Das große Bangen
Die zweitgrößte Volkswirtschaft des Euro-Raums steckt in einer tiefen Krise. Dem angeschlagenen Präsidenten François Hollande gelingt es nicht, durch Reformen Impulse zu setzen und eine neue Dynamik zu entfachen. Gegen schwaches Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit und die außer Kontrolle geratene Staatsverschuldung findet Paris keine Mittel.
Die 1850 gegründete Gießerei Loiselet im Département Eure-et-Loir, 70 Kilometer westlich von Paris, ist ein urfranzösisches mittelständisches Unternehmen. Vor mehr als zehn Jahren sah man dort keine andere Möglichkeit, als den Hochkostenstandort Frankreich zu verlassen und einen Großteil seiner Produktion in China anzusiedeln. „Folgen der Globalisierung“ – „was kann man da machen“ – „mit den Chinesen können wir eben nicht mithalten“ – so lauteten damals die Kommentare in der lokalen Wirtschaft und Politik. Dann aber wurde im Mai 2012 der sozialistische Politiker François Hollande in das Präsidentenamt gewählt, und er ernannte seinen Parteifreund Arnaud Montebourg zum „Minister für den industriellen Wiederaufbau“. Montebourg gehört zum linken Flügel der Sozialistischen Partei Frankreichs, er ist ein Anhänger von Staatsinterventionismus und ein Gegner des Freihandels. „Steigt aus der Globalisierung aus!“ betitelte er ein Büchlein, das zum Wahlkampf herauskam.
Das „Hemd nass machen“ für die Unternehmen?
Montebourg ließ von Anfang an keine Gelegenheit aus, um sich als Retter der kleinen und mittelständischen Unternehmen zu beweisen. Er eilte von einem schließungsbedrohten Standort zum anderen; er rief Technologieoffensiven ins Leben, gründete die Initiative „made in France“ und ließ sich in den Medien als jemand feiern, „der sich das Hemd für die Unternehmen nass macht“, wie etliche Wirtschaftsvertreter anerkannten, auch wenn sie mit seinen linken Ansichten nicht einverstanden waren.
Mit einigen Großkonzernen kam Montebourg schlecht aus, doch das tat seinen Sympathien im Mittelstand keinen Abbruch, im Gegenteil. So drohte er dem indischen Stahlunternehmer Lakshmi Mittal, der 2007 mit dem französischen Arcelor Europas größten Stahlhersteller übernahm, mit Verstaatlichung; der Peugeot-Familie warf er angesichts der Krise beim gleichnamigen Autohersteller blankes Versagen vor. Umso mehr befriedigte es ihn, dass die französische Regierung später bei Peugeot-Citroën Aktionär und damit mitbestimmende Kraft in diesem Urgestein der französischen Industrie werden konnte. Beim Industriekonzern Alstom stieg der französische Staat ebenfalls ein, um das einstige Vorzeigeunternehmen nicht gänzlich dem amerikanischen Konkurrenten General Electric zu überlassen. Und auch im Fall des französischen Online-Videodiensts Dailymotion handelte der Wirtschaftsminister aus nationalistischen Motiven: Er verbot kurzerhand den Verkauf an Yahoo, weil das Unternehmen französisch bleiben sollte.
All diese Transaktionen kosteten den Staat nicht nur viel Geld – Alstom und Peugeot-Citroën zusammen rund 2,5 Milliarden Euro –, sie sind in Wirklichkeit nur Notlösungen, weil den kriselnden Unternehmen die Geldgeber wegliefen. Montebourg jedoch sprach bei jedem dieser Eingriffe stets vom Anbruch einer neuen Ära, in der der Staat nicht nur als Retter, sondern auch als Gestalter der Wirtschaft zurückgekehrt sei.
Bei der Gießerei Loiselet mit ihren gut 100 Mitarbeitern meinte die französische Politik sogar noch mehr Grund zum Feiern zu haben, denn das Unternehmen hatte im Jahr 2010 China den Rücken gekehrt und war zurück nach Frankreich gezogen. Der Staat versüßte diesen Entschluss noch unter der Regierung von Präsident Nicolas Sarkozy, indem er 22 Prozent am Kapital von Loiselet übernahm. Der Industrieminister Christian Estrosi und sein Nachfolger Montebourg riefen andere Standortflüchtlinge dazu auf, es Loiselet gleich zu tun und nach Frankreich zurückzukehren.
Doch die Freude an der Heimat hielt bei Loiselet nicht lange an, schon sechs Monate später musste ein Handelsgericht das Unternehmen unter Gläubigerschutz stellen. Der Staat griff dem Unternehmen mit frischem Geld unter die Arme, konnte den Niedergang aber nicht aufhalten. Das Beispiel dieser Gießerei zeigt folgendes: Der französische Mittelstand ist finanziell zu schwach auf der Brust und kommt mit dem internationalen Wettbewerb nicht zurecht. Die Nachfrage aus der Heimat reicht nicht, um die Kapazitäten auszulasten.
Der Staat ist oft machtlos
Schnell wird der Staat zu Hilfe gerufen, doch oft ist er machtlos. Wahrscheinlich richtet die öffentliche Hand sogar mehr Schaden an, als ihr bewusst ist, denn es werden falsche Erwartungen geweckt. Dass Firmen davon ausgehen können, im Zweifelsfall vom Staat gerettet zu werden, ist keine gute unternehmerische Grundlage. Nicht selten gehen die Betriebe deshalb unkalkulierbare Risiken ein oder ruhen sich auf früher erworbenen Lorbeeren aus. Der Staat setzt Fehlanreize, wie die Ökonomen sagen. Die von Joseph Schumpeter beschriebene „schöpferische Kraft der Zerstörung“, aus der durch Betriebsschließungen Raum für neue Wettbewerber entsteht, kommt nicht zur Wirkung.
„Die Verantwortung des Staates ist es nicht nur, die Stärken unseres Landes zu bewahren, sondern auch Frankreich in jene Bereiche zu platzieren, welche die Wirtschaft von morgen und übermorgen darstellen, also die strategisch wichtigen Sektoren“, sagte Hollande im September. So reden die französischen Präsidenten seit Jahrzehnten; den industriellen Niedergang aber konnten sie nicht stoppen. Den weltweit tätigen Großkonzernen, die der Börsenindex CAC-40 symbolisiert, wie Total, Sanofi, Axa, Accor, Vivendi, Safran und Vinci, geht es in der Regel gut, doch sie verlagern immer mehr Produktionen ins Ausland. Kleinere Unternehmen wachsen kaum nach. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung brach laut der OECD in den Jahren 2000 bis 2012 von 15,2 auf 10 Prozent ein. Neuere Zahlen liegen nicht vor, der Trend dürfte sich seither aber eher noch verstärkt haben. Der Anteil an der Beschäftigung sank zwischen 2000 und 2012 von 14,2 auf 10,5 Prozent. In diesem Zeitraum gingen in Frankreich nicht weniger als 800 000 Stellen im verarbeitenden Gewerbe verloren.
Der Rückgang der Industrie ist ein wichtiger struktureller Grund für Frankreichs Rekordarbeitslosigkeit. Hinzu kommen konjunkturelle Gründe: Die französische Wirtschaft dümpelt seit geraumer Zeit ausgelaugt vor sich hin, weil der Inlandskonsum stagniert, die Unternehmen nicht investieren und die europäische Nachfrage schwach ist. In der ersten Jahreshälfte stagnierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP), und für das Gesamtjahr rechnet die Regierung inzwischen nur noch mit einem Wachstum von 0,4 Prozent.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Frankreich ist im Herbst 2014 nicht zu vergleichen mit europäischen Krisenländern wie Griechenland, Portugal oder auch Italien. „Frankreich hat immer noch viele Trümpfe, eine tolle Infrastruktur, hervorragende Grandes Ecoles, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt und eine der höchsten Geburtenraten in Europa“, betonte Jacques-Antoine Granjon, Gründer des erfolgreichen Internetunternehmens vente-privee.com, in einem Zeitungsbeitrag, der den Franzosen Mut machen sollte. Die internationalen Investoren haben derzeit noch Vertrauen. Das wichtigste Kennzeichen sind dafür die Zinsen für französische Staatsanleihen: Sie sind niedriger denn je, weil sich die internationalen Investoren um die Anleihen fast schon reißen. Von Angst vor einem möglichen Zahlungsproblem Frankreichs fehlt jede Spur. Die Zinsen für kurzlaufende Anleihen notieren sogar negativ, das heißt: Die Investoren bezahlen dafür, dass sie ihr Geld Frankreich leihen dürfen.
Trotz dieses Runs auf französische Staatsanleihen hat sich keine Gelassenheit eingestellt, am wenigsten bei den Politikern. Sie beobachten die Zinsen weiterhin wie die Milch auf dem Herd. Dazu haben sie guten Grund, denn angesichts von Reformstau, Rekordarbeitslosigkeit und wiederholter Revisionen der wirtschaftspolitischen Ziele kann in Frankreich niemand auf anhaltend günstige Finanzierungsbedingungen vertrauen. Jeden Monat erhöht sich die Arbeitslosigkeit – seit der Wahl von Hollande stieg ihre Zahl um 500 000 auf mehr als 3,4 Millionen Personen, rund 10 Prozent der Erwerbstätigen. Und das stagnierende Wachstum zerstört die Hoffnung auf eine rasche Wende.
Unkontrollierbare Staatsausgaben
Zudem bekommt die sozialistische Regierung die Staatsausgaben nicht in den Griff: Anfang September musste sie abermals eingestehen, dass sie die Neuverschuldung nicht so abbauen kann, wie sie es gegenüber der EU-Kommission und den europäischen Partnerländern versprochen hatte. Im Wahlkampf 2012 verkündete der Kandidat Hollande noch feierlich, dass Frankreich 2013 das Drei-Prozent-Ziel des Maastricht-Vertrags erreichen werde. Daraus wurde nichts, und so gewährte die EU-Kommission zähneknirschend zwei weitere Jahre zum Erreichen der Zielmarke. Doch auch daran ist Frankreich gescheitert. Jetzt soll es 2017 werden, bis Frankreich wieder die Anforderungen von Maastricht einhält – so wie das letzte Mal im Jahr 2007.
Sicherlich: Die Sozialisten weisen zu Recht auf die explosionsartig gewachsenen Staatsschulden unter Nicolas Sarkozy hin. In dessen Amtszeit von 2007 bis 2012 erhöhte sich die Gesamtverschuldung um 600 Milliarden Euro oder rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zur Rezessionsbekämpfung warf er teure Konjunkturprogramme an, die das Defizit in zwei Jahren über die Marke von 7 Prozent hoben. Die Sozialisten versprachen nach Sarkozys Abwahl die Sanierung des Haushalts, doch sie scheiterten bisher kläglich. Nach einer Neuverschuldung von 4,9 Prozent im Jahr 2012 fiel der Wert 2013 zwar auf 4,3 Prozent; doch in diesem Jahr soll er wieder wachsen – voraussichtlich nur um 0,1 Prozentpunkte, doch symbolhaft zeigt sich damit der Richtungswechsel. Die sozialistische Regierung hat die Haushaltskonsolidierung zu einem zweitrangigen Ziel erklärt. Sie ist der Ansicht, dass eine weitere Schuldeneindämmung nur das Wachstum belasten würde, woran dann wiederum der Kampf gegen die Schulden scheitere.
Doch diese Rechnung geht nicht auf: Vielmehr steckt das ganze Land in einer tiefen Vertrauenskrise. Die Unternehmen investieren weder in Ausrüstungen noch in neues Personal. Staatliche Ausgabenkürzungen würden in dieser Lage sicherlich einigen Unternehmen Aufträge rauben und die Kaufkraft der Haushalte senken. Doch auf der anderen Seite könnte neue Hoffnung auf ein Comeback Frankreichs entstehen, wenn die Regierung durch Einhaltung ihrer Ziele endlich Glaubwürdigkeit gewinnen würde. „Die Unternehmen wissen, dass die Schulden von heute die Steuern von morgen sein können. Deshalb fehlt es ihnen an Zuversicht“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Arbeitgeberverbands Medef, Geoffroy Roux de Bézieux, im August. Als Unternehmer steht er mit beiden Beinen im Wirtschaftsleben. „Reformerfolg ist nur mit einer erfolgreichen Kontrolle der Staatsfinanzen zu haben“, erklärte auch der Medef-Präsident Pierre Gattaz.
Die sozialistische Regierung aber will alles tun, um „Austerität“ zu verhindern. Damit sind harte Sparpläne gemeint, die das Land angeblich in eine Deflationsspirale reißen würden. Nun ist die Inflation tatsächlich außergewöhnlich niedrig, aber es gibt keine Anzeichen für eine klassische Deflation, bei der die Konsumenten Ausgaben zurückhalten, weil sie auf sinkende Preise hoffen. Das wäre in der Tat gefährlich. Der Konsum ist in Frankreich indes weiterhin eine Stütze der Konjunktur. Die Unternehmen ächzen aber unter hohen Sozialabgaben und Steuern. Im Januar 2014 kündigte der Präsident eine bemerkenswerte verbale Wende hin zu einer „Angebotspolitik“ an. Für einen Sozialisten war dieses Wort bisher Teufelszeug. Hollande versprach den Unternehmen Entlastungen von 41 Milliarden Euro, nachdem er die Steuerlast zuvor – wie schon die Vorgängerregierung – massiv angehoben hatte. Doch bisher ist davon noch nicht viel bei den Unternehmen angekommen. Das Außenhandelsdefizit – Symbol der französischen Wettbewerbsschwäche – sinkt zwar, doch zum großen Teil, weil die Importe wegen der schwachen Inlandsnachfrage nachlassen, nicht weil die Exporte zunehmen.
Keine Impulse „von oben“
Die wirtschaftliche Misere findet Ausdruck in einer Mutlosigkeit, die selten so tief saß. Das politische System Frankreichs hängt von Impulsen „von oben“ ab, sprich vom Elysée-Palast. Doch wer dort Führungskraft sucht, findet nur gähnende Leere. So erreicht die Unbeliebtheit von François Hollande immer neue Rekorde, keiner seiner Vorgänger war so unpopulär. Den einen gehen schon die zaghaften Reformen seit seinem Amtsantritt zu weit, für die anderen tut er zu wenig. Eine Mehrheit der Franzosen wünscht sich seinen Rücktritt vor dem Ende der Amtszeit 2017.
Auch die Ernennung des dynamischeren Manuel Valls zum Premierminister im März brachte bisher keine Wende zum Besseren. Immerhin trennte sich Valls im August von linken Rebellen in der Regierung wie Montebourg und Erziehungsminister Benoît Hamon. Damit setzte er ein Zeichen zugunsten der Fortsetzung eines wirtschaftsfreundlichen Kurses. Doch politisch stellt sich die Frage, ob die sozialistische Mehrheit den Schwenk mitmacht. Und in der Wirtschaft kommt es darauf an, von welchen Reformen die Unternehmen konkret profitieren. Die Regierung hat neben der Senkung von Steuern und Abgaben eine große Entbürokratisierungs-Offensive versprochen. Expandierende Unternehmen behindern etwa die an die Beschäftigtenzahl geknüpften Schwellenwerte für die Einhaltung neuer Vorschriften. Wer mehr als 50 Beschäftigte hat, muss einen Betriebsrat einrichten, weshalb viele Unternehmen bei 49 Mitarbeitern nicht mehr wachsen wollen. Diese Schwellen sollen nun abgemildert werden. Zudem verspricht die Regierung mehr Deregulierung, etwa bei den Öffnungszeiten im Einzelhandel am Sonntag sowie bei den freien Berufen.
Führende Unternehmerpersönlichkeiten plädieren heute mit deutlichen Worten an die Regierung, nicht von ihrer wirtschaftsfreundlichen Politik abzulassen. Der Vorstandsvorsitzende des Versicherungskonzerns Axa, Henri de Castries, fordert neben Strukturreformen vor allem eine Senkung der Staatsausgaben, die mit 57 Prozent des BIP einen der europäischen Spitzenwerte erreichen. „Der ineffiziente Staat muss zurückgedrängt werden. Er ist übergewichtig und frisst alles. Am Ende leiden darunter die Schwächsten“, sagt der Manager, der mit Hollande im gleichen Jahrgang die Kaderschmiede ENA (Ecole Nationale d’Administration) besuchte, in einem Zeitungsinterview. „Wenn wir 4 Prozent Defizit bei Staatsausgaben von 40 bis 42 Prozent hätten, wäre die Arbeitslosigkeit geringer, der Außenhandel stärker ausgeglichen und die Wirtschaft wettbewerbsfähiger.“
Doch Frankreich geht in großen Schritten auf Staatsschulden von 100 Prozent des BIP zu. Bald muss sich das Land in absoluten Zahlen mehr Geld leihen als Deutschland. Doch die Einsichtsfähigkeit für den Reformbedarf ist noch schwach ausgeprägt. Das zeigen die permanenten Angriffe sozialistischer Politiker auf die Europäische Zentralbank, die EU-Kommission und die Bundesregierung, die angeblich nicht genügend für europäische Wachstumsimpulse tun.
Auch Manager, die den Sozialisten nahe stehen, wie der Total-Vorstandsvorsitzende Christophe de Margerie, mahnen die Regierung, endlich bei einem konsequenten Reformkurs zu bleiben: „Wenn man den Leuten sagt, dass man das Defizit verringert, dann sorgt man dafür, dass es auch dazu kommt, denn wir brauchen mehr Wettbewerbsfähigkeit, die eine Rückkehr zu Wachstum erlaubt.“ Die aktuelle Vertrauenskrise resultiere daraus, dass niemand den Franzosen die Wahrheit über den Reformbedarf erklärt habe, findet de Margerie, dessen Unternehmen im französischen Raffineriegeschäft hohe Verluste einfährt und daher über Standortverlagerungen nachdenken muss.
Vieles läuft weiter in die falsche Richtung. So wird die Liste bürokratischer Vorschriften in den Betrieben, etwa für das Rentensystem oder die Ausbildung junger Leute, immer länger statt kürzer. Etliche sozialistische Symbolsteuern bestehen weiter, beispielsweise die 75-Prozent-Steuer für Einkommen ab einer Million Euro. Sie ließ sich verfassungsrechtlich zunächst nicht durchsetzen, deshalb brummte die Regierung sie einfach den Unternehmen auf, die sie in Höhe von 50 Prozent plus Sozialabgaben für ihre Spitzenverdiener abführen müssen. Erst Ende 2014 läuft die „Reichensteuer“ aus, die in der ganzen Welt zum Symbol von Hollandes Irrwegen geworden ist.
Die sozialistische Regierung hat die Hände nicht in den Schoß gelegt – doch die durchgesetzten Reformen greifen nicht weit genug. In den Betrieben ist es nun möglich, in Absprache mit den Gewerkschaften in den Phasen eines Abschwungs die Arbeitszeit mit der Auftragslage schwanken zu lassen und die Löhne für eine begrenzte Zeit einzufrieren. Doch ein Befreiungsschlag war das auf dem verkrusteten Arbeitsmarkt noch lange nicht. Gleichzeitig wurde etwa der Einsatz von Teilzeitkräften eingeschränkt. Das lange Bücherregale füllende Arbeitsrecht hat weitere Vorschriften hinzubekommen. Auch die 35-Stunden-Woche – ein Symbol sozialistischer Interventionspolitik – herrscht nach wie vor. Premierminister Valls begrüßte zwar die nun möglichen Abweichungen auf Betriebsebene, lehnte die Abschaffung der landesweit einheitlichen Arbeitszeitgrenze aber ab. Die Unternehmen fordern, dass die Abweichung von der 35-Stunden-Woche künftig nicht nur in Krisenzeiten, sondern generell möglich ist.
Die Franzosen arbeiten zu wenig
Nach den eher zaghaften Umbauten in Hollandes Anfangszeit steht bald wieder eine Rentenreform an. Die Zahl der für eine Vollrente nötigen Beitragsjahre soll bis 2030 von 41,5 auf 43 Jahre steigen. Das wird für eine dauerhafte Beseitigung der Defizite nicht ausreichen. Die Franzosen arbeiten sowohl in Bezug auf die Jahres- als auch die Lebensarbeitszeit zu wenig; die Sozialbeiträge sind daher zwangsläufig hoch.
Neu sind immerhin die Inhalte der politischen und sozialen Debatten in Frankreich. „Wettbewerbsfähigkeit“ ist kein Schimpfwort mehr. Vor allem in der Sozialistischen Partei werden frühere Tabuthemen wie die hohen Staatsausgaben offen angesprochen. Dahinter kann die Partei nicht mehr zurück, auch nicht, wenn sie sich in der kommenden Legislaturperiode womöglich in einer Oppositionsrolle wiederfindet. Ein neuer Präsident und eine neue Regierung hätten es dann womöglich leichter, Frankreich die unausweichlichen Reformen aufzuzwingen. Das wäre die optimistische Sichtweise. Ein pessimistisches Szenario dagegen würde von fortgesetztem Reformstau und in der Folge vom Aufstieg extremer Kräfte handeln – vor allem am rechten Rand mit dem Front National, dem die Protestwähler scharenweise zulaufen. Mit einem starken Front National würde Frankreich völlig unkalkulierbar werden.
Viele Unternehmen haben in Frankreich allerdings keine Zeit, um bis 2017 auf ein besseres Umfeld zu warten. Die genannte Gießerei Loiselet westlich von Paris ist inzwischen von Investoren aus Algerien übernommen worden. Nur ein Teil der Beschäftigten kann bleiben. Das Bangen hat für sie kein Ende – wie auch für Europa das Bangen um Frankreich noch nicht beendet ist.
Christian Schubert ist Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Paris.
IP Länderporträt 3, Oktober 2014 - Februar 2015, S. 6-15