Zunehmende Krisenverflechtung
Der Nahe Osten im Gesamtzusammenhang der Weltpolitik
Der Nahe und Mittlere Osten bestimmt mit seinen Krisenherden Irak, Iran, Libanon und Afghanistan gegenwärtig die Weltnachrichten. Fundierte historische Erklärungen sind jedoch rar. Der renommierte Politologe Fred Halliday hat nun ein Standardwerk veröffentlicht.
Fred Halliday, Professor für Internationale Beziehungen an der London School of Economics und einer der renommiertesten Kenner des Nahen Ostens, hat mit „The Middle East in International Relations“ sein Opus Magnum vorgelegt. Das Werk ist in vier Teile und zehn Unterkapitel gegliedert. Im ersten Kapitel „Concepts, Regions and States“ stellt er zunächst die gängigen Politiktheorien in Bezug auf den Nahen Osten dar. Während die rein historischnarrative Analyse nach Halliday die Frage offen lässt, wessen Geschichte eigentlich geschrieben wird, lasse der realistische Ansatz die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft sowie transnationale Faktoren unberücksichtigt. Kritisch äußert sich Halliday auch über den Konstruktivismus, der das Handeln der Entscheidungsträger aus deren Werten und Perzeptionen erklärt, nationale Interessen und materielle Faktoren jedoch übersieht.
Im zweiten Kapitel erkennt Halliday in der Verschmelzung der „historical sociology“ und der „foreign policy analysis“ den wichtigsten Ansatz zur Erklärung der internationalen Beziehungen des Nahen Ostens. Er betont die Bedeutung der Autonomie des Staates „gegenüber solchen Theorien, die von der völligen Fremdbestimmung innenpolitischer Ereignisse ausgehen“. Im Kontext der Staatsgründungen in der Folge des Ersten Weltkriegs (Türkei, Iran, Saudi-Arabien, Jemen) geht er überzeugend und ausgewogen auf die – je nach Staat unterschiedlichen – Begrenzungen ein, die der Außenpolitik durch bürokratische Interessen, öffentliche Meinung, ökonomisches Potenzial, Demographie, politische Kultur und äußere Grenzen auferlegt sind.
Säkularisierung trifft auf Widerstand
Im zweiten Teil des Buches beschäftigt sich Halliday mit der Geschichte der Region seit dem 17. Jahrhundert. Wie zu erwarten, erhält der Leser keineswegs eine deskriptive Chronologie. Vielmehr kommt der oben erwähnte doppelte Ansatz zum Tragen. Halliday bietet die These an, dass „Beziehungen zwischen den Staaten der Region bzw. zu Staaten außerhalb der Region im Zeitraum von 1918 bis 1939 für die spätere historische Entwicklung weniger wichtig gewesen sein könnten als das Geschehen innerhalb der Staaten“. (Hervorhebung im Original.) Vier innenpolitische Entwicklungsstränge benennt Halliday. Erstens: die Einführung nationalstaatlicher Administrationen, die mithilfe von Armeen mit wachsendem politischen Willen die Kontrolle des Staatsgebiets in einem bis dato unbekannten Ausmaß erlaubten und Arbeitsplätze schufen. Zweitens: die Schaffung einer nationalen Identität, die historische Rechte reklamierte und sich bald gegen ehemalige aber noch faktische Kolonialherren richtete. Erziehung und Militärdienst waren geeignete Mittel, diese Haltungen zu stärken. Drittens: Die Staatsführungen strebten eine Säkularisierung nach europäischem Vorbild an. Zweck dieser Anstrengungen war aber nicht „Toleranz zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften oder eine zivile und rechtliche Sphäre, die vom Staat unabhängig ist. Säkularisierung war vor allem ein Mittel, mit dem Staaten ihre Macht ausbauten: Damit wollten diese Staaten eine konkurrierende Macht brechen, nämlich die ‚ulema‘ in der arabischen Welt oder die der Mullahs im Iran.“ (Hervorhebung im Original.) Nach dieser wichtigen Feststellung, die erkennen lässt, warum liberale Strömungen der zwanziger und dreißiger Jahre bald untergingen, nennt Halliday als Viertes: den Widerstand der Bevölkerung gegen diese Säkularisierung.
Zusammengefasst: Der gegen die Kolonialmächte gerichtete Nationalismus, die Enttäuschung über den „Betrug“ hinsichtlich eines palästinensisch-arabischen Staates, die Staatsgründungen und der Widerstand gegen die Säkularisierung „produzierten ein Umfeld, in dem zahlreiche soziale und politische Bewegungen entstanden“. Die außenpolitischen Konsequenzen des Sturzes der Monarchien in Ägypten 1952, im Irak 1958 und im Iran 1979 werden von Halliday nicht genannt, liegen aber auf der Hand. Externer Einfluss verändert die Innenpolitik, diese reagiert zunächst ambivalent, radikalisiert Teilgruppen, da kein Raum für demokratische Interessenartikulation zugelassen ist, und führt schließlich den Sturz des Herrschers mitsamt einem Außenpolitikwechsel herbei.
Kalter Krieg und Ungleichzeitigkeit
Das vierte Kapitel behandelt die Ära des Kalten Krieges, der laut Halliday „im Nahen Osten früher zu Ende ging als in allen anderen Weltregionen. Denn seit dem Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs 1980 war der OstWestKonflikt nicht mehr der dominierende Faktor der zwischenstaatlichen Beziehungen.“ Grund dafür sei die gemeinsame Unterstützung für Saddam Hussein nach 1982 gewesen. (Afghanistan widerspricht diesem Befund allerdings.)
Der bipolare Konflikt habe die Außenpolitik arabischer Staaten erstaunlich wenig bestimmt. Zwar zeigt Halliday, dass die Weigerung Russlands, sich im März 1946 aus dem iranischen Aserbaidschan zurückzuziehen, beinahe zu einem Krieg geführt hätte. Überdies gab es allein sechs Nationale Sicherheitsstrategien der USA mit Bezug auf den Nahen Osten. Den geringen Einfluss der Blockkonfrontation erkennt Halliday trotz allem erstens daran, dass sich die Landkarte des Nahen Ostens in 40 Jahren nicht verändert hat (sieht man von Israel ab). Zweitens waren während des Kalten Krieges die USA und die UdSSR nicht direkt und aktiv in militärische Konflikte in der Region verwickelt.
Drittens fanden die Satellitensysteme, die Sowjetrussland in Osteuropa installierte, in der Region kein Pendant. Viele arabische sozialistische Regime kopierten zwar die Rhetorik und die Einparteienherrschaft (man denke z.B. an die Baath-Parteien in Syrien und im Irak), aber eine etwa der DDR vergleichbare institutionalisierte Gleichschaltung mit den Interessen der UdSSR gab es – außer im Südjemen – nicht. In diesem Zusammenhang sticht vor allem die Autonomie Ägyptens ins Auge, das weder 1967 noch 1973 nach Moskauer Weisungen handelte.
Was in den bilateralen Beziehungen zu Spannungen führte, hatte wenig mit der globalen Auseinandersetzung zu tun, wie der arabisch-israelische und der iranisch-irakische Krieg zeigen. Auch die Herausbildung islamistisch motivierter Opposition orientierte sich, wie es Ayatollah Khomeiny formulierte, weder an West noch Ost. Kurz: Ob Militärcoups (z.B. in Ägypten 1952, im Irak 1958) oder der Ausbruch sozialer Bewegungen (z.B. in Palästina nach 1967, im Iran 1978/79, das Auftreten der Hisbollah 1982) – es waren diese „langfristigen Verschiebungen in der Zusammensetzung oder Werteordnung von Gesellschaften, die eine veränderte Außenpolitik entweder ermöglichten oder verhinderten“.
Die Schlüsselereignisse der Region seit den neunziger Jahren waren die KuwaitInvasion 1990, die israelisch-palästinensische Deklaration 1993, der 11. September 2001 sowie der IrakKrieg 2003 (und jetzt der Konflikt zwischen Hisbollah und Israel). Halliday spricht deshalb im fünften Kapitel von einer „Greater West Asia Crisis“. Darunter versteht er die „zunehmende Verflechtung regionaler Krisen“. Zu diesem Krisenkomplex gehören neben den Spannungen im Libanon, im Iran, im Irak und in Afghanistan auch die Nuklearwaffenversuche Indiens und Pakistans in Südasien 1998. Hinzu komme eine politisch zunehmend militantere Einstellung der Bevölkerungen, die von Antiamerikanismus geprägt sei und sich bei einer Minderheit als Dschihadismus verselbständigt habe.
Seit 1980, so Halliday, hatten sich weitgehend unabhängig vom Kalten Krieg bilaterale und innergesellschaftliche Spannungen aufgebaut (so in Afghanistan, in SaudiArabien, im Irak), die sich jetzt entluden. Es waren also verschiedene Weltzeiten, die seit 1980 in der arabisch-iranischen Welt und in Europa/USA/ UdSSR den Takt vorgaben. Diese Situation löste sich 1990 keineswegs in Frieden und Liberalisierung auf. Vielmehr befand sich die betroffene Subregion in einem Zustand, der mit der politischen, ökonomischen und kulturellen Globalisierung, die der Westen vorantrieb, schwerlich kompatibel war. Halliday spricht hier von „differential integration“.
Interne Ursachen des Terrors
Halliday legt Wert darauf zu betonen, dass der Terrorismus nicht nur in einem strategischen Kontext betrachtet werden sollte, da dieser die Sicht darauf verstelle, dass die Radikalislamisten „primär von Zuständen innerhalb ihrer Gesellschaften angetrieben werden und diese zu verändern trachten. Bei all ihrem global formulierten Hass ist es das Hauptziel terroristischer Gruppen, die Macht in ihren eigenen Ländern zu übernehmen.“ (Hervorhebung im Original.) Die Gründe für Terrorismus und Islamismus sieht Halliday vor allem in den sich stetig verschlechternden sozioökonomischen Bedingungen. Diese sind sicher nicht zu vernachlässigen; in seiner tiefsitzenden Abneigung gegen kulturelle Argumente übersieht Halliday jedoch völlig den Stagnationsfaktor der traditionalistischen, vor allem hanbalistischen Islaminterpretation, die im 10./11. Jahrhundert den „itschtihad“ (die freie, rationale Koraninterpretation) verdrängte. Die einzig anerkannte Quelle für Innovationen und Inspirationen ist somit seit langem versiegt. Dieser blinde Fleck ist der wesentliche Kritikpunkt an Hallidays Arbeit.
Das politische Korrelat der ökonomischen Schwäche besteht für Halliday im Fehlen „einer funktionierenden Wirtschaft, einer transparenten öffentlichen Finanzwirtschaft, eines Mindestmaßes an politischer und religiöser Toleranz, der Geltung welt lichen Rechts und vor allem der Garantie, dass verschiedene Interessengruppen nicht einfach übergangen werden“. Hier wird erkennbar, mit welchen innenpolitischen Langzeitproblemen die Region und der Westen zu kämpfen haben werden.
Im dritten Teil wendet sich Halliday spezifischen analytischen Fragestellungen zu. Das sechste Kapitel, „War, Revolt, Strategic Rivalry“, behandelt die sozialen, ideologischen und politischen Dimensionen der Konflikte in der Region. Der Krieg von 1967 etwa führte auf dem Khartum-Gipfel zum offiziellen Ende des arabischen Nationalismus und wurde so zur Initialzündung für den Islamismus. 1973 griff Sadat Israel an, nicht um eines militärischen Erfolgs willen, sondern „um das Prestige Ägyptens wiederherzustellen und Israel an den Verhandlungstisch zu zwingen“. Innenpolitisch sollte es ihm wenig helfen, außenpolitisch war es der erste Schritt zum Frieden mit Israel. Saddam Hussein ging es 1990 darum, seine innenpolitisch angeschlagene Position durch die Kuwait-Invasion wiederaufzubauen. Halliday fasst zusammen: „Die Kriege des Nahen Ostens entstanden nicht aus rein militärischen oder staatlichen Interessen allein, sondern aus einer Mischung aus innenpolitischem Druck (Unzufriedenheit, Nationalismus) und günstigen außenpolitischen Gelegenheiten, die staatliche Macht auszuweiten.“
Kultur und Ideologie
Im siebten Kapitel wendet sich Halliday einem Thema zu, das ihn schon in früheren Publikationen beschäftigt hat: „Modern Ideologies: Political and Religious“. Um die Wirkung von Ideologien – hierunter versteht Halliday Nationalismus, religiösen Fundamentalismus und politische Alltagskultur – zu verstehen, sei es wichtig, soziologisch auf die Verbindung von Idee und politisch-sozialem Interesse zu achten, zu analysieren – egal, welche historische Kontinuität nun gerade beansprucht wird –, auf welche Weise Werte der Gegenwart von der Vergangenheit bestimmt werden, und nicht zu vergessen, dass die gegenwärtige Ausprägung der Kulturen nur eine Möglichkeit der Interpretation ihrer Vergangenheit ist. „In den fünfziger und sechziger Jahren proklamierten die meisten arabischen Staaten die arabische Einheit, doch jeder Staat hatte seine eigene Auffassung davon. Dasselbe galt in den achtziger Jahren für die Staatsideologie ,Islam‘. Saudi-Arabien, Iran … sie alle errichteten Moscheen und Madrassas, nicht um der Einheit der Umma willen, sondern um die Gläubigen auf die je partikularen Staatsinteressen zu verpflichten.“
Staatsinteresse kann dabei realpolitisch das ideologische Moment jederzeit überwiegen (siehe Iran-Indien: Kaschmir; Iran-China: Xindschiang). Ähnlicher Pragmatismus gilt für die Islamisten, die viel von der antiwestlichen Rhetorik ihrer verhassten nationalistischen Vorgänger übernommen haben: „Sie behaupten, sie wollten zur Vergangenheit und zu der einen, ,wahren‘ Interpretation von Identität und Gemeinschaft zurückkehren. In Wirklichkeit handelt es sich um moderne Bewegungen, die Elemente der Vergangenheit auswählen und neu formulieren, um höchst aktuelle Zwecke zu erreichen.“ (Hervorhebungen im Original.) Dies gilt für Khomeiny wie für Bin Laden.
Im achten Kapitel geht Halliday ausführlicher auf die Herausforderung des Staates durch transnationale Bewegungen ein. Im neunten Kapitel vertieft er sein Argument der sozioökonomischen Gründe für die arabische Misere. Der schlechte ökonomische Zustand mit all seinen Implikationen „ist das Hauptmerkmal der nahöstlichen Staaten, wird es auch noch lange sein und könnte eines Tages deren Überleben in Frage stellen“. Einschränkend sollte man hier sagen, dass dies nicht den Staat als solchen betrifft, denn auch die Islamisten formulieren ihre Ideen, die in wirtschaftlicher Hinsicht ebenfalls keinen Fortschritt andeuten, im Rahmen des Nationalstaats. Betroffen wären die heutigen Eliten und die Brückenköpfe des Patronagesystems.
Hallidays herausragendes Buch besticht durch seine stringente Argumentation und seine Komplexität. Überschneidungen des zweiten und dritten Teiles (Islamismus, Golf-Kriege) sind aufgrund des Aufbaus unvermeidlich, stören aber nicht. Vier kritische Anmerkungen: 1. Die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs können gewiss nicht als so regional beschränkt gesehen werden, wie Halliday es tut. Die Konstellation der europäischen Großmächte bleibt sträflich unberücksichtigt. 2. Die osmanisehe Herrschaft ist nach Albert Hourani weit stärker für den Ausbruch des arabischen Nationalismus verantwortlich, als Halliday meint. 3. In der Suez-Krise war es die Drohung mit ökonomischen Sanktionen durch die USA gegen Frankreich und England, die deren Rückzug erzwang, nicht Chruschtschows Drohungen (vgl. John Lewis Gaddis: The Cold War, 2005, S. 70). Nur diese wurden allerdings publik. 4. Das vorgeblich unabhängige Handeln der studentischen Besetzer der US-Botschaft im Iran 1979 darf sehr angezweifelt werden. Aber dies sind unvermeidliche Fehler, die ähnlich wie gelegentliche laxe Formulierungen und grammatische Eigenwilligkeiten in einem solch großen und substanziellen Werk nicht ins Gewicht fallen.
Fred Halliday: The Middle East in International Relations: Power, Politics and Ideology. Cambridge University Press, New York 2005. 374 Seiten, $ 65,00.
Dr. Maximilian Terhalle, geb. 1974, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut der DGAP und betreut das Programm Naher und Mittlerer Osten.
Internationale Politik 9, September 2006, S. 128-132