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01. Juni 2005

Zurück zum Protektionismus?

Ökonomie

Der Griff in die Mottenkiste wird Europas wirtschaftliche Probleme garantiert nicht lösen

Globalisierung und Welthandel gehen Hand in Hand. Nicht ohne Grund gilt die Zunahme des Welthandels als ein wichtiger Indikator für die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen. Wenn man jedoch in der letzten Zeit einen Blick in die Medien wirft, scheint die Freiheit des Welthandels von politischer Seite immer mehr unter Druck zu stehen.

So hat die Aufhebung der Textilquoten weltweit für hektische Aktivität gesorgt. Der Aufstieg des Kolosses China wird nicht nur in den Industrieländern mit Sorge gesehen, sondern auch den Schwellen- und Entwicklungsländern scheint der Schrecken in die Knochen gefahren zu sein. Weltweit wird diskutiert, wie die einheimischen Produzenten vor der geballten Kraft Chinas geschützt werden können. Es wäre ja nach dem Scheitern der WTO-Gespräche 1999 in Seattle und 2003 in Cancún schon zu begrüßen, dass die reichen wie auch die armen Länder sich wieder einmal in Einklang befinden und zusammen an einem Strick ziehen würden. Doch leider ziehen sie in die falsche Richtung. Die Situation im US-Kongress spitzt sich zu, und das allgemeine Unbehagen China gegenüber könnte dort zu weiteren protektionistischen Reaktionen führen. Die Schwellen- und Entwicklungsländer sehen die ganze Entwicklung mit großem Unbehagen, jedoch bleiben ihnen als Nettoexporteuren von Textilien kaum wirksame Interventionsmittel. Wie diese Situation aber ihre zukünftige Sichtweise weiterer Liberalisierungen beeinflussen wird, kann sich jeder selbst ausmalen.

Europa tritt in dieser Frage, wie so oft in letzter Zeit, uneins auf. Eine Gruppe mit Frankreich und Italien an der Spitze zeigt sich tief besorgt über die Tendenz zur Internationalisierung von Entscheidungsstrukturen. Diese Sorge passt ins allgemeine Stimmungsbild in Frankreich und der EU. Nachdem mit Beihilfe Deutschlands die Dienstleistungsrichtlinie vor der Zielgeraden abgeschossen wurde, scheinen viele Politiker in ganz Europa in der EU einen liberalisierenden, angelsächsischen Leviathan erkannt zu haben, der versucht, die gemütlichen Volksheime einzureißen, in denen die Europäer sich so bequem eingerichtet haben. Die Richtlinie über den freien Austausch von Dienstleistungen, noch unter der Ägide des liberalen Kommissars Bolkestein ausgearbeitet, war dabei nur der letzte Beleg für viele, dass dieses Europa nicht mehr das „ihre“ sei. Insbesondere die Konkurrenz der neuen Beitrittsländer und des fernen Ostens wird als unfair angesehen. Diese Länder scheinen nur darauf zu warten, die anfallende Arbeit für „Dumpingpreise“ zu erledigen.

Arbeitnehmer, die den Job für einen Bruchteil des Preises ausführen, bestimmen auch die Diskussion in Deutschland. Neben den Schlachtern und Fliesen-legern, die  Deutschland zu überschwemmen scheinen, ist in der öffentlichen Diskussion das Bild vorherrschend, dass die Unternehmen scharenweise das sinkende Schiff verlassen, ihr Geld mitnehmen und nur noch im Ausland investieren und Arbeitsplätze schaffen. Im gleichen Atemzug werden die (Finanz-)Investoren, die in Deutschland Chancen sehen, als Heuschrecken bezeichnet, die hier einfallen und ratzekahl abgegraste Felder zurücklassen. In diesem Umfeld werden Forderungen nach Mindestlohn oder Ausdehnung der Entsendungsrichtlinie laut. Der Untergang des Abendlands sei sonst nur noch eine Frage der Zeit, denn die barbarischen Heerscharen warteten schon vor den Toren, um die letzten Arbeitsplätze an sich zu reißen.

Liberalisierung erscheint als schlecht, bedrohlich und zerstörerisch. Von Schumpeter wissen wir, dass schöpferische Zerstörung existenziell zu einer Marktwirtschaft gehört und positive Effekte mit sich bringt. Sie ermöglicht die Chance zum Neuanfang. Wie gebannt blicken wir auf die neuen EU-Länder und bewundern ihre Wachstumsraten und ihre Vitalität. Dabei werden oft ihre Anstrengungen und ihre Bereitschaft übersehen, Gewohntes zu reformieren.

Der frühere Stolz Deutschlands auf seine Exportstärke scheint verschwunden, ausgerechnet jetzt, wo man wieder Weltmeister in dieser Disziplin ist. Die Stärke Deutschlands in diesem Gebiet ist aber auch eine europäische Leistung. Ohne die Mithilfe der Nachbarn wäre es sehr viel schwerer, die deutsche Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit weiter aufrecht zu erhalten. Es macht ökonomisch Sinn, sich zu spezialisieren. Smith und Ricardo sagten dies vor Jahrhunderten; sie haben Recht behalten.

Der größte Nutznießer der Liberalisierung ist aber der Konsument. Die Forderung, die Alpen niederzureißen, um freien Zugang zum Mittelmeer zu haben, hat an Dringlichkeit verloren, seit auf der Alpennordseite Pizza, Pasta, Parmesan und Parmaschinken zur Genüge und in guter Qualität zu haben sind. Das Glas Prosecco, griechischer Feta oder der französische Weichkäse gehören zum Alltag. Voller Stolz zeigt man seinen Flachbildschirm vor und erwartet auch, dass die Computer weiterhin schneller und billiger werden. Dabei vergisst mancher, welche langen Reisen diese Produkte hinter sich haben und wie viele Menschen dafür zusammenarbeiten mussten. Das billige Fleisch im Supermarkt ist auch dem polnischen Schlachter zu verdanken, und der stolze Hausbesitzer freut sich über seine neu geflieste Küche zu einem erschwing-lichen Preis. Ebenso gern weiß der polnische Vater seine Familie in seinem Auto Made in Germany gut aufgehoben, die chinesischen Großstädte versinken, dank deutschen Wissens, weniger im Verkehrschaos und die Japaner feiern das Oktoberfest mit deutschem Bier und Sauerkraut bei sich zu Hause. Auch die Umwelt profitiert vom deutschen Fachwissen im Bereich erneuerbarer Energien. Deutsche Fachkompetenz ist gefragt: So sucht Norwegen händeringend deutsche Handwerker, Großbritannien deutsche Ärzte. Auch für den Arbeitnehmer ist der offene Markt eine Chance.

Der Griff in die Mottenkiste Protektionismus würde dazu führen, dass diese bunte Welt mit ihren Angeboten, ihrer Zusammenarbeit und ihrem Austausch grauer wird, vielleicht sogar ganz verschwindet. Auch würde der Protektionismus zur verstärkten Blockbildung führen. Dass dies die Welt sicherer machen würde, erscheint mir unwahrscheinlich. Natürlich ist auch die Konkurrenz in einer globalisierten Welt stärker. Aber wie beim Fußball gewinnt eine Partie an Spannung, wenn starke Mannschaften gegeneinander spielen. Dies ist auch als Aufruf zu verstehen, dabei mitzuhelfen, unsere Mannschaft stark zu machen, zu unterstützen, zu trainieren und an uns zu arbeiten, damit wir alle zum Erfolg beitragen können. Wir sollten uns der Herausforderung stellen, uns auf die jeweiligen eigenen Stärken besinnen und diese auch geschickt ausspielen.

Deshalb gilt: Fit machen statt dicht machen!

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 76 - 77.

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