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01. Sep 2017

Der Start-up-Präsident

Emmanuel Macron muss den Frankreich-Konzern wieder flott machen

Nach dem Hochgefühl seines Wahlsiegs im Mai ist Frankreichs Präsident in der Wählergunst schnell gefallen. Doch das sollte nicht überraschen: Seine Regierung muss Reformen unverzüglich anpacken, denn das Land steht vor gewaltigen Herausforderungen. Die Frage ist, ob Macron die Früchte seiner Politik in ein paar Jahren ernten kann.

Die Amerikaner sprechen von einer „honeymoon period“, die Deutschen von einer „Schonfrist“, und die Franzosen von einem „état de grâce“. Wie immer man die kritikfreie Einarbeitungszeit eines Amtsträgers kurz nach seiner Wahl bezeichnet, für Emmanuel Macron ging sie recht schnell zu Ende. Vier Monate nach seinem Einzug in den Elysée-Palast hat sich längst der beschwerliche Alltag wieder der französischen Politik bemächtigt. Von der Leichtigkeit des jungen Präsidenten, der über Wasser zu gehen schien, ist nur noch wenig zu spüren. Laut Umfragen ist Macron heute unbeliebter als François Hollande zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Amtszeit. Seit Jacques Chirac im Jahr 1995 hat kein französischer Präsident so schnell an Popularität verloren.

Dabei könnte der jüngste Machthaber Frankreichs seit Napoléon Bonaparte eine Art politischen Welpenschutz gut gebrauchen. Ein Großteil der Abgeordneten seiner vor anderthalb Jahren gegründeten Partei sind politische Anfänger, und das ist so gewollt. Bewusst hat Macron Vertreter der Zivilgesellschaft ins Parlament geholt, gerade solche mit Erfahrungen aus der Welt der Wirtschaft. Die Nationalversammlung ist nun erheblich jünger und weiblicher geworden. Pannen sind da unvermeidlich, die Neulinge müssen erst lernen, sich in den Medien in Szene zu setzen und die Hiebe der Opposition links und rechts wirksam zu erwidern.

Zudem haben sich Macron und seine Regierung mit Entscheidungen und Ankündigungen unbeliebt gemacht, die in weiten Teilen der Öffentlichkeit mindestens als ungeschickt empfunden wurden: Die rasche Entlassung des streitbaren Generalstabschefs Pierre de Villiers galt als überaus autoritär. Zudem erschien die Ankündigung, das Wohngeld für Studenten und Niedrigverdiener um fünf Euro im Monat zu senken wie der Anfang eines sozialen Kahlschlags.

Gleichzeitig schwangen in diesen Entscheidungen aber auch unterschwellige Botschaften mit, die noch nützlich sein können. Sie lauten: Mit dem 39-jährigen Hausherrn im Elysée ist nicht zu spaßen, der Mann kann auch in militärischen Fragen, die bisher als seine Achillesferse galten, Führungskraft zeigen. Zudem hat Frankreich zu lange über seine Verhältnisse gelebt und muss nun sparen – gerade bei den Sozialleistungen, dem größten Ausgabenblock des Staates. Macron lässt die Franzosen mit diesen sichtbar eingeschlagenen Pflöcken wissen, womit sie zu rechnen haben.

Auch wenn der Präsident seine Reformen erfolgreich voranbringt, werden sie ihm in der Anfangszeit keine Beliebtheitsmedaillen einbringen. Macron muss das Land sanieren und den Franzosen damit liebgewonnene Besitzstände und Privilegien wegnehmen. Ansonsten kann Frankreich nicht die Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen, die es für den wirtschaftlichen Erfolg und den Erhalt seines Sozialmodells braucht.

Würde Macron dabei populär bleiben, müsste man fast stutzig werden – gerade in einem Land wie Frankreich, wo die Bürger Reformen meist nur als abstraktes Konzept gutheißen, nicht aber als konkrete Politik mit unangenehmen Folgen. Macron scheint verstanden zu haben, dass er mit den Einschnitten nicht warten darf; ansonsten bleibt ihm in seiner fünfjährigen Mandatsperiode keine Zeit, die möglichen Früchte seiner Reformen zu ernten.

Teuflisches Viereck

Der Blick auf die großen makroökonomischen Kennziffern zeigt das Ausmaß der Herausforderungen. Der frühere deutsche Wirtschaftsminister Karl Schiller beschwor vor Jahrzehnten ein „magisches Viereck“ aus stabilen Preisen, hoher Beschäftigung, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum. Frankreich ist heute dagegen in einem „teuflischen Viereck“ gefangen. Es setzt sich zusammen aus hohen Staatsausgaben, hoher Steuerbelastung, hoher Staatsverschuldung und hoher Arbeitslosigkeit. Das eine bedingt das andere. Diese Interdependenzen zwingen Macron und seine Regierung dazu, die großen Übel des Landes gleichzeitig anzupacken.

Bei zwei der vier genannten Makroindikatoren steckt Frankreich in einer besonderen Zwangslage, die dringenden Handlungsbedarf signalisiert: In keinem anderen Land Europas sind die Staatsausgaben so hoch – rund 57 Prozent des Bruttoinlands­produkts (BIP). Dieser Posten befeuert die anderen Brandherde, er muss daher Priorität haben. Bleiben die Staatsausgaben hoch, können weder die Belastung durch Steuern und Sozialabgaben noch die Staatsverschuldung sinken. Laut der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) hatte unter den 35 OECD-Mitgliedsländern 2015 nur Dänemark eine höhere Abgabenbelastung als die Franzosen mit ihren 45,5 Prozent des BIP. Deutschland erscheint demgegenüber mit 36,9 Prozent fast schon als Gnadenreich für Steuerzahler.

Bei der französischen Staatsverschuldung ist das Bild ebenfalls finster: Weil Frankreich seit 1975 keinen ausgeglichenen Haushalt mehr hatte, lastet das staatliche Fremdkapital mit fast 99 Prozent des BIP auf der Bilanz – Tendenz steigend. Denn noch 2016 haben sich die Franzosen mit 3,4 Prozent des BIP neu verschuldet, was die EU-Kommission als „exzessiv“ bezeichnet. Im laufenden Jahr will Macron die Maastricht-Grenze von 3 Prozent unterschreiten – für Frankreich wäre das innerhalb der vergangenen zehn Jahre eine Premiere.

Macron hatte als einziger Präsidentschaftskandidat die Einhaltung des Maastrichter Schlüsselkriteriums schon für 2017 versprochen. Er sieht dieses Ziel nicht nur in einem engeren ökonomischen Zusammenhang: Anders könne Frankreich keine Glaubwürdigkeit in Europa zurückgewinnen, gerade nicht gegenüber Deutschland, betont er. Sein Konkurrent François Fillon von den Republikanern hielt die Unterschreitung der 3-­Prozent-Grenze dagegen erst zu einem späteren Zeitpunkt für möglich. Er wollte zunächst durch massive Steuersenkungen das Wachstum ankurbeln und verwies darauf, dass Ausgabenkürzungen nicht sofort Wirkung zeigen würden.

In dieser Frage ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Auf jeden Fall wollen keynesianische Ökonomen, von denen es in Frankreich viele gibt, immer wieder zuerst das Wachstum mit neuen Staatsausgaben oder mit Steuersenkungen ankurbeln. Die Franzosen kennen dieses Lied nur allzu gut: Wechselnde Regierungen haben diesen Weg des geringsten Widerstands immer wieder gewählt – mit dem enttäuschenden Ergebnis, dass am Ende lediglich die Staatsverschuldung stieg.

Macron glaubt daher, dass er Vertrauen für Investitionen und Konsum nur schaffen kann, wenn er die Staatsausgaben senkt und gleichzeitig die Steuern zurückführt – aber nicht in Form eines abrupten Umschwungs, wie ihn Fillon wollte, sondern moderat. Schließlich plant auch Macron ein staatliches Investitionsprogramm von 50 Milliarden Euro. Der Präsident will auf diesem Weg die Wachstumsdynamik entfalten, um Steuereinnahmen zu steigern und die Verschuldung zu verringern. Soweit der Plan. Die Opposition hält das für die Quadratur des Kreises. Doch einen Versuch ist es wert, zumal es kaum Alternativen gibt.

Emmanuel, der Glückliche

Dabei scheint Macron ein Faktor zugute zu kommen, der in der Politik oft entscheidend ist: das Glück. Der Mann hat bemerkenswerte Fähigkeiten, doch er profitierte auch immer wieder von besonders günstigen Umständen – zuerst im Wahlkampf von Skandalen und Selbstzerfleischung der Gegner, und nun in wirtschaftlicher Hinsicht.

Denn schon vor seinem Amtsantritt hatte das Wachstum wieder Fahrt aufgenommen. Zwischen Oktober 2016 und Juni 2017 wuchs das BIP um jeweils 0,5 Prozent pro Quartal. Solch eine Wachstumsstrecke gab es zuletzt, aber wirklich nicht sehr lang, zwischen Ende 2010 und Anfang 2011. Die Banque de France erwartet auch für das dritte Quartal 2017 einen BIP-Zuwachs um 0,5 Prozent. Damit kommt die Wirtschaft jetzt in Reichweite des Wachstumsdurchschnitts im Euroraum, den das Statistikbüro Insee in diesem Jahr auf 1,8 Prozent ansetzt.

Somit ist die Wachstumsprognose von Macrons Regierung von 1,6 Prozent für 2017 (nach 1,1 Prozent im Vorjahr) fast schon erreicht; manche Analysten halten 2018 sogar 2 Prozent für möglich. „Nach fünf Jahren mit unterdurchschnittlichem Wachstum erlebt Frankreich endlich wieder einen spürbaren Aufschwung“, meint Ludovic Subran, Chefökonom beim Kreditversicherer Euler Hermes. „Es ist eine Aufholjagd, die sich mit dem üblichen Wachstumsschub nach einer Präsidentschaftswahl verbindet. Das Risiko, dass die Luft wieder rausgeht, ist indes weiter da. Die Haushaltspolitik und die Geldpolitik sind wichtiger denn je, um für das kommende Jahr eine starke Dynamik zu erhalten – trotz der Reformkosten.“

Die äußeren Rahmenbedingungen sind günstig: Die Zinsen der Europäischen Zentralbank (EZB) und die Energiepreise sind schon länger niedrig, zudem notierte auch der Euro längere Zeit auf Tiefkurs. So fassten die französischen Unternehmen seit dem vergangenen Herbst wieder etwas mehr Vertrauen, sie investieren und stellen mehr Mitarbeiter ein. Im zweiten Quartal 2017 hat der Privatsektor so viele Stellen geschaffen wie seit Ende 2011 nicht mehr. Fast 300 000 Arbeitsplätze sind in den vergangenen zwölf Monaten insgesamt entstanden. Das schlägt sich in der anhaltend hohen Arbeitslosenquote von 9,6 Prozent nur deshalb nicht nieder, weil die hohe Geburtenrate immer wieder neue Bewerber in den Arbeitsmarkt eintreten lässt.

Ihre Qualifikation ist nicht immer ausreichend. „130 000 Menschen verlassen weiterhin jedes Jahr ohne jeden Abschluss die Schule; sie sind praktisch nicht vermittelbar“, urteilt Patrick Artus, Chefvolkswirt der Invest­mentbank Natixis. Macron will das komplexe System der beruflichen Bildung einer Generalüberholung unterziehen. Die duale Ausbildung, wie sie Deutschland kennt, rufen französische Politiker immer wieder zum Vorbild aus. Doch bisher hat man kaum Erfolge erzielt. In Berufsschulen wird weiter meist am Bedarf vorbei ausgebildet.

Schon in frühen Jahren geht auf dem Bildungsweg vieles schief. Frankreich weist in den internationalen Vergleichen besonders im Grundschulbereich erhebliche Mängel auf, etwa bei der finanziellen Mittelzuweisung. Macron hat versprochen, in den sozial angespannten Gebieten die Grundschulklassen auf jeweils zwölf Schüler zu senken. Für die ohnehin überlasteten Einrichtungen und die Verwaltung dahinter wird das ein Kraftakt. Viele Schulen sind schon überfordert, Ersatzlehrer bereitzustellen, wenn das Stammpersonal krankheitsbedingt ausfällt.

Um den jungen Leuten eine berufliche Perspektive zu geben, braucht Frankreich indes auch eine gesunde Wirtschaftsstruktur. Doch das Land durchlebt einen strukturellen Wandel, der ihm den Atem abschnürt: Der Niedergang der französischen Industrie macht Politik und Bürgern schwer zu schaffen. Seit 1970 hat sich der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der nationalen Wertschöpfung halbiert – auf nur noch 11 Prozent. Den Abstieg zu stoppen, ist eine Aufgabe für Jahrzehnte. Frankreich hat zweifellos erhebliche industrielle Stärken in Branchen wie der Luxusindustrie, Luft- und Raumfahrt sowie Bauindustrie und Pharmazie, doch es mangelt insgesamt an qualitativ hochwertigen Angeboten, die preisresistent sind.

Das zuletzt anziehende Wachstum hat daher vor allem die Einfuhren nach Frankreich gestärkt. Die französischen Unternehmen können die Inlandsnachfrage nicht mehr stillen. Die ganz großen von ihnen sind nur noch zum Teil in Frankreich vertreten. Im Zuge der Globalisierung haben sie weite Bereiche der Produktion ins Ausland verlegt. Die kleinen Unternehmen sind zu jung oder zu wachstumsschwach, um für Ausgleich zu sorgen. Mittelgroße Betriebe, die viel exportieren und im Ausland investieren, sind rar.

Kein Talent für die Industrie?

Das Phänomen der Industrieschwäche ist gar nicht mal neu. Schon 1998 stellte der französische Wirtschaftshistoriker Louis Bergeron in einem weit beachteten Buch (mit Patrice Bourdelais) die titelgebende Frage: „Hat Frankreich vielleicht kein Talent für die Industrie?“ Sylvain Broyer, ein französischer Ökonom, der ebenfalls für Natixis arbeitet, hat kürzlich errechnet, dass das französische Warenangebot schon seit 20 Jahren nicht mehr die Nachfrage im Inland deckt. Wenn der französische Konsum um 1 Prozent stieg, dann wuchsen die Importe jeweils durchschnittlich um 1,8 Prozent. Broyers Schlussfolgerung: Erfolgreich fabriziert Frankreich vor allem ein permanentes Außenhandelsdefizit.

„Man vergleicht Frankreich immer mit Deutschland, dabei ähnelt es eher Spanien. Doch das Problem ist, dass die Produktion in Frankreich um 20 Prozent teurer ist als in Spanien“, ergänzt sein Kollege Artus. Nur Großbritannien hat in Europa einen ähnlichen Abstieg des verarbeitenden Gewerbes erlebt. Doch die Briten verfügen über flexiblere Wirtschaftsstrukturen, etwa einen Dienstleistungssektor mit niedrigen Löhnen.

Frankreich lehnt diesen Weg ab. Immerhin will das Land aber sein starres Arbeitsrecht lockern. Dies soll die Entlassungskosten für die Unternehmen senken und vorhersehbarer machen. Die Unwägbarkeiten bei arbeitsrechtlichen Gerichtsverfahren lassen viele Arbeitgeber heute vor Neueinstellungen zurückschrecken. Mehr Rechtssicherheit soll die Unternehmen bestärken, ihre Hemmungen am Arbeitsmarkt abzulegen. Zudem ist geplant, dass künftig Unternehmen und Gewerkschaften Fragen der Vergütung und Arbeitszeit auf Betriebsebene lösen.

Die so eingeleitete Entmachtung der ideologischen Gewerkschaftszentralen in der Hauptstadt soll Anstrengungen wie Lohnverzicht und kostenlose Überstunden ermöglichen, damit die Unternehmen Krisen meistern können. Das ist weit mehr als Symbolpolitik. Die Reform des Arbeitsrechts wird im Herbst zu Demonstrationen einiger Gewerkschaften führen, doch insgesamt ist die Arbeitnehmerfront bisher erstaunlich ruhig geblieben.

Die größere Flexibilität will Macron den Franzosen indes nicht ohne Gegenleistung zumuten. Die Arbeitslosenversicherung soll ihre Leistungen ausweiten und auch Arbeitnehmer absichern, die von sich aus kündigen. Zudem ist geplant, die Selbstständigen unter das Dach der Arbeitslosenversicherung zu holen. Dabei soll die Verwaltung des Versicherungsapparats den Sozialpartnern entzogen und unter die Obhut des Staates gestellt werden. Das sind weitreichende Umbauten und teure Versprechen, deren Finanzierung noch in den Sternen steht. Macron schwebt auf jeden Fall ein System der „flexi-sécurité“ nach skandinavischem Vorbild vor. Der Staat soll ein enges Auffangnetz knüpfen, dabei müssen die Arbeitnehmer aber mehr Flexibilität mit häufigeren Kündigungen und Neubewerbungen akzeptieren, so seine Vorstellung.

Auf diese Art hofft Macron, Frankreich eine neue Dynamik verpassen zu können. Bei vielen jungen Franzosen kommt sie schon in der Gründung von Start-up-Unternehmen zum Ausdruck. Gerade in Paris ist eine rege Szene von Leuten entstanden, die ihrer reichlich vorhandenen Kreativität freien Lauf lassen. Zusammen mit den großen Konzernen repräsentieren die jungen Betriebe das Frankreich, das die Globalisierung als Chance und nicht als Bedrohung begreift.

Auch Macron ist ein Start-up-Unternehmer – politisch gesehen. Seine Partei „La République en Marche“ begann als politische Neugründung. Nur wenige alte Haudegen der Politik standen ihm zur Seite, dafür aber viele junge Leute mit Laptop und Kopfhörer im Ohr. Obwohl anfangs verlacht, hatte sein Projekt spektakulären Erfolg. Fast aus dem Nichts heraus degradierte er die Altparteien zu Splittergruppen im Parlament. Nun muss der Start-up-Präsident zeigen, dass er den Frankreich-Konzern wieder flott machen kann.

Christian Schubert ist Wirtschaftskorrespondent der FAZ in Paris. Im Juni erschien sein Buch „Der neue französische Traum. Wie unser Nachbar seinen Niedergang stoppen will“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 70 - 75

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