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01. März 2006

Zusammenhänge sehen, Chancen nutzen

Empfehlungen der Weltkommission für internationale Migration

Nach Schätzungen gibt es 185 bis 200 Millionen Migranten in der Welt. Was diese Wanderungsbewegungen für die Herkunfts- und Aufnahmeländer ökonomisch und politisch bedeuten, wird oft diskutiert. Weniger werden Zusammenhänge von Migration und Sicherheit, Entwicklung, Integration und Menschenrechten beachtet. Die UN-Kommission hat neue Handlungsprinzipien auch für diese Aspekte der Zuwanderung vorgelegt.

Migration war immer eine Konstante der menschlichen Entwicklung; sie hat in vielen Ländern erheblich zum wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt beigetragen. Migranten gehören oft zu den besonders dynamischen und unternehmerisch denkenden Menschen und nehmen zum Teil große Belastungen und Gefahren auf sich, um für sich und ihre Familien bessere Lebensbedingungen zu schaffen.

Mit der fortschreitenden Globalisierung hat die globale Mobilität zugenommen. Die Globalisierung hat Millionen Menschen aus Armut und Not erlöst, aber sie hat die Kluft zwischen Arm und Reich nicht verringert. In vielen Fällen sind die Ungleichheiten noch gewachsen. Viele Entwicklungsländer schaffen es nicht, das wirtschaftliche Wachstum zu erzielen, das nötig wäre, um ihrer jungen und schnell wachsenden Bevölkerung eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung zu stellen. Und auch wenn weltweit immer mehr Menschen in pluralistischen Demokratien leben können, gibt es immer noch zu viele undemokratische und unfähige Regierungen, Korruption, Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und politische Verfolgung. In zahlreichen Kriegen und Konflikten sind Minderheiten durch ethnische Vertreibungen gefährdet.

Derzeit wird die Zahl der internationalen Migranten auf 185 bis 200 Millionen Menschen geschätzt, und es spricht viel dafür – genaue Daten liegen dazu leider nicht vor –, dass die Wanderungsbewegungen schneller wachsen als die Weltbevölkerung. Auch wenn der Anteil der Menschen, die dauerhaft außerhalb ihres Heimatlands leben, immer noch erstaunlich gering ist und nur etwa drei Prozent der Weltbevölkerung beträgt, nehmen die weltweiten Wanderungsbewegungen zu, und sie werden komplexer. So wird beispielsweise die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und politischen Wanderungsgründen, also zwischen Migranten und Flüchtlingen, die jahrzehntelang die internationale Politik und das Völkerrecht strukturiert hat, immer schwieriger, ebenso die Unterscheidung zwischen befristeter und dauerhafter Zuwanderung. Das liegt vor allem daran, dass es inzwischen neue Wanderungsformen gibt, bei denen die Migranten nicht definitiv ein- oder auswandern. Sie leben und arbeiten vielmehr wiederholt in einem anderen Land; so genannte Pendelwanderungen und zirkuläre Wanderungen haben zugenommen.

Die Vorschläge der Weltkommission

Die von UN-Generalsekretär Kofi Annan im Jahr 2003 eingesetzte Weltkommission für internationale Migration hat sich vor allem mit den Zusammenhängen zwischen Migration und anderen Politikfeldern befasst. Die Kommission hatte die Aufgabe, ein kohärentes, umfassendes und globales Konzept für den Umgang mit internationaler Migration zu erarbeiten. Sie sollte als unabhängiges Expertengremium Defizite der bisherigen Migrationspolitik analysieren, daraus politische Empfehlungen ableiten und eine globale Debatte zwischen den Staaten und anderen Akteuren über Migration fördern.

Die Kommission legte am 5. Oktober 2005 ihren Bericht „Migration in einer interdependenten Welt: Neue Handlungsprinzipien“ vor. Kern der politischen Vorschläge waren generelle und universell gültige Handlungsprinzi-pien für die Migrationspolitik. Nach Auffassung der Kommission müssen für eine umfassende und nachhaltige Migrationspolitik die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Migration und anderen Politikbereichen genauer als bisher analysiert und bewertet werden.

Während es seit langem eine intensive politische Diskussion über die Zusammenhänge von Migration, Beschäftigung und den wirtschaftlichen Aspekten von internationalen Wanderungen gibt, wurden die Zusammenhänge von Zuwanderung mit Sicherheit, Entwicklung, Integration und Menschenrechten bislang weitaus seltener zum Gegenstand einer internationalen Debatte. Das aber sollte sich angesichts der Bedeutung dieser Zusammenhänge, die im Folgenden stichwortartig zusammengefasst werden, dringend ändern.

Seit einigen Jahren hat das Interesse am Zusammenhang von Migration und Sicherheit besonders stark zugenommen. Seit den Terroranschlägen auf die USA sind viele Menschen in den Industrieländern der Ansicht, dass es eine direkte Verbindung zwischen Migration und dem internationalen Terrorismus gibt. Aber auch zahlreiche andere Themen der inneren und äußeren Sicherheit werden in Zusammenhang mit Migration gesehen. So wird zum Beispiel die Kriminalität von Zuwanderern besonders aufmerksam verfolgt (und oft in sachlich unangemessener Weise diskutiert), in vielen Staaten bestehen Sorgen wegen der Kriminalität gegenüber Zuwanderern und fremdenfeindlichen und rassistischen Delikten, und es gibt Befürchtungen über den politischen Extremismus von Zuwanderern. Außerdem wird die irreguläre Zuwanderung von vielen als Bedrohung gesehen.

Solche Bedrohungswahrnehmungen müssen auch dann von der Politik ernst genommen werden, wenn sie einer empirischen Grundlage entbehren. Eine verantwortungsbewusste Politik muss irrealen Ängsten Fakten entgegensetzen, aber auch über reale Gefahren informieren und gegen sie vorgehen. Politik darf nicht dramatisieren, aber auch nicht abwiegeln. Es ist daher wichtig, die Zusammenhänge von Migration und Sicherheit differenziert und sachlich zu analysieren. So wird in dieser Diskussion in der Regel übersehen, dass Migranten oft auch einen erheblichen Beitrag zur Sicherheit in ihren Herkunftsländern leisten. Indem sie dort die Armut reduzieren, Arbeitslosigkeit abbauen, den Wissens- und Kenntnisstand der Bevölkerung ihres Heimatlands erhöhen oder nach ihrer Rückkehr politische und wirtschaftliche Funktionen einnehmen, stärken sie die menschliche und gesellschaftliche Sicherheit in diesen Gebieten und leisten einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung ihres Landes.

Entwicklung: Potenziale erkennen

Die Zusammenhänge zwischen Migration und wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung sind zahlreich. Zum einen gehören Entwicklungs-defizite, vor allem ein Mangel an Arbeitsplätzen und nachhaltigen Einkommensmöglichkeiten, zu den wichtigsten Wanderungsursachen. Zum anderen haben viele Industriestaaten einen Mangel an bestimmten Arbeitskräften, oft gleichzeitig mit einer hohen allgemeinen Arbeitslosigkeit. Außerdem tragen die Migranten zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer bei.

Ein wichtiger Aspekt sind Rücküberweisungen. Das Volumen dieser Geldströme hat deutlich zugenommen. Im Jahr 2004 wurden die Rücküberweisungen auf 150 Milliarden Dollar geschätzt, was einen Anstieg um 50 Prozent innerhalb von fünf Jahren bedeutete. Fast die Hälfte dieser Überweisungen wurde zwischen Entwicklungsländern vorgenommen, wobei Migrantinnen und geringer verdienende Migranten oftmals einen höheren Anteil ihres Einkommens überwiesen als andere. Laut Schätzungen der UN waren die Hauptempfängerländer von Rücküberweisungen im Jahr 2004 Mexiko (16 Milliarden Dollar pro Jahr), Indien (9,9 Milliarden Dollar) und die Philippinen (8,5 Milliarden Dollar), obwohl die Rücküberweisungen anteilig am BIP in kleineren Ländern wie Jordanien (23 Prozent), Lesotho (27 Prozent) und Tonga (37 Prozent) weit höher liegen. Vergleichsweise besonders gering waren die Rücküberweisungen in das südliche Afrika; diese machten nur 1,5 Prozent der weltweiten Überweisungen aus.

Diese Rücküberweisungen können eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Herkunftsländer spielen, wenn die dortigen Regierungen ein Umfeld schaffen, in dem dieses Kapital nicht für konsumptive Zwecke ausgegeben wird. Rücküberweisungen sind privates Kapital, und die Staaten sollten den Transfer solcher Mittel fördern, indem sie die Verfahren vereinfachen und die Kosten senken. Das würde auch die Verwendung informeller (und unsicherer oder nicht rechtmäßiger) Wege reduzieren.

Auch Auswanderung kann zur Entwicklung eines Landes beitragen, wenn dadurch ein exzessiver Arbeitskräfteüberschuss abgebaut wird. Einen wichtigen entwicklungspolitischen Beitrag leisten inzwischen auch viele Diasporas und ethnische Vereine, die ihre Herkunftsregionen finanziell und mit Ideen und Anregungen unterstützen. Kehren Migranten in ihre Herkunftsländer zurück, bringen sie oft Kapital, neue Kenntnisse, Fähigkeiten und Kontakte mit, die sie zum Aufbau von Betrieben und Unternehmen nutzen können. Dafür gibt es inzwischen zahlreiche Beispiele, etwa von indischen Rückkehrern aus den USA, die maßgeblich zur Entstehung der indischen Computerindustrie beigetragen haben. Die OECD schätzt außerdem, dass die 30 bis 40 Millionen außerhalb ihres Landes lebenden Chinesen im Jahr 2004 über 45 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen in der Volksrepublik getätigt haben. Die Regierungen in den Herkunfts- und Aufnahmestaaten sollten daher solche Aktivitäten von Diasporagemeinden unterstützen.

Gleichwohl können auch die am besten ausgebildeten und aktivsten Menschen auswandern. Das entzieht den Herkunftsstaaten dringend benötigtes Humankapital und verhindert, dass die Staaten die oft mit sehr knappen Ressourcen erzielten Kenntnisse und Fähigkeiten nutzen können. Wenn die Auswanderung bestimmter Berufsgruppen stark zunimmt, kann sie sogar Versorgungsengpässe und damit ein erhebliches Entwicklungsrisiko bedeuten. So sind beispielsweise seit dem Jahr 2000 mehr als 16 000 Krankenschwestern aus dem südlichen Afrika nach Großbritannien ausgewandert und haben große Lücken in die medizinische Versorgung ihrer Heimatländer gerissen. So praktizieren in Sambia nur noch 50 der seit der Unabhängigkeit dort ausgebildeten 600 Ärzte.

Dieser Braindrain ist schwer zu beeinflussen. Viele der bisher diskutierten Ansätze, beispielsweise Kompensationszahlungen für die Herkunftsländer oder die Formulierung von Codes of Conduct für die Rekrutierung solcher Arbeitskräfte haben Nebenwirkungen oder sind unpraktikabel. Hier müssen neue Wege gesucht werden, unter anderem bei der Entwicklungshilfe. Diese muss dazu beitragen, dass die Arbeitsbedingungen in den Herkunftsländern nachhaltig verbessert und damit Anreize für die Auswanderung reduziert werden. Auch müssen die Aufnahmeländer ihre Hausaufgaben machen und größere Anstrengungen unternehmen, um die Fachkräfte, die sie brauchen, auch auszubilden.

Irreguläre Migration als Sicherheitsrisiko

Große öffentliche Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren in den meisten Industrieländern auch die irreguläre Migration gefunden. Sie ist ein weltweites Phänomen. Die OECD schätzt, dass etwa 10 bis 15 Prozent der in Europa lebenden 56 Millionen Migranten einen irregulären Status haben, also entweder keine gültige Aufenthaltsgenehmigung oder keine Arbeitsgenehmigung besitzen. Die Zahl der Irregulären in Indien wird auf 20 Millionen Menschen geschätzt, in den USA auf über zehn Millionen. Irreguläre Zuwanderung hat eine Reihe von negativen Folgen. In größerem Umfang kann sie das Vertrauen der Bürger in die staatliche Fähigkeit, Wanderung zu steuern, ernsthaft beeinträchtigen. Sie unterläuft die staatliche Souveränität und die Rechtsstaatlichkeit und kann über die Verbindung mit organisierter Kriminalität, die im Bereich der Einschleusung inzwischen ein lukratives Geschäftsfeld entdeckt hat, ein Risiko für die innere Sicherheit eines Landes darstellen. Sie kann die Korruption fördern und fremdenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung schüren. Vor allem aber kann die Irregularität das Leben und die Sicherheit der Migranten selbst gefährden. So schätzt das International Centre on Migration Policy, dass jährlich 2000 Migranten bei dem Versuch sterben, irregulär von Afrika nach Europa zu gelangen. Mexikanische Konsulate gehen davon aus, dass jährlich 400 Mexikaner beim illegalen Grenzübertritt in die USA ihr Leben verlieren. Zudem ist irreguläre Migration häufig mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen verbunden und verstößt gegen fundamentale Menschenrechte.

In den letzten Jahren haben die Industriestaaten große Summen in die Kontrolle ihrer Außengrenzen investiert. Dies hat sicherlich die Zahl der irregulären Zuwanderer reduziert, war aber oft nicht so effektiv wie die Regierungen erhofften. Häufig haben diese Bemühungen zudem Nebeneffekte und wirken sich auch auf die eigenen Staatsbürger aus, wenn etwa biometrische Daten in Personaldokumenten gespeichert werden. Grenzkontrollen müssen grundsätzlich mit anderen kurz- und langfristigen Maßnahmen kombiniert werden, wenn sie erfolgreich sein sollen. Dazu gehört zunächst, dass sich die Regierungen der Aufnahmestaaten um eine Reduzierung der Nachfrage nach irregulären Arbeitskräften bemühen, etwa durch eine schärfere Verfolgung von Unternehmen, die illegal beschäftigen. Die Aussicht, eine bezahlte Arbeit zu finden – legal oder illegal – ist immer noch der stärkste Antrieb für irreguläre Zuwanderung.

Die Staaten müssen sich auch mit dem Problem auseinander setzen, dass die Abschiebung von ausreisepflichtigen Ausländern zu den schwierigsten Aufgaben der Migrationspolitik in demokratischen Staaten gehört. Abschiebungen, vor allem wenn sie auf Widerstand der Migranten stoßen und Menschenrechtsorganisationen auf Rechtsverstöße aufmerksam machen, finden große öffentliche Aufmerksamkeit. Die Verhinderung von irregulärer Zuwanderung hat daher für viele Regierungen Vorrang. Die Regierungen sollten aber auch pragmatische Wege für den Umgang mit den im Land lebenden Irregulären finden. Viele Staaten haben in der Vergangenheit Legalisierungsaktionen durchgeführt, um die Lebenssituation von Menschen, die zum Teil jahrelang in illegalen Verhältnisse leben, zu verbessern.

Gleichwohl müssen die Staaten konsequent gegen den Menschenschmuggel vorgehen. Ein besonders schweres Vergehen ist der Menschenhandel. Auch wenn es sich um unterschiedliche Phänomene handelt, müssen in beiden Fällen die Verursacher nachdrücklich strafrechtlich verfolgt und entsprechend bestraft werden, die Opfer müssen geschützt werden. Hierfür gibt es inzwischen erfolgversprechende Pilotprojekte, über die ein internationaler Austausch der Strafverfolgungsbehörden organisiert werden sollte.

Bei allen Versuchen, irreguläre Zuwanderung zu reduzieren, bleibt es eine zentrale Herausforderung für alle Staaten, ihre Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und aus anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen zum Schutz von Flüchtlingen einzuhalten. Diejenigen, die nachweisbar politisch verfolgt sind, müssen Schutz in einem anderen Land finden können, wofür der Zugang zu diesem Land und die Chance, ihre Fluchtgründe in einem fairen Asylverfahren überprüfen zu lassen, unabdingbar sind. Dieser Zugang, der inzwischen vor allem im Zuge der sich ausbreitenden Drittstaatenregelung und der Bestimmung „sicherer“ Herkunftsländer nicht mehr gegeben ist, muss wieder sichergestellt werden. Das internationale System zum Schutz von Flüchtlingen, das eine der wichtigsten humanitären Errungenschaften der zivilisierten Welt darstellt, darf nicht zerstört werden.

Integration: Vielfalt und Zusammenhalt

Mit zunehmender Migration werden auch die Aufnahmestaaten zwangsläufig ethnisch heterogener, die Bevölkerung in kultureller Hinsicht vielfältiger. Auf diesen unaufhaltbaren Wandel sind viele Gesellschaften noch längst nicht vorbereitet. Viele Regierungen verhalten sich so, als ob sie eine Möglichkeit hätten, ihr Land als ethnisch und sozial homogenen Nationalstaat zu erhalten. Schon die Empirie bezüglich der gegenwärtigen Bevölkerungsstruktur, erst recht aber die demographischen Prognosen zeigen ein anderes Bild.

Ganz offensichtlich birgt die zunehmende Vielfalt und Heterogenität Chancen und Risiken. Chancen bestehen vor allem darin, dass eine größere Vielfalt auch eine größere soziale Dynamik, kulturelle Innovation und wirtschaftlichen Erfolg bedeuten kann. Dies zeigt sich deutlich in den „global cities“ und in vielen südostasiatischen Staaten. Gleichwohl können mit dieser Vielfalt auch Risiken verbunden sein, vor allem in Bezug auf die soziale Kohäsion der betreffenden Gesellschaft. Es kann zu Konflikten um Werte und Normen kommen um die Frage, was diese Gesellschaft eigentlich noch zusammenhält. Debatten über Leitkulturen sind ein Ausdruck für diese Spannungen.

In vielen Staaten gibt es zudem erhebliche Probleme mit der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Integration der Zuwanderer. Oft sind diese Probleme auf nicht intendierte Nebenwirkungen der Zuwanderungspolitik vergangener Epochen zurückzuführen; so haben etwa einige europäische Staaten über mehrere Jahrzehnte eine gezielte Anwerbung unqualifizierter Arbeitskräfte vollzogen, und nun – nach dem Wegfall dieser Arbeitsplätze im Zuge der wirtschaftlichen Umstrukturierung – stellen sie fest, dass diese Zuwanderer nicht den Bildungsstand mitbringen, den der Arbeitsmarkt eines hochtechnisierten Landes verlangt.

Ungelöste Integrationsprobleme bergen gesellschaftlichen Sprengstoff. Das zeigen immer wieder fremdenfeindliche Ausschreitungen, aber auch Unruhen in den Einwanderervierteln der Großstädte, in Europa zuletzt in Frankreich. Auch wenn gerade diese Unruhen nichts mit islamistischem Fundamentalismus zu tun hatten, ist in vielen Aufnahmestaaten die Befürchtung gewachsen, Integrationsprobleme könnten einem gewalttätigen Fundamentalismus Vorschub leisten.

Aus all diesen Gründen müssen die Regierungen Integrationsprobleme ernst nehmen. Es muss eine Integrationspolitik konzipiert und umgesetzt werden, die soziale Vielfalt achtet, sozialen Zusammenhalt fördert und die Marginalisierung von Einwanderergruppen verhindert. Viele Staaten haben Erfahrungen, wie eine erfolgreiche Integrationspolitik gestaltet werden kann. Diese Erfahrungen müssen international ausgetauscht werden, die gegenseitige Information über „best practices“ muss systematisiert und intensiviert werden. Eine zentrale Rolle spielt die Vermittlung von Sprachkenntnissen. Ohne hinreichende Sprachkenntnisse verfestigt sich die Randständigkeit oft von Generation zu Generation. Hier müssen staatliche Angebote und Verpflichtungen greifen. Sprachkenntnisse allein reichen aber nicht aus; die entsprechenden Programme müssen kombiniert werden mit nachdrücklichen Versuchen, die Arbeitslosigkeit bei Zuwanderern zu reduzieren. Für eine erfolgreiche Integrationspolitik – auch das lehren die Erfolgsgeschichten – müssen zahlreiche Akteure zusammenarbeiten, also nationale und lokale Akteure, staatliche wie nichtstaatliche Institutionen und Organisationen.

Menschenrechte

Alle Staaten bestehen auf ihrem Recht zu entscheiden, wem sie unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck die Zuwanderung gestatten. Gleichwohl haben sie akzeptiert, dass es sinnvoll ist, diese Souveränität in bestimmten Bereichen einzuschränken. Das gilt zum Beispiel für die völkerrechtlichen Vereinbarungen über den Flüchtlingsschutz und andere menschenrechtliche Abkommen, etwa zum Schutz der Familie. Sie teilen – neben humanitären Grundüberzeugungen – die Auffassung, dass es sinnvoll ist, für bestimmte Bereiche der Migration international akzeptierte Regeln zu entwickeln, weil dies das Management von Wanderungsbewegungen erleichtert.

Diese Normen aber müssen auch dann angewendet werden, wenn sie einmal kurzfristig den Interessen des betreffenden Landes entgegenstehen. Hier liegt ein wesentliches Problem. Wenn einflussreiche Staaten beispielsweise gegen die Vorgaben des internationalen Flüchtlingsschutzes verstoßen, nimmt auch in anderen Staaten schnell die Bereitschaft ab, Flüchtlinge zu schützen. Es wird eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die letztlich gegen die Interessen aller verstößt. Hieraus ergibt sich die Forderung an die Regierungen, die Rechte von Migranten zu schützen und die internationalen Schutznormen für Migranten weiterzuentwickeln und die Anwendung dieser Normen zu fördern. Dabei muss darauf geachtet werden, dass solche Normen auch auf alle Migranten angewendet werden, dass sie also nicht einzelnen Migrantengruppen vorenthalten werden, beispielsweise muslimischen Migranten.

Weiterhin müssen sich die Regierungen darum bemühen, dass die Standards der International Labour Organization (ILO) zum Schutz von Arbeitsmigranten eingehalten werden. Die Ausbeutung und der Missbrauch von Arbeitsmigranten muss verhindert werden, insbesondere müssen Migrantinnen und Minderjährige geschützt werden.

Sechs Empfehlungen

Die Vorschläge der Weltkommission für internationale Migration lassen sich in sechs Prinzipien zusammenfassen:

  • Grundsätzlich sollte Migration auf einer freien Entscheidung beruhen. Menschen sollten die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten und Potenziale in ihren Heimatländern zu nutzen und dort auch ihre Hoffnungen und Sehnsüchte zu erfüllen. Migration sollte eine freiwillige Option darstellen und nicht unter Zwang erfolgen. Diejenigen aber, die ihr Land verlassen, müssen das sicher und auf legalem Wege tun können.
  • Zweitens müssen die Beiträge, welche die Migranten zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer und zum Wohlstand und zur Wertschöpfung in den Aufnahmeländern leisten, gewürdigt werden. Herkunfts- und Aufnahmeländer sollten internationale Migration als wichtigen Aspekt ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie betrachten.
  • Drittens sollten die Staaten, wenn sie ihr legitimes Recht wahrnehmen, zu bestimmen, wer Zutritt zu ihrem Gebiet erhält und wer nicht, ihre Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte der Migranten einhalten. Das sollte auch für den Umgang mit irregulärer Migration gelten.
  • Viertens sollten sowohl die Migranten als auch die Mehrheitsbevölkerung des Aufnahmestaates sich um eine gegenseitige Anpassung bemühen. Integration sollte durch die Regierung, Arbeitgeber, Kommunen und die Zivil-gesellschaft gefördert werden und auf Nichtdiskriminierung und Gleichberechtigung beruhen.
  • Fünftens sollten die rechtlichen Bedingungen für Migranten gefestigt werden, und sie sollten in einer nichtdiskriminierenden Weise angewendet werden, um menschenrechtliche und arbeitsrechtliche Standards für alle Migranten verbindlich zu machen.
  • Schließlich muss die Fähigkeit der Staaten, Wanderungsbewegungen zu steuern und die Migrationspolitik zu gestalten, verbessert werden, vor allem durch eine intensivere internationale Beratung und Abstimmung zwischen Regierungen, internationalen Organisationen und anderen Akteuren.

Prof. Dr. RITA SÜSSMUTH, geb. 1937, war u.a. von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestags und von 1987 bis 1998 Präsidiumsmitglied der CDU. Sie ist Mitglied der UN-Weltkommission für internationale Migration.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2006, S. 15 - 21.

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