ein, dass die Franzosen ihn nur als halbsouveränen Kandidaten an der Seite einer übermächtigen Angela Merkel sehen. Hollande spricht bereits von Sarkozys „Unterwerfung“.

Doch der Präsident weiß, dass die Verteidigung seiner Bilanz allein in die Sackgasse führen würde. Sarkozy steht im Vergleich zu seinem reformscheuen Vorgänger Jacques Chirac sicher nicht mit leeren Händen da: Die Rentenreform, die das Eintrittsalter zum Bezug einer Vollrente von 60 auf 62 Jahre erhöhte, war angesichts der lang anhaltenden Streiks im Jahr 2010 ein gelungener Kraftakt. Im Universitätsbereich sorgte Sarkozy für mehr Autonomie der Hochschulen. Die Unternehmen entlastete er von der Gewerbesteuer, und die Gewerkschaften im öffentlichen Verkehr verloren an Blockademacht, weil ihre Mitglieder die Arbeitsniederlegungen nun offiziell anmelden müssen, damit die Unternehmen sich besser auf Personalausfälle einstellen können.

Die Finanzkrise und Sarkozys fehlender Reformwille in der Anfangszeit werfen aber dunkle Schatten auf seine Bilanz. Am Alltag der Franzosen haben seine Reformen wenig verändert. Als Präsident der Kaufkraft, als der sich Sarkozy 2007 präsentiert hatte, darf er heute nicht mehr auftreten. Denn unter dem Druck der Globalisierung und beunruhigt von der Krise des Euro-Raums fühlen sich die meisten Franzosen heute ärmer als zum Amtsantritt von Sarkozy vor fünf Jahren.

CHRISTIAN SCHUBERT ist Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 94-99

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